Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.02.2018, Az. XI K 1/17

11. Senat | REWIS RS 2018, 14341

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Gegenstand

Zum Prüfungsmaßstab bei gerügtem Verstoß gegen den gesetzlichen Richter durch Nichtvorlage an den EuGH


Leitsatz

1. Die Auslegung und Anwendung des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch ein letztinstanzliches Gericht verletzt nur dann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.

2. Die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, so dass davon abgesehen werden kann, dem EuGH eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, obliegt allein dem nationalen Gericht.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger ist Krankenpfleger und seit dem [X.] Organträger der Z-GmbH (GmbH), deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer er war.

2

Die GmbH erbrachte in den Streitjahren (2005 und 2006) Leistungen der sog. [X.] aufgrund von Versorgungsverträgen mit verschiedenen Pflegekassen, mit Verbänden von Krankenkassen, mit der [X.] sowie mit der Stadt [X.] als Sozialhilfeträger.

3

In den Jahren 2004 bis 2006 wurde unstreitig die für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der für die Streitjahre (2005 und 2006) geltenden Fassung (a.F.) erforderliche 40 %-Grenze von der GmbH nicht erreicht.

4

Der Beklagte (das Finanzamt --[X.]--) vertrat nach Durchführung einer Außenprüfung die Auffassung, dass die Umsätze der GmbH nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. steuerfrei seien, da die nach dieser Vorschrift erforderliche 40 %-Grenze für das jeweilige Vorjahr nicht erreicht worden sei.

5

Am 17. August 2007 erließ das [X.] einen Umsatzsteuer-Jahresbescheid für 2005 und am 4. Dezember 2008 einen Umsatzsteuer-Jahresbescheid für 2006. Mit Einspruchsentscheidung vom 7. Januar 2009 wies das [X.] die Einsprüche des [X.] als unbegründet zurück. Im Laufe des Klageverfahrens änderte das [X.] am 24. März 2011 den Umsatzsteuerbescheid für 2006.

6

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage überwiegend statt. Es führte u.a. aus, die Umsätze aus den [X.] seien steuerfrei. Die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. erfülle der Kläger zwar (unstreitig) nicht. Er könne sich aber für die Steuerfreiheit der Umsätze unmittelbar auf Art. 13 Teil [X.] 1 Buchst. g der [X.]/[X.] des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/[X.]) berufen.

7

Auf die Revision des [X.] hob der erkennende [X.] durch Urteil vom 28. Juni 2017 XI R 23/14 ([X.], 517, [X.] Steuerrecht --DStR-- 2017, 1987), auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, die Vorentscheidung auf und entschied in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Er wies die Klage betreffend 2005 ab und setzte die Umsatzsteuer für 2006 unter teilweiser Aufhebung der Einspruchsentscheidung des [X.] und Abweisung der Klage im Übrigen niedriger fest.

8

Zur Steuerbefreiung für die Pflegeleistungen entschied der [X.], dass die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 UStG in den Streitjahren nicht gegeben gewesen seien. Die dem Kläger zuzurechnenden Leistungen der GmbH seien auch nicht nach Art. 13 Teil [X.] 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/[X.], auf den sich der Kläger berufen hat, steuerfrei; denn § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. sei in den Streitjahren 2005 und 2006 insoweit nicht unionsrechtswidrig, als er die Steuerbefreiung von der Einhaltung der 40 %-Grenze (im selben Jahr) abhängig gemacht hat. Die Einwendungen des [X.] gegen diese Beurteilung griffen nicht durch. Nach Auffassung des [X.]s bestünden --trotz der vom Kläger formulierten, im Laufe des Verfahrens ergänzten [X.] angesichts des Urteils des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) [X.] vom 15. November 2012 [X.] ([X.]:[X.], [X.], 35) keine Zweifel i.S. des Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] (A[X.]V) an der Auslegung der im Streitfall anzuwendenden unionsrechtlichen Bestimmungen. Das Urteil wurde dem Kläger am 6. September 2017 zugestellt.

