Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 04.12.2023, Az. 2 BvR 1694/23

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2023, 8308

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erfolgreicher Eilantrag bzgl einer Auslieferung an die Türkei: Einstweilige Untersagung der Übergabe des Beschwerdeführers an die türkischen Behörden zur Vollstreckung eines unter Außerachtlassung prozessualer Mindestrechte ergangenen Strafurteils - potentielle Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG) bei Verurteilung in Abwesenheit


Tenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der [X.] wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Die [X.] wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Gründe

1

Zur [X.] wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der [X.] gemäß § 32 Abs. 1 und Abs. 2 [X.] bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

2

Der Beschwerdeführer, ein [X.] Staatsangehöriger, wehrt sich gegen seine Auslieferung an die [X.] zur Vollstreckung einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren, elf Monaten und 545 Tagen.

3

1. Das [X.] kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 [X.] vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

4

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. [X.] 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 89, 38 <43 f.>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das [X.] grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

5

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

6

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein insgesamt unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung des [X.], mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wurde, diesen in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das [X.] könnte seine Aufklärungspflichten hinsichtlich der Gewährung prozessualer Mindestrechte verletzt haben, weil die ausländischen Strafurteile, zu deren Vollstreckung ausgeliefert werden soll, zum Teil in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangen sind (vgl. [X.] 59, 280 <282 ff.>; 63, 332 <337 f.> m.w.N.; BVerfGK 6, 13 <17>); insbesondere enthalten die von den [X.] Behörden vorgelegten Unterlagen in Bezug auf das Urteil des 12. Strafgerichts erster Instanz [X.] vom 16. April 2015 widersprüchliche Angaben zur An- oder Abwesenheit des Beschwerdeführers. Zudem erscheint es nicht völlig ausgeschlossen, dass das [X.] die Gefahr eines erneuten Suizidversuchs beziehungsweise mögliche und erforderliche Vorkehrungen zu dessen Verhinderung während des Transports des Beschwerdeführers und dessen anschließender Inhaftierung in der [X.] nicht hinreichend aufgeklärt hat.

7

b) Die nach § 32 Abs. 1 [X.] erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung rechtswidrig war, wiegen schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Übergabe des Beschwerdeführers einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine erfolgreiche Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung voraussichtlich nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Übergabe als rechtmäßig erweisen, zu einem späteren Zeitpunkt an die [X.] Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in [X.] würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

Meta

2 BvR 1694/23

04.12.2023

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Braunschweig, 24. November 2023, Az: 1 AR (Ausl.) 19/22, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 32 IRG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 04.12.2023, Az. 2 BvR 1694/23 (REWIS RS 2023, 8308)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 8308

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