Bundesfinanzhof, Urteil vom 20.06.2023, Az. VII K 1/22

7. Senat | REWIS RS 2023, 6932

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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

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Gegenstand

Zum Prüfungsmaßstab bei gerügtem Verstoß gegen den gesetzlichen Richter durch Nichtvorlage an den EuGH


Leitsatz

1. NV: Die Auslegung und Anwendung des Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union durch ein letztinstanzliches Gericht verletzen nur dann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind.

2. NV: Die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, sodass davon abgesehen werden kann, dem Gerichtshof der Europäischen Union eine vor dem nationalen Gericht aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, obliegt allein dem nationalen Gericht.

Tenor

Die Nichtigkeitsklage gegen das Urteil des [X.] vom 24.08.2021 - [X.] wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die [X.]lägerin, die [X.] betreibt, setzt Erdgas zur Herstellung von gefälltem Calciumcarbonat (precipitated calcium carbonate --[X.]--) ein.

2

Sie meldete beim Beklagten (Hauptzollamt --[X.]--) für August 2016 eine Steuerentlastung nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Energiesteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des [X.] und des Stromsteuergesetzes vom 01.03.2011 ([X.], 282) --EnergieStG-- für die Verwendung von insgesamt … MWh Erdgas für die gesamte Produktion von [X.] an. Die Anmeldung wurde vom [X.] nicht beanstandet.

3

Nach Durchführung einer Außenprüfung forderte das [X.] mit Bescheid vom 01.08.2017 einen Teil des gewährten Entlastungsbetrags zurück.

4

Einspruch und [X.]lage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Ablehnung der Steuerentlastung für das im Monat August 2016 für die Herstellung des [X.] eingesetzte Erdgas sei rechtmäßig, weil die Herstellung von [X.] nicht unter die "Herstellung von [X.]alk" gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EnergieStG zu subsumieren sei.

5

Die Revision der [X.]lägerin wies der erkennende [X.] mit Urteil vom 24.08.2021 - VII R 4/20, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, als unbegründet zurück (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das am 28.12.2021 abgesandte Urteil wurde der [X.]lägerin vor dem 04.01.2022 zugestellt (das am 04.01.2022 wieder beim [X.] --BFH-- eingegangene Empfangsbekenntnis enthält kein Datum).

6

Hiergegen richtet sich die Nichtigkeitsklage der [X.]lägerin vom 27.01.2022. Sie macht den Wiederaufnahmegrund der vorschriftswidrigen Besetzung des [X.]s im Sinne des § 134 FGO, § 579 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) geltend. Der [X.] habe seine Verpflichtung verletzt, Rechtsfragen dem [X.] ([X.]) vorzulegen, und ihr dadurch den gesetzlichen Richter vorenthalten.

7

Der [X.] sei verpflichtet gewesen, hinsichtlich der entscheidungserheblichen Auslegung der Richtlinie 2003/96/[X.] vom 27.10.2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen [X.] zur Besteuerung von [X.] und elektrischem Strom ([X.] 2003, Nr. L 283, 51), der Verordnung ([X.]) Nr. 3037/90 des [X.] betreffend die statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der [X.] (Amtsblatt der [X.]en --ABl[X.]-- 1990, Nr. L 293, 1) in der am 01.01.2003 geltenden Fassung nach der Verordnung ([X.]) Nr. 29/2002 der [X.] zur Änderung der Verordnung ([X.]) Nr. 3037/90 des Rates betreffend die statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der [X.] --[X.]. 1.1-- (ABl[X.] 2002, Nr. L 6, 3) und der Entscheidung der [X.] vom 07.02.2007 ([X.] (2007) 298 endg.) den [X.] anzurufen.