9

Hiergegen richtet sich die Nichtigkeitsklage des [X.] vom 6. Oktober 2017. Er macht den Wiederaufnahmegrund der vorschriftswidrigen Besetzung des [X.]s [X.] 579 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO), § 134 [X.]O geltend. Der [X.] habe seine Verpflichtung verletzt, Rechtsfragen dem [X.] und dem Gemeinsamen [X.] der obersten Gerichtshöfe des [X.] vorzulegen, und ihn dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen.

Der Kläger beantragt,
"das auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2017 ergangene Urteil gemäß §§ 134 [X.]O, 578, 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO für nichtig zu erklären und das Revisionsverfahren XI R 23/14 fortzusetzen.

Vorsorglich ...,
das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der [X.] die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

I.  

War der [X.]finanzhof als letztinstanzliches Gericht gem. Art. 267 Abs. 3 A[X.]V verpflichtet, dem [X.] die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen?

            
        

1.    

Bei [X.]. 37 des Urteils [X.], [X.] stellte der Gerichtshof fest, dass ein Mitgliedstaat das ihm nach Art. 13 Teil [X.] 1 g der 6. Richtlinie zustehende Ermessen grundsätzlich nicht dadurch überschreitet, dass er (...) verlangt, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege 'ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen werden müssen.' Beschränkt sich die Feststellung des Gerichtshofs im Urteil [X.] auf die Fälle der ambulanten Krankenversorgung nach dem [X.] SGB V oder erstreckt sie sich auch auf die Fälle der ambulanten Pflegeleistungen nach dem [X.] SGB XI?

                
      

Ist die Aussage abschließend gemeint oder ist zusätzlich zu prüfen, ob die Anwendung einer solchen Bestimmung gegen die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Gleichbehandlung oder der Effektivität verstößt?

               
        

2.    

Ist die Aussage bei [X.]. 59 des Urteils [X.] dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität entfallen kann, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung des Mitgliedstaates später erstmals erklärt, die Begünstigung von Konkurrenten sei rechtswidrig oder kommt es auf die tatsächliche langjährig gelebte und in den Streitjahren übliche Rechtspraxis der Finanzbehörden an? Kann die Aussage oder Korrektur der höchstrichterlichen Rechtsprechung rückwirkend auf Streitjahre vor Verkündung des Urteils [X.] oder neuen Rechtsprechung des obersten Fachgerichts erfolgen oder nur für die späteren Besteuerungszeiträume?

                
        

3.    

Kann ein Dienstleister verlangen, dass seine Leistungen als steuerfrei behandelt werden, wenn die Finanzverwaltung in ständiger Übung die identischen Leistungen von Konkurrenten als steuerfrei behandelt oder gebietet die Feststellung einer Ungleichbehandlung, dass auch die Konkurrenten mit Umsatzsteuer belegt werden? Kommt es darauf an, dass die tatsächliche Nichtbesteuerung der Konkurrenten gegen das nationale Recht und außerdem gegen das Unionsrecht verstößt? Kann ein Leistungserbringer die 'Gleichbehandlung nach oben' verlangen, wenn eine rückwirkende Besteuerung der begünstigten Konkurrenten und eine rückwirkende Anpassung der Vergütungsansprüche nicht durchgeführt werden oder wenn dies praktisch unmöglich ist?

                
       

Kommt es darauf an, dass der nationale Gesetzgeber die tatsächliche Nichtbesteuerung der Konkurrenten kannte und die Ungleichbehandlung billigend in Kauf nahm?

                
        

4.    

Verstößt es gegen den Grundsatz der Effektivität oder gegen die [X.] seit dem Urteil des 11. Juli 1974, Rs 8-74, einem Unternehmer die Berufung auf die Gleichbehandlung mit Konkurrenten zu verweigern mit dem Hinweis darauf, der Leistungserbringer hätte eine Klage erheben müssen mit dem Ziel, dass auch die Konkurrenten mit Umsatzsteuer belegt werden? Gilt das auch in den Fällen, in denen das Finanzamt eine Auskunft über Konkurrenten zur Vorbereitung eines Gleichstellungsanspruchs verweigert hatte? Darf eine solche nationale Rechtsprechung auf solche Streitjahre angewendet werden, die vor der [X.] liegen, zu der ein letztinstanzliches nationales Fachgericht diese Einschränkung zum [X.] veröffentlicht?

                          
        

5.    

