Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.02.2012, Az. B 12 SF 7/11 S

12. Senat | REWIS RS 2012, 8973

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - örtliche Zuständigkeit - Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses - Durchbrechung bei einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - willkürliches Verhalten des abgebenden Arbeitsgerichts bei der Verweisung von Streitigkeiten aus einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung nach dem SGB 2


Tenor

Das [X.] wird zum zuständigen Gericht bestimmt.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in dem zugrunde liegenden Rechtsstreit darüber, ob ein Arbeitsverhältnis der Klägerin fortbesteht. Die Klägerin war seit dem 20.5.2010 für die Beklagte aufgrund eines bis zum 19.2.2011 befristeten, schriftlichen Arbeitsvertrags als Reinigungskraft tätig. Nachdem ihr zum [X.] fristlos gekündigt worden war, hat sie, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, am [X.] vor dem Arbeitsgericht ([X.]) [X.] Klage erhoben und [X.] beantragt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis über den [X.] hinaus ungekündigt fortbestehe. Zur Begründung hat sie unter Vorlage von Kopien des Arbeitsvertrags sowie des Kündigungsschreibens [X.] ausgeführt, sie lebe "von [X.]" und sei auf den "1,00 €-Job" bei der [X.] angewiesen. Das [X.] hat die Beteiligten mit Schreiben vom [X.] darauf hingewiesen, dass die Zuständigkeit des [X.] [X.] gegeben sein könnte, weil die Klägerin nach ihrem bisherigen Vortrag bei der [X.] in einem "1,00 €-Job" stehe und eine Tätigkeit im Rahmen einer solchen Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung kein Arbeitsverhältnis begründe, und hat Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Datum des Schreibens gegeben. Mit einem am 13.10.2010 im Justizzentrum [X.] eingegangenen Schreiben vom [X.], nach Aktenvermerken [X.] vorgelegt am 14.10.2010 und zur Übersendung an die Beklagte zur Post gegeben am 15.10.2010, hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie sich die Beschäftigung bei der [X.] ohne Vermittlung durch die [X.] bzw durch das Jobcenter selbst gesucht habe, keine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung vorliege und die Zuständigkeit des [X.] gegeben sein dürfte.

2

Mit Beschluss vom 14.10.2010 hat das [X.] den "Rechtsweg zum Arbeitsgericht" für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das [X.] [X.] verwiesen. Zur Begründung hat es [X.] ausgeführt, für Streitigkeiten, die - wie hier - nicht aus einem Arbeitsverhältnis, sondern aus einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung herrührten, seien nicht die [X.]e, sondern die [X.] zuständig. Gegen diesen am selben [X.] gegebenen Beschluss haben die Beteiligten nach dessen Zustellung trotz entsprechender Belehrung kein Rechtsmittel eingelegt.

3

Das [X.] hat nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom [X.] den Rechtsweg zu den [X.]n für unzulässig erklärt und die Streitsache dem B[X.] zur Bestimmung des Rechtswegs vorgelegt. Zur Begründung hat das [X.] ausgeführt, die Verweisung des [X.] sei nicht bindend, weil sie mangels Rechtsgrundlage willkürlich und unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten erfolgt sei.

4

II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung in entsprechender Anwendung von § 58 Abs 1 [X.] [X.]G durch das B[X.] liegen vor.

5

Das zuständige Gericht wird in entsprechender Anwendung von § 58 Abs 1 [X.] [X.]G auch bei einem negativen rechtswegübergreifenden [X.] vom B[X.] bestimmt, sofern sich - wie hier - die beiden beteiligten Gerichte jeweils rechtskräftig für unzuständig erklärt haben und das B[X.] als für einen der beteiligten [X.] zuständiger oberster Gerichtshof zuerst um die Entscheidung angegangen wird (vgl B[X.] [X.] 1500 § 58 [X.]; B[X.] Beschlüsse vom 11.10.1988 - 1 S 14/88 - [X.] 1989, 189 und vom [X.] - [X.] SF 7/09 S - juris).

6

Zum zuständigen Gericht ist das [X.] [X.] zu bestimmen, weil dieses an den rechtskräftigen Verweisungsbeschluss des [X.] vom 14.10.2010 gebunden ist.

7

Gemäß § 17a Abs 2 [X.] ist ein Verweisungsbeschluss wegen Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs für das Gericht, an das verwiesen wurde, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozess[X.]ler oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über die Anwendung von Regelungen über den Rechtsweg zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 [X.] [X.]G (vgl B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] SF 7/09 S - juris).