8

Der [X.] habe seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer und daher willkürlicher Weise überschritten. Es habe schon deshalb kein Ausnahmefall des acte clair vorgelegen, weil die Begriffe [X.]alk und Herstellung von [X.]alk --wie der [X.] im Urteil ausführe-- weder im Energiesteuergesetz noch in der [X.]Durchführungsverordnung noch in der [X.]. 1.1 definiert seien. Zudem stehe der vermeintlichen Eindeutigkeit die langjährige abweichende Besteuerungspraxis des [X.] auf der Grundlage einer abweichenden Einschätzung des [X.] entgegen. Der Urteilsbegründung könne nicht entnommen werden, weshalb der [X.] von einem acte clair ausgehe. Bereits die fehlende Begründung entspreche nicht den verfassungsgerichtlichen Anforderungen, weil sie eine Willkürkontrolle unmöglich mache.

9

Die [X.]lägerin beantragt,
das BFH-Urteil vom 24.08.2021 - VII R 4/20 für nichtig zu erklären und das Revisionsverfahren der [X.]lägerin gegen das Urteil des [X.] vom 12.12.2019 - 6 [X.] 2301/17 Z fortzuführen.

Das [X.] beantragt,
die [X.]lage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

[X.]

Der [X.] hat erhebliche Zweifel, ob die Nichtigkeitsklage nach § 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Streitfall statthaft ist. Diese Zweifel ergeben sich aus der Funktion dieses außerordentlichen Rechtsbehelfs.

Mit der Nichtigkeitsklage gemäß § 579 ZPO hat der Gesetzgeber neben der Restitutionsklage gemäß § 580 ZPO ein Mittel geschaffen, um eine Durchbrechung der Rechtskraft in Fällen zu ermöglichen, in denen schwerste Mängel des Verfahrens oder gravierende inhaltliche Fehler gegen den Bestand des Urteils sprechen und dadurch das Vertrauen der Parteien in die [X.] in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise erschüttert ist (vgl. Beschluss des [X.] vom 13.10.2015 - 3 [X.] 915/15 (F), Rz 16; [X.] vom 28.07.2022 - 6 [X.] 24/22, Rz 20, m.w.N.; [X.]-Urteil vom 02.12.1998 - X R 15-16/97, [X.], 1, [X.] 1999, 412, unter [X.]; Urteil des [X.] vom 23.03.1965 - 11 RA 304/64, [X.], 30, unter [X.]; Urteil des [X.] vom 26.01.1994 - 6 [X.] 2/92, [X.], 64; MüKoZPO/[X.]/Heiß, § 579 Rz 1; Musielak/[X.], ZPO, 20. Aufl., § 579 Rz 2; Anders/[X.], Zivilprozessordnung, 81. Aufl., § 579 Rz 1; [X.] in: [X.]/[X.], ZPO, 2. Aufl., § 579 ZPO Rz 5; [X.] in [X.], Zivilprozessordnung, 9. Aufl., § 579 Rz 2; [X.] ZPO/Fleck, 48. [X.]. [01.03.2023], ZPO § 579 Rz 3; [X.]/[X.], ZPO, 34. Aufl., § 579 Rz 2). Daraus folgt, dass die Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 ZPO auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt ist. Sie dient nicht dazu, eine vom Gericht des Ausgangsverfahrens in Kenntnis der Problematik bereits beantwortete Rechtsfrage erneut zur Überprüfung zu stellen.

Deshalb ist die Nichtigkeitsklage nach allgemeiner Ansicht nur dann statthaft, wenn sie auf einen Wiederaufnahmegrund gestützt wird, der im Ausgangsverfahren übersehen beziehungsweise unerkannt geblieben ist ([X.] vom 28.07.2022 - 6 [X.] 24/22, Rz 22, m.w.N.). Nach dieser Ansicht sollen die Bestimmungen in § 579 Abs. 1 Nr. 2 und § 579 Abs. 2 ZPO den Willen des Gesetzgebers erkennen lassen, dass eine Wiederaufnahme im Wege einer Nichtigkeitsklage nur in den Fällen zuzulassen ist, in denen die Berücksichtigung des geltend gemachten Rechtsfehlers nicht schon vor der Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung möglich war. Damit soll eine doppelte Prüfung der bereits entschiedenen Rechtsfrage verhindert werden (vgl. [X.] vom 28.07.2022 - 6 [X.] 24/22, Rz 22, m.w.N.).