Verstößt es gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, gegen den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung, gegen den Grundsatz der Effektivität oder gegen den Prüfungsmaßstab des Urteils [X.], [X.], [X.]. 22 Satz 3, 40 und 41, wenn ein Steuerpflichtiger zwar aus sonstigem Grunde als [X.] Einrichtung im Sinne des Art. 13 Teil [X.] 1 Buchstabe g der 6. EG-Richtlinie anerkannt wäre, das nationale Recht aber die Befreiung von der Umsatzsteuer von solchen Umständen abhängig macht, die der Steuerpflichtige nicht oder kaum beeinflussen kann?

                          
                 

Gilt dies insbesondere für ein Merkmal, das auf die persönlichen Eigenschaften der Leistungsempfänger oder auf die Art der Finanzierung von Leistungen verweist, der Dienstleister die Art der Finanzierung aber nicht beeinflussen kann und die steuerliche Mehrbelastung nicht auf eine andere Person abwälzen darf?

               
        

6.    

Besteht eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 A[X.]V, wenn der gleiche [X.] eines letztinstanzlichen Gerichts mit unterschiedlicher personeller Besetzung ein Urteil des [X.] in einem entgegengesetzten Sinne ausgelegt hatte und der [X.] nunmehr zum Nachteil des Steuerpflichtigen von dieser Auslegung abweichen möchte?

                
        

7.    

Gebietet Art. 267 Abs. 3 A[X.]V, dass eine nationale verfahrensrechtliche Vorschrift über die Nichtigkeit eines letztinstanzlichen Urteils bei einem Verstoß gegen die Vorlagepflicht nach Art. 267 A[X.]V nach den Maßstäben der [X.] [X.] ausgelegt wird oder darf das Gericht die Frage der Verletzung seiner eigenen Vorlagepflicht nach den Maßstäben der Willkürkontrolle beurteilen, die das nationale Verfassungsgericht im Rahmen einer Urteils-Verfassungsbeschwerde anlegen würde?

                

II.     

Für den Fall, dass der Gerichtshof eine Verpflichtung zur Vorlage aller oder einzelner der vorstehend genannten Fragen nach Art. 267 A[X.]V bejaht, wird der Gerichtshof ersucht, die vorstehend I Ziffern 1 bis 7 genannten Fragen zu beantworten."

Das [X.] beantragt, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Klage ist unbegründet. Das [X.] ist nicht gemäß § 134 [X.]O i.V.m. § 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO wiederaufzunehmen. Der [X.] war [X.] [X.]. 101 des Grundgesetzes (GG) für die von ihm entschiedenen Fragen, so dass er bei Erlass des [X.] vom 28. Juni 2017 vorschriftsmäßig besetzt war.

1. Soweit der Kläger rügt, der [X.] habe seine Vorlagepflicht an den Gemeinsamen [X.] der obersten Gerichtshöfe des [X.] verletzt, hat er den von ihm geltend gemachten Wiederaufnahmegrund bereits nicht schlüssig dargelegt.

a) Zutreffend geht der Kläger davon aus, dass ein Gericht i.S. des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht vorschriftsmäßig besetzt ist, wenn es eine Vorlagepflicht an ein anderes Gericht verletzt.

b) Dies gilt auch bei einer Verletzung der Vorlagepflicht an den Gemeinsamen [X.] der obersten Gerichtshöfe des [X.] (vgl. Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 119 [X.]O Rz 116); denn dieser ist [X.] i.S. des Art. 101 GG für die von ihm zu entscheidenden Rechtsfragen (vgl. Beschlüsse des [X.]verfassungsgerichts --[X.]-- vom 26. September 1988  1 BvR 1074/85, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1989, 2613; vom 23. Oktober 1991  2 BvR 776/90, NJW 1992, 2077, Rz 6). Der Gemeinsame [X.] der obersten Gerichtshöfe des [X.] entscheidet, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen [X.]s abweichen will (§ 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des [X.]).

c) Eine Verletzung des gesetzlichen Richters durch Nichtvorlage setzt insoweit aber voraus, dass das Gericht seine Verpflichtung zur Vorlage willkürlich außer [X.] gelassen hat (vgl. [X.]-Beschluss in NJW 1989, 2613, unter 2.). Dies --sowie die vermeintliche [X.] müssen subtantiiert dargelegt werden (vgl. Urteile des [X.]finanzhofs --[X.]-- vom 12. Januar 2011 I K 1/10, [X.], 1159, Rz 8; vom 29. Januar 2015 I K 1/14, [X.], 996, Rz 9 f., betreffend Nichtvorlage an den [X.] [X.]), woran es im Streitfall fehlt.