8

Danach ist der von den Beteiligten nicht angefochtene Verweisungsbeschluss des [X.] vom 14.10.2010 nach Ablauf der Rechtsmittelfrist für das [X.] bindend. Die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht kommt, liegen hier entgegen der Auffassung des [X.] nicht vor.

9

Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kommt eine Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung wegen der von § 17a [X.] selbst eröffneten Überprüfungsmöglichkeiten (vgl BVerwG Beschluss vom [X.] - 7 AV 1/10 - [X.] 300 § 17a [X.] [X.] 29) allenfalls bei krassen Rechtsverletzungen in Betracht, etwa wenn der Beschluss dazu führt, dass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren, willkürlichen Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 S 2 GG) entfernt, so dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist, nämlich wenn sie unverständlich und offensichtlich unhaltbar ist (vgl zB [X.] Beschluss vom 18.5.2011 - [X.] 95/11 - WM 2011, 1281; [X.] Beschluss vom 14.10.2005 - [X.]/05 - [X.]/NV 2006, 329 mwN; BVerwG Beschluss vom [X.] - 7 AV 1/10 - aaO). Ein zur Durchbrechung der Bindungswirkung führender Rechtsverstoß wird verneint, wenn allein der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde und dieser Verstoß mit einem Rechtsmittel gegen den Verweisungsbeschluss hätte gerügt werden können, hiervon jedoch abgesehen wurde (vgl [X.] Beschluss vom 8.7.2003 - [X.] 138/03 - NJW 2003, 2990; vgl aber auch [X.] Beschluss vom [X.] - 5 AS 1/06 - NJW 2006, 1371 mwN). Für die Durchbrechung der Bindungswirkung eines [X.] wegen örtlicher Unzuständigkeit bei einer möglichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör hat der [X.] entschieden, dass nach Einführung der Anhörungsrüge (§ 178a [X.]G) eine fehlende Bindung allenfalls dann noch angenommen werden kann, wenn die Verletzung des rechtlichen Gehörs von einem der Beteiligten innerhalb angemessener Frist nach Zustellung des Beschlusses geltend gemacht wird. Eine mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das verweisende Gericht ist deshalb nicht ohne Rüge von dem Gericht, an das verwiesen worden ist, zu prüfen und kann ohne vorhergehende Rüge im Rahmen einer Vorlage zur Entscheidung nach § 58 [X.]G keine vom Verweisungsbeschluss abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts rechtfertigen (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 98 [X.] 2 Rd[X.] 7). Dies gilt auch bei einer Verweisung wegen der Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs. Im Hinblick auf die Anfechtbarkeit des [X.] gemäß § 17a Abs 4 S 4 [X.] kann auch hier eine Durchbrechung der gesetzlich angeordneten Bindungswirkung wegen einer möglichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör allenfalls dann in Betracht kommen, wenn einer der Beteiligten sich auf diesen [X.] beruft. In seiner Entscheidung vom [X.] ([X.] SF 7/09 S - juris) hat der [X.] im Übrigen offengelassen, ob in Verfahren zur Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts, in denen ein nach Maßgabe von § 17a Abs 4 S 4 [X.] mit Rechtsmitteln angreifbarer Verweisungsbeschluss - wie hier - vorliegt, dieser überhaupt nach den Maßstäben überprüfbar ist, die von der Rechtsprechung für [X.] wegen örtlicher Unzuständigkeit angewandt werden (vgl hierzu B[X.] [X.] 3-1720 § 17a [X.] 11 S 19 ff, [X.] 4-1500 § 57a [X.] 2 Rd[X.] 11, [X.] 4-1500 § 58 [X.] 6 Rd[X.] 15 und [X.] 4-1500 § 57 [X.] 2 Rd[X.]; zuletzt Beschlüsse des B[X.] vom [X.] - [X.] SF 7/09 S, vom [X.] - [X.] SF 2/10 S - und vom 3.12.2010 - [X.] SF 7/10 S). Dies kann auch hier offenbleiben, weil die Entscheidung des [X.] nicht willkürlich ist. Auch steht der Bindungswirkung eine mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht entgegen.

