Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.05.2010, Az. B 6 KA 32/09 B

6. Senat | REWIS RS 2010, 6911

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Gegenstand

Vertragsarzt - Zulassungsentziehung wegen gröblicher Pflichtverletzung - Berücksichtigung von bestandskräftigen Feststellungen anderer Behörden oder Gerichte (hier: Strafverfahren) - Gericht - Berücksichtigung und unterschiedliche Bewertung von nicht einbezogenen oder bereits angesprochenen Vorgängen seitens der Zulassungsgremien


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 22. April 2009 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 416.680 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Streitig ist die Entziehung einer vertragsärztlichen Zulassung.

2

Gegen den Kläger, einen Radiologen, der seit 1993 in [X.] zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen war, wurden Vorwürfe erhoben, er habe Minderjährige, die sich für einen Ausbildungsplatz in seiner Praxis interessierten, - jeweils mit der Begründung, sie wegen möglicher Strahlenbelastungen untersuchen zu müssen - dazu veranlasst, sich teilweise oder ganz auszuziehen, und an ihnen Untersuchungen gynäkologischer Art durchgeführt. Die Vorwürfe betrafen vor allem Handlungen an der 17-jährigen M.[X.], die er mehrfach dementsprechend untersucht habe ([X.], [X.] und 6.12.2003), aber auch an einer 14-Jährigen und an einer weiteren namentlich nicht benannten ca 15- bis 17-Jährigen (jeweils im November 2003).

3

Diese Vorwürfe führten zunächst zu einem Verbot der Berufsausübung (Amtsgericht [X.] vom 22.1.2004, dann Aufhebung vom 30.1.2004, aber erneutes Verbot durch Landgericht <[X.]> [X.] vom [X.]). Darauf folgend wurde der Kläger auch strafrechtlich schuldig gesprochen und verurteilt (AG [X.] vom [X.]; [X.] [X.] vom 25.10.2006: 3 Jahre wegen Straftaten gegenüber M.[X.] am [X.], [X.] und 6.12.2003; Oberlandesgericht <[X.]> München vom 14.2.2008: Freispruch hinsichtlich des [X.]2003, Schuldspruch betreffend Beleidigungen und Vergewaltigung wegen der Vorfälle am [X.] und 6.12.2003, Zurückverweisung für einen neuen Rechtsfolgenausspruch; [X.] vom 26.8.2008: Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde).

4

Der Kläger strengte ein Wiederaufnahmeverfahren an, das bisher erfolglos geblieben ist ([X.] vom 4.8.2008, Zurückverweisung durch [X.] vom 23.12.2008, weiterer Fortgang vom Kläger nicht angegeben).

5

Sich mit dem Strafverfahren zeitlich noch teilweise überschneidend wurde ein Verfahren auf Entziehung der Kassenzulassung eingeleitet und durchgeführt (Zulassungsausschuss vom 12.12.2007/13.2.2008; Berufungsausschuss vom 24.4./29.4.2008: [X.] wegen rechtskräftig festgestellter Vergewaltigung, bezogen auf die vom [X.] benannten Vorfälle vom [X.] und 6.12.2003 mit Anordnung sofortiger Vollziehung). Rechtsmittel gegen die vom Beklagten ausgesprochene Anordnung sofortiger Vollziehung sind erfolglos geblieben ([X.], Beschluss vom 15.12.2008).