Insbesondere legt der Kläger nicht schlüssig dar, dass der erkennende [X.] von der Rechtsprechung des [X.]gerichtshofs ([X.]) abgewichen ist. Wie der [X.] in den vom Kläger angeführten Urteilen vom 28. Oktober 2015 VIII ZR 158/11 ([X.]Z 207, 209) und vom 12. Oktober 2016 VIII ZR 103/15 ([X.]Z 212, 224) entschieden hat, darf eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung oder Auslegung die durch den Willen des Gesetzgebers gezogenen Auslegungsgrenzen nicht überschreiten. Mit seinem Vorbringen stellt der Kläger keinen Rechtssatz aus dem [X.]surteil in [X.]E 258, 517, [X.], 1987 und dem [X.]-Urteil vom 8. August 2013 V R 13/12 ([X.]E 242, 557, [X.], 2506) heraus, der die behauptete Abweichung erkennen lässt. Darüber hinaus ist den vom Kläger in Bezug genommenen Urteilen des [X.] auch kein Rechtssatz zur Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers bei richtlinienkonformer Rechtsfortbildung oder Auslegung zu entnehmen.

2. Soweit der Kläger rügt, der [X.] habe seine Vorlagepflicht an den [X.] durch deren unhaltbare Handhabung verletzt, liegt der gerügte Verstoß gegen [X.] nicht vor.

a) Im Ausgangspunkt zu Recht geht der Kläger davon aus, dass ein Gericht i.S. des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht vorschriftsmäßig besetzt ist, wenn es willkürlich seine Vorlagepflicht an den [X.] verletzt hat (vgl. [X.]-Beschluss vom 4. September 2009 IV K 1/09, [X.]/NV 2010, 218, Rz 3; [X.]-Urteil vom 13. Juli 2016 VIII K 1/16, [X.]E 254, 481, [X.], 198, Rz 16). Der [X.] ist u.a. für die Auslegung des [X.]srechts in [X.] [X.] i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. [X.]-Beschluss vom 8. April 1987  2 BvR 687/85, [X.] 75, 223, Rz 37).

b) In ständiger Rechtsprechung beanstandet das [X.] die Auslegung und Anwendung von Normen, die --wie Art. 267 Abs. 3 A[X.]V-- die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 15. Dezember 2016  2 BvR 221/11, Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht 2017, 472, Rz 31 f.; vom 20. Februar 2017  2 BvR 63/15, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 2017, 615; vom 18. September 2017  1 BvR 361/12, Umwelt- und Planungsrecht 2018, 30, Rz 27; vom 19. Dezember 2017  2 BvR 424/17, NJW 2018, 686, Rz 39, jeweils m.w.N.).

aa) Dabei kommt es für die Prüfung einer Verletzung des gesetzlichen Richters nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen [X.]srechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 A[X.]V (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 25. Januar 2011  1 BvR 1741/09, [X.] 128, 157, Rz 104; vom 3. März 2014  1 BvR 2083/11, [X.]/Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2014, 647, Rz 29). Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.

bb) Nach der Rechtsprechung des [X.] (Urteile [X.] vom 6. Oktober 1982 C-283/81, [X.]:C:1982:335, NJW 1983, 1257, Rz 21; [X.] vom 15. September 2005 [X.], [X.]:C:2005:552, [X.] --[X.]-- 2005, 1236; [X.] vom 6. Dezember 2005 [X.]/03, [X.]:[X.], [X.], 416) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des [X.]srechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des [X.]srechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des [X.]srechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der [X.] zu beurteilen.