Die Zweifel an der [X.] werden vom [X.]. [X.] des [X.] geteilt, der eine entsprechende Divergenzanfrage an den [X.], VI[X.] und [X.]. [X.] des [X.] gerichtet hat (vgl. [X.]-Beschluss vom 16.05.2023 - [X.] K 1/21).

I[X.]

Die [X.] kann vorliegend jedoch dahinstehen, denn die Klage ist jedenfalls unbegründet. Das Verfahren mit dem Aktenzeichen VII R 4/20 ist daher im Ergebnis nicht gemäß § 134 [X.]O i.V.m. § 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO wiederaufzunehmen.

Der [X.] hat seine Vorlagepflicht an den [X.] nicht verletzt.

1. Ein Gericht ist nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des [X.] nicht vorschriftsmäßig besetzt im Sinne des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, wenn es willkürlich seine Vorlagepflicht an den [X.] verletzt hat (vgl. [X.]-Beschluss vom [X.] - IV K 1/09, [X.]/NV 2010, 218, unter Buchst. a; [X.]-Urteile vom 13.07.2016 - VIII K 1/16, [X.]E 254, 481, [X.] 2017, 198, Rz 16 und vom 07.02.2018 - [X.] K 1/17, [X.]E 206, 410, Rz 16). Der [X.] ist für die Auslegung des [X.]srechts [X.] im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes --GG-- (vgl. Beschlüsse des [X.] vom 08.04.1987 - 2 BvR 687/85, [X.] 75, 223, unter B.1. und vom 27.04.2021 - 1 BvR 2731/19, Rz 5).

2. In ständiger Rechtsprechung beanstandet das [X.] die Auslegung und Anwendung von Normen, die --wie Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] ([X.] die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, nur dann, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. [X.]-Beschluss vom 19.12.2017 - 2 BvR 424/17, [X.] 147, 364, Rz 39, m.w.N.). Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von [X.]srecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der [X.] Rechtsordnung entspricht (vgl. [X.]-Beschluss vom 19.12.2017 - 2 BvR 424/17, [X.] 147, 364, Rz 40, m.w.N.).

a) Dabei kommt es für die Prüfung einer Verletzung des gesetzlichen Richters nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen [X.]srechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 A[X.]V (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 25.01.2011 - 1 BvR 1741/09, [X.] 128, 157, Rz 104 und vom 03.03.2014 - 1 BvR 2083/11, Rz 29). Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.

b) Nach der Rechtsprechung des [X.] (Urteile [X.]ILFIT vom 06.10.1982 - [X.]-283/81, [X.]:[X.]:1982:335, Rz 21; [X.] vom 15.09.2005 - [X.]-495/03, [X.]:[X.]:2005:552; [X.] vom 06.12.2005 - [X.]-461/03, [X.]:[X.]:2005:742; [X.]onsorzio Italian Management e [X.]atania Multiservizi vom 06.10.2021 - [X.]-561/19, [X.]:[X.]:2021:799) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des [X.]srechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des [X.]srechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des [X.]srechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der [X.] zu beurteilen.