Weder der Begründung des [X.] noch den sonstigen Umständen ist zu entnehmen, dass die Verweisung auf einem willkürlichen Verhalten des abgebenden Gerichts beruhte. Allein eine möglicherweise rechtsfehlerhafte Anwendung von § 48 Arbeitsgerichtsgesetz ([X.]G), § 17a Abs 2 [X.], § 2 Abs 1 [X.] 3 [X.]G sowie § 16 Abs 3 [X.]B II bzw § 16d [X.]B II aufgrund unzutreffender Tatsachengrundlagen führt hier nicht zur Durchbrechung der Bindungswirkung. Die Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen durch das [X.] stellt sich nicht als willkürlich, dh unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar, unverständlich und offensichtlich unhaltbar dar. Das [X.] ist aufgrund der Auslegung des § 2 Abs 1 [X.] 3 Buchst a [X.]G zu dem Ergebnis gelangt, dass im vorliegenden Rechtsstreit nicht die Zuständigkeit eines [X.], sondern der Rechtsweg zu den [X.]n gegeben sei. Dabei hat es darauf abgestellt, dass die Zuständigkeit des [X.] für Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus einem Arbeitsverhältnis begründet sei und dass nach § 16 Abs 3 [X.]B II in der vom 1.1.2005 bis zum 31.7.2006 geltenden Fassung bzw § 16d [X.]B II in der ab 1.1.2009 geltenden Fassung eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung im Sinne dieser Vorschriften kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts begründe. Ergänzend hat es sich dazu auf die Rechtsprechung des [X.] (Beschluss vom 8.11.2006 - 5 [X.] 36/06 - [X.]E 120, 92 = [X.], 53 und Urteil vom [X.], 1159) gestützt. Aus den Angaben im letzten Absatz der Klageschrift vom [X.] hat es geschlossen, dass die Klägerin nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses, sondern eines sog 1-Euro-Jobs tätig geworden sein könnte. Auch wenn zusätzlich ein Arbeitsvertrag in Kopie vorgelegt worden ist, war es nicht völlig unvertretbar, aufgrund des Vorbringens der durch eine Rechtsanwältin vertretenen Klägerin das Vorliegen eines sog 1-Euro-Jobs in Betracht zu ziehen. Nachdem die Beteiligten hierauf hingewiesen worden waren und innerhalb der gesetzten Frist keine Stellungnahme erfolgte, war der Schluss nicht unvertretbar, es habe tatsächlich eine Arbeitsgelegenheit nach § 16d [X.]B II bestanden. Es kann deshalb nicht als willkürliches Verhalten gewertet werden, dass die Kammer des [X.] unter Beteiligung [X.] am 14.10.2010 den Rechtsweg nicht zu den [X.]en, sondern zu den [X.]n als gegeben angesehen und den Rechtsstreit durch Beschluss verwiesen hat. Zwar hat die Klägerin nach Ablauf der gesetzten Frist mit Schreiben vom [X.], eingegangen beim Justizzentrum [X.] am 13.10.2010, darauf hingewiesen, dass ein Arbeitsverhältnis vorliege, weil sie sich die Tätigkeit ohne Vermittlung selbst gesucht habe; dieses Schreiben wurde [X.] jedoch nach einem Aktenvermerk erst am 14.10.2010 und - wie die Abfolge der abgehefteten Schriftstücke in der Gerichtsakte nahelegt und wovon auch das [X.] ausgeht - erst nach Beschlussfassung und möglicherweise auch erst nach Aufgabe des Beschlusses zur Post vorgelegt. Es ist deshalb nicht ersichtlich, dass die Kammer des [X.] den Inhalt dieses Schriftsatzes bei ihrer Beschlussfassung kannte.

Entgegen der Auffassung des [X.] entfällt die Bindungswirkung auch nicht deshalb, weil das [X.] bei der Beschlussfassung elementare Verfahrensgrundsätze missachtet haben könnte. Es kann dahinstehen, ob der Beschluss, wie das [X.] meint, unter Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör ergangen ist, weil das [X.] den Inhalt des Schriftsatzes der Klägerin vom [X.] nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner [X.] nicht berücksichtigt hat. Denn eine Durchbrechung der Bindungswirkung durch diesen [X.] käme - wie oben ausgeführt - allenfalls in Betracht, wenn sich ein Beteiligter hierauf berufen hätte. Dies ist hier nicht erfolgt.

Meta

B 12 SF 7/11 S

21.02.2012

Bundessozialgericht 12. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SF

vorgehend SG Magdeburg, 27. Juni 2011, Az: S 16 SV 44/10, Beschluss

§ 58 Abs 1 Nr 4 SGG, § 17a Abs 2 GVG, § 17a Abs 4 S 4 GVG, Art 19 Abs 4 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 2 Abs 1 Nr 3 Buchst a ArbGG, § 48 ArbGG, § 16 Abs 3 SGB 2 vom 30.07.2004, § 16d Abs 3 SGB 2 vom 21.12.2008

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.02.2012, Az. B 12 SF 7/11 S (REWIS RS 2012, 8973)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8973

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