Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.05.2012, Az. 2 B 3/12

2. Senat | REWIS RS 2012, 6316

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Gegenstand

Entfernung aus dem Beamtenverhältnis auch bei langer Verfahrensdauer


Leitsatz

Von der disziplinarrechtlich gebotenen Entfernung aus dem Beamtenverhältnis kann nicht deshalb abgesehen werden, weil das Disziplinarverfahren unangemessen lange gedauert hat.

Gründe

1

[X.]ie Beschwerde kann keinen Erfolg haben. [X.]er Beklagte hat nicht dargelegt, dass der geltend gemachte [X.] der grundsätzlichen Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 73 [X.] vorliegt.

2

In dem Berufungsurteil hat der [X.]hof das erstinstanzliche Urteil des [X.] bestätigt, das den Beklagten, einen Kriminalbeamten im [X.]ienst des [X.], wegen unerlaubten Fernbleibens vom [X.]ienst für einen Zeitraum von fast neun Jahren zwischen 1989 bis 1998 aus dem Beamtenverhältnis entfernt hat. [X.]er [X.]hof hat den Umstand, dass das behördliche [X.]isziplinarverfahren viele Jahre gedauert hat, bei der Maßnahmebemessung nicht mildernd berücksichtigt. [X.]ie disziplinarrechtlichen Vorermittlungen waren im Mai 1989 eingeleitet worden; der Schlussbericht des [X.] datiert vom 30. August 1995. Im Frühjahr 1998 wurden die disziplinarischen Untersuchungen ausgedehnt. [X.]er zusammenfassende Bericht des [X.] datiert vom 27. Juni 2005. Im Mai 2008 wurde dem Beklagten das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen mitgeteilt. Im Juli 2009 hat der Kläger [X.]isziplinarklage erhoben.

3

[X.]er Beklagte hält die Rechtsfragen für rechtsgrundsätzlich bedeutsam, ob eine unverhältnismäßig lange [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens dazu führt, dass die Befugnis zur disziplinarischen Ahndung verwirkt ist oder die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr ausgesprochen werden darf.

4

[X.]ie nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 73 [X.] erforderliche [X.]arlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine konkrete Frage des revisiblen Rechts bezeichnet und aufzeigt, dass diese Frage sowohl im konkreten Fall entscheidungserheblich als auch allgemein klärungsbedürftig ist. Klärungsbedarf besteht, wenn eine von der Beschwerde aufgeworfene Frage weder vom [X.] ausdrücklich beantwortet worden ist noch auf der Grundlage seiner Rechtsprechung eindeutig beantwortet werden kann (stRspr; vgl. Beschluss vom 24. Januar 2011 - BVerwG 2 B 2.11 - juris Rn. 4 = NVwZ-RR 2011, 329).

5

In der Rechtsprechung des [X.]s ist geklärt, dass der allgemeine Rechtsgrundsatz der Verwirkung auf die Ausübung der [X.]isziplinarbefugnis keine Anwendung findet. [X.]ie disziplinarische Verfolgung von [X.]ienstvergehen kann nicht durch Verwirkung oder durch Verzicht seitens des [X.]ienstherrn ausgeschlossen werden. [X.]ieser Rechtsprechung liegt die Erwägung zugrunde, dass der Zweck der [X.]isziplinarbefugnis nicht darin liegt, begangenes Unrecht zu vergelten. Vielmehr geht es darum, unter Beachtung des Schuldprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Integrität des Berufsbeamtentums und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen [X.]ienstes aufrechtzuerhalten. Für eine Anwendung des [X.] der Verwirkung ist neben den gesetzlichen Regelungen über [X.]isziplinarmaßnahmeverbote wegen Zeitablaufs und Verwertungsverbote (vgl. §§ 18, 19 [X.]) kein Raum (Urteil vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 [X.] 12.97 - [X.] 232 § 54 Satz 2 [X.] Nr. 16 S. 48 m.w.N.; Beschlüsse vom 6. Juli 1984 - BVerwG 1 [X.]B 21.84 - BVerwGE 76, 176 <177 ff.> und vom 13. Oktober 2005 - BVerwG 2 B 19.05 - [X.] 235.1 § 15 B[X.]G Nr. 2 Rn. 5).