6

Das vom Kläger angerufene [X.] hat seine Klage gegen die [X.] abgewiesen (Urteil vom 17.10.2008: [X.] auf die Ergebnisse des Strafverfahrens). Die Berufung des [X.] zum L[X.] ist erfolglos geblieben (Urteil vom [X.]). Dieses hat in seiner Urteilsbegründung darauf abgestellt, dass es zulässig sei, eine [X.] auf bestandskräftige Entscheidungen im Strafverfahren und deren Inhalt zu stützen. Ein Wiederaufnahmeverfahren ändere daran nichts, solange dem Wiederaufnahmeantrag nicht stattgegeben worden sei. Das Berufungsgericht dürfe die Beweisergebnisse im Strafverfahren ohne eigene Ermittlungen zugrunde legen. Dementsprechend ergäben sich aus den Vorfällen am [X.] und 6.12.2003 gröbliche Verletzungen vertragsärztlicher Pflichten. Schon allein damit erweise sich die [X.] als rechtmäßig.
Darüber hinaus lägen aber auch unabhängig davon, ob von einem strafrechtlich relevanten Verhalten auszugehen sei, Verstöße gegen vertragsärztliche Pflichten vor. Die vaginale Untersuchung der [X.] am [X.]2003 sei nicht vom Überweisungsauftrag erfasst gewesen. Der Kläger hätte [X.] am [X.] und [X.]2003 jeweils darauf hinweisen müssen, dass sie solche Untersuchung auch von dem eher dafür zuständigen Frauen- oder Hausarzt durchführen lassen könne. Mit seinem Einwand, dass am 6.12.2003 die [X.] zwischen den beiden Untersuchungsfrequenzen in der [X.] für die ihm vorgeworfenen Handlungen gar nicht habe ausreichen können, habe sich bereits das [X.] auseinandergesetzt; dem schließe sich das L[X.] an. Der Kläger habe unter Vorspiegelung medizinischer Notwendigkeit zwei überflüssige kernspintomografische Untersuchungen des Unterleibs der [X.] durchgeführt, und dies ohne Kontrastmittel, sodass sie nicht einmal medizinisch aussagekräftig hätten sein können; allein die Vornahme dieser zwei Untersuchungen stelle auch ohne jedwede sexuelle Handlung eine schwerwiegende Verletzung vertragsärztlicher Pflichten dar. Das Gericht sei allerdings überzeugt, dass er sich von sexuellen Beweggründen habe leiten lassen, was schon allein, zumal die Betroffenen minderjährig bzw potenzielle Auszubildende gewesen seien, ihn als ungeeignet zur Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit erweise. Dies begründe die Gefahr, dass er auch anderen (jungen) weiblichen Versicherten oder Auszubildenden zu nahe treten würde. Ferner lägen nicht hinnehmbare Grenzüberschreitungen auch darin, dass er von Bewerberinnen um eine Ausbildungsstelle habe Fragebögen ausfüllen lassen mit Fragen danach, ob sie einen Freund hätten, ob sie [X.] zur Verhütung nähmen, wann sie ihre letzte Periode und ihren letzten Geschlechtsverkehr gehabt hätten. Schließlich habe er auch bei einer 14-Jährigen deren Brüste abgetastet und eine Untersuchung gynäkologischer Art durchgeführt. Dasselbe falle ihm bei einer namentlich nicht benannten 15- bis 17-Jährigen zur Last. Schließlich ergebe sich ein weiterer schwerwiegender Grund für seine Ungeeignetheit als Vertragsarzt daraus, dass er während des [X.] weiterhin vertragsärztliche Leistungen erbracht und abgerechnet habe.

7

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des L[X.] macht der Kläger Verfahrensmängel und in mehrfacher Hinsicht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

8

II. Die Beschwerde des [X.] hat keinen Erfolg. Seine [X.] sind, soweit sie zulässig sind, jedenfalls unbegründet.

9

In der Rechtsprechung des B[X.] ist geklärt, dass die Annahme gröblicher Pflichtverletzungen sich auf die Tatsachenfeststellungen in anderweitigen bestandskräftigen Entscheidungen und deren Inhalt stützen kann, insbesondere auf [X.] und Strafbefehle, aber zB auch auf [X.] und Bußgeldbescheide wegen Qualitätsmängeln (vgl B[X.]E 61, 1, 4 = [X.] 2200 § 368a [X.] und - die Rechtsprechung zusammenfassend - B[X.], Beschluss vom 27.6.2007 - B 6 [X.]/07 B - in Juris dokumentiert - Rd[X.] mwN). Dabei ist zugleich anerkannt, dass es sich bei den Vorgängen, die gröbliche Pflichtverletzungen darstellen können, nicht um Straftaten handeln muss, sondern dass insoweit auch zB berufsrechtliche oder wettbewerbliche Verstöße herangezogen werden können (vgl zB B[X.]E 93, 269 = [X.] 4-2500 § 95 [X.], Rd[X.]0, 17; B[X.] [X.] 4-2500 § 95 [X.] Rd[X.]3). Es kann sich auch um Handlungen mit sexuellem Einschlag handeln (vgl B[X.], Beschluss vom 19.6.1996 - 6 [X.] - in Juris dokumentiert; B[X.] [X.] 4-2500 § 95 [X.] Rd[X.]3; B[X.], Beschluss vom 27.6.2007 - B 6 [X.]/07 B - in Juris dokumentiert - Rd[X.]1; B[X.], Beschluss vom [X.] - B 6 [X.]/09 B - in Juris dokumentiert - Rd[X.]8). Ein Vorgang, der als Pflichtverstoß gewertet wird, kann auch längere [X.] zurückliegen; auf solche, die länger zurückliegen als fünf Jahre vor der Entscheidung des [X.], kann allerdings nur dann zurückgegriffen werden, wenn sie besonders gravierend sind (B[X.] [X.] 4-2500 § 95 [X.] Rd[X.]4). Die Gerichte dürfen auch solche Vorgange berücksichtigen und bei der Wertung als gröbliche Pflichtverletzung zugrunde legen, die von den Zulassungsgremien nicht einbezogen wurden (B[X.] [X.] 4-2500 § 95 [X.] Rd[X.]4).

Vor dem Hintergrund dieser bereits erfolgten Klärungen ist weder ein weiterer Klärungsbedarf ersichtlich, noch greifen die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen durch.