Die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des [X.]srechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, bleibt allein dem nationalen Gericht überlassen (vgl. [X.]-Urteil [X.] u.a. vom 9. September 2015 [X.]/14, [X.]:[X.], [X.] Zeitschrift für Wirtschaftsrecht --[X.]-- 2016, 111, Rz 40, m.w.N.). Insbesondere darf das nationale Gericht trotz einer abweichenden Entscheidung der Vorinstanz davon absehen, dem [X.] eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des [X.]srechts vorzulegen (vgl. [X.]-Urteil [X.] u.a., [X.]:[X.], [X.] 2016, 111, Rz 40 bis 42, m.w.N.). Wenn allerdings auf [X.]sebene die Gefahr von Divergenzen besteht, bedarf es einer Vorlage durch das nationale Gericht (vgl. [X.]-Urteil [X.] u.a., [X.]:[X.], [X.] 2016, 111, Rz 43 f.).

cc) Die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 A[X.]V wird nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] (vgl. zum Nachfolgenden [X.]-Beschlüsse vom 31. Mai 1990  2 BvR 1436/87 u.a., [X.] 82, 159, Rz 144; vom 6. Juli 2010  2 BvR 2661/06, [X.] 126, 286, Rz 90; in [X.] 128, 157, Rz 103 f.; vom 19. Juli 2011  1 BvR 1916/09, [X.] 129, 78, Rz 98; in NJW 2018, 686, Rz 41 ff.; [X.]-Urteil vom 28. Januar 2014  2 BvR 1564/12 u.a., [X.] 135, 155, Rz 176 ff.) insbesondere in solchen Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der --seiner Auffassung nach bestehenden-- Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Eine Verletzung der Vorlagepflicht liegt auch vor, wenn das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des [X.] zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des [X.]srechts einschlägige Rechtsprechung des [X.] noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des [X.] nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (nur) dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Fachgericht das Vorliegen eines "acte clair" oder eines "acte [X.]" willkürlich bejaht. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen [X.]srechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des [X.] muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen [X.]srechts die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt ("acte [X.]").

[X.] gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 A[X.]V im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachliche Begründung (vgl. z.B. [X.]-Beschluss vom 6. Oktober 2017  2 BvR 987/16, NJW 2018, 606, Rz 9) bzw. willkürlich (vgl. [X.]-Beschluss in NVwZ 2017, 615) bejaht.

c) Gemessen daran hat der [X.] als der Kläger meint-- seine Vorlagepflicht nicht offensichtlich unhaltbar verneint, so dass kein Fall des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorliegt.

aa) Der [X.] hat die Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt. Vielmehr ist er --nach Auswertung der Rechtsprechung des [X.]-- davon ausgegangen, dass der [X.] die 40%-Grenze des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. als zulässig ansieht, sofern für alle Marktteilnehmer gleiche Wettbewerbsbedingungen gelten. Der [X.] hat die Rechtslage insoweit als geklärt angesehen und gerade keine eigenständige Fortentwicklung des [X.]srechts bei zweifelhafter Rechtslage vorgenommen.

Für die Auslegung des nationalen Rechts (im [X.]: § 4 Nr. 16 und 18 UStG) ist das nationale Gericht allein zuständig (vgl. z.B. [X.]-Urteile Asklepios Kliniken vom 27. April 2017 [X.]/15 und [X.]/15, [X.]:[X.], [X.], 2178, Rz 28; [X.] vom 15. November 2017 [X.]/16, [X.]:[X.], [X.] 2018, 90, Rz 38). Deshalb prüft es auch in eigener Kompetenz, ob eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts (u.a. § 4 Nr. 18 UStG) möglich ist.

bb) Auch ein bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft liegt nicht vor. Der [X.] hat vielmehr eine Vorlage geprüft, aber --trotz der vom Kläger formulierten, im Laufe des Verfahrens XI R 23/14 weiter ergänzten [X.] angesichts des [X.]-Urteils Zimmermann ([X.]:[X.], [X.], 35) Zweifel i.S. des Art. 267 A[X.]V an der Auslegung der im Streitfall anzuwendenden unionsrechtlichen Bestimmungen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des [X.] (Urteile [X.], [X.]:C:1982:335, NJW 1983, 1257; [X.], [X.]:C:2005:552, [X.] 2005, 1236; [X.], [X.]:[X.], [X.], 416) verneint.

cc) Die Voraussetzungen der dritten Fallgruppe sind ebenfalls nicht erfüllt. Der [X.] hat den ihm bei der Frage, ob die Rechtsprechung unvollständig ist beziehungsweise ein "acte clair" oder "acte [X.]" vorliegt, zustehenden Beurteilungsspielraum nicht unvertretbar ausgefüllt.