6

[X.]ie Ausführungen des Beklagten zur Bedeutung der unangemessen langen Verfahrensdauer für die Maßnahmebemessung genügen den [X.]arlegungsanforderungen nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 73 [X.] nicht. Hierfür reicht es nicht aus, darauf hinzuweisen, dass zwischen der Einleitung disziplinarischer Vorermittlungen und der Erhebung der [X.]isziplinarklage oder zwischen einzelnen Verfahrenshandlungen der [X.]isziplinarbehörde ein langer, nicht nachvollziehbarer Zeitraum liegt. Vielmehr muss der Beschwerdeführer auch darauf eingehen, dass die Verfahrensdauer bei einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles, des Verhaltens des Beamten, der Vorgehensweise der Behörden oder der Gerichte sowie der Bedeutung des Verfahrens für den Beamten nicht mehr vertretbar ist (vgl. [X.], Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04 - NVwZ 2010, 1015 <1017>). [X.]avon abgesehen ist in der Rechtsprechung des [X.]s auch geklärt, dass es die unangemessene [X.]auer des [X.]isziplinarverfahrens nicht rechtfertigt, von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis abzusehen, wenn diese Maßnahme disziplinarrechtlich geboten ist:

7

[X.]ie Grundsätze für die Bestimmung der erforderlichen [X.]isziplinarmaßnahme für ein [X.]ienstvergehen ergeben sich hier aus § 16 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 [X.]. Für ihre Auslegung kann auf die Rechtsprechung des Senats zu den Bemessungsregelungen des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 B[X.]G zurückgegriffen werden, weil landes- und bundesgesetzliche Regelungen wörtlich übereinstimmen.

8

[X.]anach hat sich die Maßnahmebemessung an dem Zweck der [X.]isziplinarbefugnis zu orientieren, der darin liegt, die Integrität des Berufsbeamtentums und damit die Funktionsfähigkeit des öffentlichen [X.]ienstes zu gewährleisten. [X.]aher ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, ob ein Beamter nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist und falls dies zu bejahen ist, ob durch eine [X.]isziplinarmaßnahme auf ihn eingewirkt werden muss, um zu verhindern, dass der Beamte das für die [X.]ienstausübung unabdingbare Vertrauen dauerhaft verliert. Allerdings sind bei der Ausübung der [X.]isziplinarbefugnis das Schuldprinzip und das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten. [X.]araus folgt, dass die [X.]isziplinarmaßnahme nach einer Gesamtwürdigung aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Umstände unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten zu bestimmen ist, wobei der Schwere des [X.]ienstvergehens richtungweisende Bedeutung zukommt. [X.]ie Entfernung des Beamten aus dem Beamtenverhältnis ist geboten, wenn der Beamte das Vertrauen des [X.]ienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. [X.]ies ist der Fall, wenn die Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergibt, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen [X.]ienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei Fortführung des Beamtenverhältnisses irreparabel (stRspr; vgl. nur Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 [X.] 9.06 - [X.] 235.1 § 13 B[X.]G Nr. 3 Rn. 16 ff.).

9

Ist der Beamte nach diesen Bewertungsmaßstäben wegen eines schwerwiegenden [X.]ienstvergehens im öffentlichen [X.]ienst untragbar geworden, so kann er nicht deshalb Beamter bleiben, weil das [X.]isziplinarverfahren unangemessen lange gedauert hat. In diesem Fall lässt sich die Anerkennung eines Milderungsgrundes der überlangen Verfahrensdauer nicht mit dem Zweck der [X.]isziplinarbefugnis vereinbaren. [X.]ie Funktionsfähigkeit des öffentlichen [X.]ienstes wäre nicht mehr gewährleistet, wenn Beamte, deren berufliche Integrität dauerhaft beschädigt ist, weiterhin [X.]ienst leisten würden. Ergibt die Gesamtwürdigung dagegen, dass eine pflichtenmahnende [X.]isziplinarmaßnahme notwendig, aber auch ausreichend ist, steht fest, dass der Beamte im öffentlichen [X.]ienst noch tragbar ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer bei der Bestimmung der [X.]isziplinarmaßnahme unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit mildernd berücksichtigt werden (zum Ganzen: [X.], Beschluss vom 4. Oktober 1977 - 2 BvR 80/77 - [X.]E 46, 17 <28 f.> und Kammerbeschluss vom 9. August 2006 - 2 BvR 1003/05 - [X.]VBl 2006, 1372 <1373>; BVerwG, Urteile vom 22. Februar 2005 - BVerwG 1 [X.] 30.03 - juris Rn. 80, vom 8. Juni 2005 - BVerwG 1 [X.] 3.04 - juris Rn. 27 und vom 7. Februar 2008 - BVerwG 1 [X.] 4.07 - ; Beschlüsse vom 13. Oktober 2005 a.a.[X.] Rn. 8, vom 28. Oktober 2008 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 6 und vom 26. August 2009 - BVerwG 2 [X.] - juris Rn. 11).