Die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des [X.]srechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, bleibt allein dem nationalen Gericht überlassen (vgl. [X.] u.a. vom 09.09.2015 - [X.]-160/14, [X.]:[X.]:2015:565, Rz 40, m.w.N. und [X.]onsorzio Italian Management e [X.]atania Multiservizi vom 06.10.2021 - [X.]-561/19, [X.]:[X.]:2021:799, Rz 34). Insbesondere darf das nationale Gericht trotz einer abweichenden Entscheidung der Vorinstanz davon absehen, dem [X.] eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des [X.]srechts vorzulegen (vgl. [X.]-Urteil [X.] u.a. vom 09.09.2015 - [X.]-160/14, [X.]:[X.]:2015:565, Rz 40 bis 42, m.w.N.). Wenn allerdings auf [X.]sebene die Gefahr von Divergenzen besteht, bedarf es einer Vorlage durch das nationale Gericht (vgl. [X.]-Urteil [X.] u.a. vom 09.09.2015 - [X.]-160/14, [X.]:[X.]:2015:565, Rz 43 ff.). Jedoch kann die bloße Möglichkeit, von einer Vorschrift des [X.]srechts eine oder mehrere weitere Auslegungen vornehmen zu können, nicht ohne Weiteres die Annahme begründen, dass an der richtigen Auslegung dieser Vorschrift ein vernünftiger Zweifel besteht ([X.]-Urteil [X.]onsorzio Italian Management e [X.]atania Multiservizi vom 06.10.2021 - [X.]-561/19, [X.]:[X.]:2021:799, Rz 48).

c) Die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 A[X.]V wird nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] (vgl. zum Nachfolgenden [X.]-Beschlüsse vom 31.05.1990 - 2 BvR 1436/87 u.a., [X.] 82, 159, Rz 144; vom 06.07.2010 - 2 BvR 2661/06, [X.] 126, 286, Rz 90; vom 25.01.2011 - 1 BvR 1741/09, [X.] 128, 157, Rz 103 ff.; vom 19.07.2011 - 1 BvR 1916/09, [X.] 129, 78, Rz 98 und vom 19.12.2017 - 2 BvR 424/17, [X.] 147, 364, Rz 41 ff.; [X.]-Urteil vom 28.01.2014 - 2 BvR 1564/12 u.a., [X.] 135, 155, Rz 176 ff.) insbesondere in solchen Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der --seiner Auffassung nach bestehenden-- Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Eine Verletzung der Vorlagepflicht liegt auch vor, wenn das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des [X.] zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des [X.]srechts einschlägige Rechtsprechung des [X.] noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des [X.] nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (nur) dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Fachgericht das Vorliegen eines "acte clair" oder eines "acte [X.]" willkürlich bejaht. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen [X.]srechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des [X.] muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen [X.]srechts die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt ("acte [X.]").

[X.] gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 A[X.]V im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachliche Begründung (vgl. z.B. [X.]-Beschluss vom 06.10.2017 - 2 BvR 987/16, Rz 9) beziehungsweise willkürlich (vgl. [X.]-Beschluss vom 20.02.2017 - 2 BvR 63/15, Rz 8) bejaht.

d) Im Übrigen hat der [X.] betont, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung gebietet, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des [X.]srechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Ziel steht (vgl. [X.]-Urteile Impact vom 15.04.2008 - [X.]-268/06, [X.]:[X.]:2008:223, Rz 101; [X.] Da [X.] vom 05.09.2012 - [X.]-42/11, [X.]:[X.]:2012:517, Rz 56; [X.] u.a. vom 19.06.2014 - [X.]-501/12 bis [X.]-506/12, [X.]:[X.]:2014:2005, Rz 88 und [X.] - [X.] vom 28.07.2016 - [X.]-294/16, [X.]:[X.]:2016:610, Rz 33).

3. Gemessen daran hat der [X.] seine Vorlagepflicht nicht offensichtlich unhaltbar verneint, sodass kein Fall des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorliegt.

a) Der [X.] hat die Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt. Das ergibt sich bereits aus seinen Ausführungen in [X.] 41 des Urteils, in der der [X.] unter Hinweis auf die zur Beurteilung der Vorlagepflicht maßgebliche Rechtsprechung des [X.] in seinem Urteil [X.]ILFIT vom 06.10.1982 - [X.]-283/81 ([X.]:[X.]:1982:335) eine Pflicht zur Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens beim [X.] verneint hat. In diesem Zusammenhang hat der [X.] eine etwaige Vorlagepflicht nicht ohne sachliche Gründe außer Betracht gelassen, sondern vielmehr die von ihm vorgenommene Auslegung der Klasse DI 26.52 der NA[X.]E [X.]. 1.1 für eindeutig und die Rechtslage daher als geklärt angesehen.