Er hat in Rz 35 ff. seiner Entscheidung begründet, warum --auf Grundlage der Rechtsprechung des [X.]-- die nationale Regelung mit [X.]srecht vereinbar ist, und hat aus den unter Rz 45 ff. genannten Gründen die Einwendungen des Klägers für nicht durchgreifend erachtet. Dabei hat er auch ausgeführt, dass die --vom Kläger aus Sicht des [X.]s zu Recht angemahnte-- Gleichbehandlung mit den anerkannten [X.] dadurch gewährleistet wird, dass die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 UStG dem § 4 Nr. 18 UStG vorgeht und der Kläger die Besteuerung der Wettbewerber ggf. im Wege der Konkurrentenklage durchsetzen kann, falls das [X.] widersprüchliches Verhalten wäre, weil es sich im [X.] auf die Rechtsprechung des [X.] berufen [X.] die Wettbewerber gleichwohl nicht besteuern sollte.

dd) Soweit sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf das [X.]-Urteil [X.] u.a. ([X.]:[X.], [X.] 2016, 111) bezogen hat, besteht im Hinblick auf die vom [X.] im [X.] entschiedenen Rechtsfragen keine Gefahr von Divergenzen auf [X.]sebene. Dass das [X.] als Vorinstanz anders entschieden hatte, zwang auch danach nicht zur Vorlage.

Soweit der Kläger später ergangene Rechtsprechung des [X.] zum Vertrauensschutz und zum Rückwirkungsverbot anführt, würde diese nichts daran ändern, dass der [X.] den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum bei der Auslegung von Art. 267 A[X.]V in seinem Urteil nicht in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. [X.]-Beschluss vom 2. Februar 2017  2 BvR 787/16, juris, Rz 39). Ohnehin hat aber der [X.] betont, dass trotz des Grundsatzes der Rechtssicherheit und trotz des [X.] der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung gebietet, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des [X.]srechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Ziel steht (vgl. [X.]-Urteile Impact vom 15. April 2008 [X.]/06, [X.]:[X.], Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2008, 581, Rz 101; [X.] Da [X.] vom 5. September 2012 [X.]/11, [X.]:C:2012:517, NJW 2013, 141, Rz 56; [X.] u.a. vom 19. Juni 2014 [X.]/12 bis [X.]/12, [X.]:[X.], NVwZ 2014, 1294, Rz 88; [X.] vom 28. Juli 2016 [X.], [X.]:[X.], juris, Rz 33). Dies hat der [X.] bei § 4 Nr. 18 UStG getan.

3. Mit den übrigen Einwendungen des Klägers gegen die Rechtsauffassung des [X.]s im Urteil in [X.]E 258, 517, [X.], 1987 wird kein Wiederaufnahmegrund dargelegt.

4. [X.]srechtliche Zweifel i.S. des Art. 267 Abs. 3 A[X.]V an der Auslegung der § 134 [X.]O, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, die gemäß den Ausführungen unter II.2. im Verfahren der Nichtigkeitsklage Maßstab der Prüfung durch den [X.] sind, bestehen nicht, so dass es der vom Kläger beantragten Anrufung des [X.] (auch) vorliegend nicht bedarf.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

XI K 1/17

07.02.2018

Bundesfinanzhof 11. Senat

Urteil

vorgehend BFH, 28. Juni 2017, Az: XI R 23/14, Urteil

§ 134 FGO, § 579 Abs 1 Nr 1 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 267 Abs 3 AEUV, § 4 Nr 16 UStG 2005, UStG VZ 2005, UStG VZ 2006

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.02.2018, Az. XI K 1/17 (REWIS RS 2018, 14341)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 14341


Verfahrensgang

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Az. XI K 1/17

Bundesfinanzhof, XI K 1/17, 07.02.2018.


Az. XI R 23/14

Bundesfinanzhof, XI R 23/14, 28.06.2017.


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