[X.]aran ist auch unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] festzuhalten. [X.]iese Vorschrift gewährleistet und konkretisiert das Recht jeder Person auf ein faires Verfahren über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage. Sie benennt als Bestandteil des Fairnessgebots ausdrücklich das Recht, dass über eine derartige Streitigkeit innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. [X.]araus folgt ein Anspruch auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Zeit.

[X.]er [X.] ([X.]) hat den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] nunmehr auch auf [X.]isziplinarverfahren erstreckt. [X.]anach liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] vor, wenn das [X.]isziplinarverfahren von seiner Einleitung durch den [X.]ienstherrn bis zum rechtskräftigen Abschluss unangemessen lang gedauert hat. [X.]ie Angemessenheit ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles, des Verhaltens des Beamten, der Vorgehensweise der Behörden und Gerichte sowie der Bedeutung des Verfahrens für den Beamten zu beantworten ([X.], Urteil vom 16. Juli 2009 a.a.[X.]).

Eine unangemessen lange Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] hat jedoch nicht zur Folge, dass dem Betroffenen aus diesem Grund eine Rechtsstellung eingeräumt werden muss, die im Widerspruch zu dem entscheidungserheblichen innerstaatlichen materiellen Recht steht. Vielmehr kann die unangemessene Verfahrensdauer für den Ausgang des zu lange dauernden Rechtsstreits nur dann zugunsten des Betroffenen berücksichtigt werden, wenn das innerstaatliche Recht dies vorsieht oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der einschlägigen materiellrechtlichen Bestimmungen zu ermitteln.

[X.]ies wird durch die [X.] und die dazu ergangene Rechtsprechung des [X.] bestätigt. Stellt der [X.] eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] fest, billigt er dem Betroffenen eine billige Entschädigung zu, wenn vollständige Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht nicht möglich ist (Art. 41 [X.]).

Im Übrigen hat der Bundesgesetzgeber die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] wegen unangemessen langer Verfahrensdauer inzwischen in §§ 198 ff. [X.] eigenständig geregelt. [X.]iese Bestimmungen gelten nach § 173 Satz 2 VwGO auch für verwaltungsgerichtliche Verfahren (Art. 1 und Art. 8 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 ). In Fällen der gerügten unangemessen langen Verfahrensdauer besteht ein Anspruch auf angemessene Entschädigung, um die verzögerungsbedingten Vermögensnachteile und immateriellen Folgen auszugleichen (§ 198 Abs. 1 und 2 [X.]). [X.]er Bundesgesetzgeber hat aber davon abgesehen, einen inhaltlichen Bezug zwischen der unangemessenen [X.]auer des Verfahrens und den geltend gemachten materiellrechtlichen Positionen herzustellen. [X.]ies belegt, dass der unangemessen langen [X.]auer des Verfahrens Bedeutung für dessen Ausgang nur zukommen kann, wenn die die Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts dem einschlägigen materiellen Recht nicht widerspricht.

Meta

2 B 3/12

16.05.2012

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 11. Oktober 2011, Az: 28 A 1975/10, Urteil

§ 16 Abs 1 S 2 DG HE, § 16 Abs 1 S 3 DG HE, § 16 Abs 1 S 4 DG HE, § 16 Abs 2 DG HE, Art 6 Abs 1 S 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.05.2012, Az. 2 B 3/12 (REWIS RS 2012, 6316)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6316

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