Für die Auslegung des nationalen Rechts (im Verfahren VII R 4/20: § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EnergieStG) ist das nationale Gericht allein zuständig (vgl. z.B. [X.]-Urteile Asklepios Kliniken vom 27.04.2017 - [X.]-680/15 und [X.]-681/15, [X.]:[X.]:2017:317, Rz 28 und [X.] vom 15.11.2017 - [X.]-507/16, [X.]:[X.]:2017:864, Rz 38). Deshalb prüft es auch in eigener Kompetenz, ob eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts möglich ist.

b) Auch ein bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des [X.] zu entscheidungserheblichen Fragen liegt nicht vor. Denn der [X.] hat die für die Beurteilung des Streitfalls maßgeblichen Rechtsgrundlagen ausführlich geprüft und sich dabei auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob einschlägige Rechtsprechung des [X.] vorliegt (vgl. [X.]-Beschluss vom 06.10.2017 - 2 BvR 987/16, Rz 9).

c) Die Voraussetzungen der dritten Fallgruppe sind ebenfalls nicht erfüllt. Der [X.] hat den ihm bei der Frage, ob ein "acte clair" vorliegt, zustehenden Beurteilungsspielraum nicht unvertretbar ausgefüllt.

Er hat in seiner Entscheidung ausführlich geprüft und begründet, warum der NA[X.]E-Unterabschnitt DI 26 in der Klasse DI 26.52 "Herstellung von Kalk" nicht die Herstellung des streitgegenständlichen P[X.][X.] umfasst und diesbezüglich keine Zweifel bestehen. Soweit die Klägerin auf eine jahrelange anderslautende Rechtsanwendungspraxis der Zoll- und [X.] verweist und deshalb die Nichtvorlage für unhaltbar hält, folgt der [X.] dem nicht.

Zwar besteht nach der Rechtsprechung des [X.] Veranlassung für die nationalen Gerichte, bei ihrer Beurteilung, ob es an einem vernünftigen Zweifel fehlt, besonders sorgfältig zu sein, wenn eine andere Handhabung durch die Zollbehörden vorliegt ([X.]-Urteil [X.] vom 15.09.2005 - [X.]-495/03, [X.]:[X.]:2005:552, Rz 34; vgl. auch [X.]-Urteil [X.]onsorzio Italian Management e [X.]atania Multiservizi vom 06.10.2021 - [X.]-561/19, [X.]:[X.]:2021:799, Rz 49 zu abweichenden Gerichtsentscheidungen). Jedoch fehlt es einerseits an einer entsprechenden Feststellung im Urteil des [X.], andererseits hat der [X.] in seiner Entscheidung unter [X.] 40 die behauptete jahrelange anderslautende Rechtsanwendungspraxis der Zollbehörden durchaus berücksichtigt.

Auch eine etwaige frühere abweichende Beurteilung einer Tätigkeit durch die [X.] begründet nicht ohne Weiteres die Pflicht des erkennenden [X.]s zur Einholung einer Vorabentscheidung des [X.], weil die Hauptzollämter in eigener Zuständigkeit über die Gewährung einer steuerlichen Begünstigung entscheiden (vgl. [X.]sbeschluss vom 26.02.2020 - VII R 25/18, Rz 34).

4. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

VII K 1/22

20.06.2023

Bundesfinanzhof 7. Senat

Urteil

vorgehend BFH, 24. August 2021, Az: VII R 4/20, Urteil

§ 134 FGO, § 579 Abs 1 Nr 1 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 267 Abs 3 AEUV

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 20.06.2023, Az. VII K 1/22 (REWIS RS 2023, 6932)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6932


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. VII R 4/20

Bundesfinanzhof, VII R 4/20, 24.08.2021.


Az. VII K 1/22

Bundesfinanzhof, VII K 1/22, 20.06.2023.


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