Es ist nicht klärungsbedürftig, dass das L[X.] die Entziehung der Zulassung allein unter Hinweis auf die Tatsachenfeststellungen bestätigen durfte, die im Strafverfahren bei der rechtskräftigen Verurteilung des [X.] ua wegen Vergewaltigung einer Ausbildungsplatzbewerberin in seiner Praxis zugrunde gelegt wurden (vgl die oben angeführte Rechtsprechung). Auf die Beanstandungen, die der Kläger im Berufungsverfahren gegen die der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen des [X.] erhoben hat, hat das L[X.] nicht näher eingehen müssen. Ob diese Einwendungen substanziiert vorgetragen worden sind, kann dahingestellt bleiben. Der Grundsatz, dass das Vorliegen einer Pflichtverletzung iS des § 95 Abs 6 [X.]B V aus bestandskräftigen Feststellungen anderer Behörden oder Gerichte abgeleitet werden kann - und dass im Falle eines Verbrechens (§ 177 Abs 1 iVm § 12 Strafgesetzbuch) im Zusammenhang mit der ärztlichen Tätigkeit in aller Regel eine gröbliche Verletzung anzunehmen ist -, bedarf keiner Einschränkung. Wer wegen eines Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde, muss die dieser Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen im [X.]sverfahren gegen sich gelten lassen. Ein Antrag auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (§ 366 Strafprozessordnung ) ändert daran nichts, solange er nicht für begründet erklärt worden ist. Ob die Sozialgerichte bei Erfolg des [X.], aber noch vor Durchführung der neuen Hauptverhandlung (vgl § 370 Abs 2 StPO) den Angriffen des Arztes gegen die der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen nachzugehen hätten, bedarf hier keiner Klärung. Vorliegend steht weder fest noch ist etwas dafür ersichtlich und wird auch vom Kläger nicht vorgetragen, dass sein Wiederaufnahmegesuch für begründet erklärt worden wäre.

Erfolglos ist auch die weitere Rüge des [X.], das L[X.] hätte den Beweisanträgen folgen müssen, die er in seinen Schriftsätzen vom 8.12.2008 und vom [X.] gestellt habe. Denn diese Beweisanträge hat er nicht, wie erforderlich, erkennbar bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung des L[X.] aufrechterhalten (vgl dazu L[X.]-Sitzungsniederschrift L[X.]-Akten Bl 248, 249; zum Erfordernis des Aufrechterhaltens der Beweisanträge siehe zB B[X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.]; B[X.] [X.] 4-1500 § 160 [X.] Rd[X.] 5).

Ebenso erfolglos ist die Rüge, eine Überraschungsentscheidung liege darin, dass das L[X.] die Handlungen des [X.] gegenüber der [X.] am [X.]2003 schon ausreichen lasse, nachdem dies weder vom Beklagten noch vom [X.] so gesehen worden sei. Nach der Rechtsprechung dürfen die Gerichte, wie erwähnt, auch solche Vorgänge berücksichtigen und bei der Wertung als gröbliche Pflichtverletzung zugrunde legen, die von den Zulassungsgremien nicht einbezogen wurden (s oben mit Hinweis auf B[X.] [X.] 4-2500 § 95 [X.] Rd[X.]4). Davon kann ein anwaltlich vertretener Kläger nicht überrascht werden. Erst recht ist es nicht zu beanstanden, wenn Gerichte auf von den Zulassungsgremien bereits angesprochene Vorgänge zurückgreifen und diese lediglich anders bewerten.

Umstände, derentwegen die [X.] mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar sein könnte, sind nicht ersichtlich und werden auch vom Kläger nicht geltend gemacht.

Auf der Grundlage der nach alledem tragfähigen Feststellungen und Ausführungen des L[X.], dass die strafgerichtlich festgestellten Untersuchungen des [X.] an [X.] am [X.] und am 6.12.2003 schon allein für sich zur Rechtfertigung der [X.] ausreichen, bedarf es keines [X.] auf die weiteren [X.] des [X.] im Zusammenhang mit anderen Vorgängen. Insoweit fehlt es - soweit er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht - an der Entscheidungserheblichkeit (Klärungsfähigkeit) und - soweit er Verfahrensrügen erhebt - am "Beruhen" auf dem gerügten Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] 3 [X.]G.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 [X.]G abgesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 3 [X.]G iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt der Kläger die Kosten des von ihm erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 1 [X.]G iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 und 3, § 40 Gerichtskostengesetz. Seine Bemessung erfolgt entsprechend den Ausführungen der Vorinstanz, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden sind (siehe [X.], Beschluss vom 25.8.2009).

Meta

B 6 KA 32/09 B

05.05.2010

Bundessozialgericht 6. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KA

vorgehend SG München, 17. Oktober 2008, Az: S 39 KA 626/08

§ 95 Abs 6 SGB 5, § 12 StGB, § 177 Abs 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.05.2010, Az. B 6 KA 32/09 B (REWIS RS 2010, 6911)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 6911

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