Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.04.2022, Az. 5 StR 511/21

5. Strafsenat | REWIS RS 2022, 2948

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Gegenstand

Beweiswürdigung im freisprechenden Urteil: Erfordernis der Gesamtwürdigung aller Indizien im Falle des Vorliegens einzelner Belastungsindizien für einen Totschlag


Tenor

Auf die Revision der Nebenklägerin [X.]wird das Urteil des [X.] vom 24. Juni 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Dagegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die vom [X.] vertreten wird. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

Mit der zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft [X.] war dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am 25. März 2020 seine Bekannte [X.]      durch komprimierende Gewalt gegen den Hals getötet und den Leichnam anschließend in der [X.]            in [X.]     auf dem Gehweg abgelegt zu haben.

3

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

4

1. Die später Getötete hatte ab Dezember 2019 die durch sie gemietete Wohnung in der E.                    in [X.]     (im Folgenden: Mietwohnung) an den ihr seit mehreren Jahren bekannten Angeklagten untervermietet. Weil er die Miete nicht zahlte, suchte sie seit Anfang Februar 2020 nach ihm und versuchte, ihn telefonisch zu erreichen. Am 13. März 2020 erfuhr sie, wo er sich aufhielt, und machte ihre Forderung aus dem [X.] geltend. Da der Angeklagte den geforderten Betrag nicht zahlen konnte, verwies sie ihn am 15. März 2020 der Mietwohnung. Seitdem hatte er keine feste Bleibe, kam jedoch am 17. März 2020 bis zum Ende des Monats in der Wohnung eines zufälligen Bekannten unter (im Folgenden: Unterkunft). In den folgenden Tagen versuchte die später Getötete erfolglos, die Mietforderung durchzusetzen, insbesondere bei der sich zahlungswillig zeigenden Mutter des Angeklagten, worüber dieser sehr verärgert war.

5

Am Morgen des 25. März 2020 scheiterten die zunächst erfolgversprechenden Bemühungen, den geforderten Betrag von der Mutter des Angeklagten zu erhalten. Daraufhin richtete die später Getötete bei dem [X.] ein Konto auf den Namen des Angeklagten ein, zu dem sie gemeinsame Freunde und Bekannte einlud und über das sie den Angeklagten – insbesondere mittels eines in der Mietwohnung aufgenommenen und von dort versandten [X.] – bloßstellte, eine Belohnung für Hinweise auf seinen Aufenthalt auslobte und die [X.] ihm gehörender Unterlagen androhte. Der Angeklagte erfuhr hiervon am späten Vormittag und kündigte in der folgenden Stunde bis etwa halb eins mittags gegenüber zwei Bekannten an, die später Getötete werde „ihre Strafe bekommen“; er werde „zurückschlagen, vielleicht nicht heute oder morgen, aber sicherlich irgendwann“, sollte sie ihre Drohung wahrmachen. Dass zu diesem [X.]punkt außer dem Angeklagten und dessen verärgerter Mutter jemand anderes gegenüber der seit rund einem Jahr überwiegend in [X.] lebenden später Getöteten feindlich eingestellt war, hat das [X.] nicht festgestellt.

6

Der Angeklagte führte ab 12.28 Uhr ein Telefongespräch mit einem Bekannten, bis sich um 12.47 Uhr sein [X.] wegen zu geringer Akkuleistung ausschaltete; erst ab 13.55 Uhr lud der Angeklagte den Akku auf und setzte um 13.57 Uhr das Telefongespräch mit dem Bekannten fort. Während der [X.] hielt der Angeklagte sich in der Unterkunft auf. Von dort war die Mietwohnung fußläufig in etwa fünfzehn Minuten erreichbar. Den Aufenthaltsort des Angeklagten zwischen 12.47 Uhr und 13.55 Uhr hat das [X.] nicht festzustellen vermocht. Er selbst hat angegeben, die Unterkunft nicht verlassen zu haben.

7

Zwischen 11.28 Uhr und 13.11 Uhr tauschte die später Getötete ihrerseits über den Messengerdienst [X.] laufend Nachrichten mit einer Bekannten aus. Ihr letztes Lebenszeichen war eine zwischen 13.19 Uhr und 13.29 Uhr begonnene, aber nicht abgesandte Sprachnachricht an eine Freundin. Ihr dabei verwendetes [X.] befand sich zu diesem [X.]punkt in der Funkzelle einer die Mietwohnung abdeckenden [X.]. Alle Verbindungen ihres [X.]s am Tattag liefen über diese Sendeeinrichtung.

8

Kurz vor 22 Uhr verließ der Angeklagte die Unterkunft und kehrte erst gegen Mitternacht wieder dorthin zurück. Wo der Angeklagte sich in der Zwischenzeit aufhielt, hat das [X.] nicht festzustellen vermocht. Er selbst hat sich wahrheitswidrig dahingehend eingelassen, die Wohnung seines Bekannten im genannten [X.]raum nicht verlassen zu haben. Sein [X.] befand sich währenddessen, den Akku aufladend, in einer die Unterkunft abdeckenden Funkzelle einer [X.]. Um 0.06 Uhr antwortete er einem Bekannten auf dessen bereits um 22.29 Uhr geschriebene Nachricht, er sei ja bereit gewesen, sich mit der Getöteten zu einigen, „sie sei aber einfach zu weit gegangen“.

9

[X.]     wurde am 25. März 2020 durch komprimierende Gewalt gegen den Hals, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens drei Minuten andauerte, getötet. Ihr Leichnam wurde am selben Tag gegen 23.25 Uhr vor dem Haus in der [X.]           aufgefunden, wo sie nach Auffassung der [X.] jedoch nicht getötet worden war. Gegen 22.15 Uhr befand sich der Leichnam noch nicht an dieser Stelle. Der lediglich mit [X.], Unterhose, verkehrt herum getragener Hose und Jacke bekleidete Leichnam wies Zeichen einer deutlichen stumpfen Gewalteinwirkung gegen den Kopf auf. Unter allen Fingernägeln der rechten Hand des Leichnams fand sich DNA des Angeklagten. An der Brust, an der rechten Handinnenfläche, unter den Fingernägeln der linken Hand, an der Vorderseite des Halses, im Gesicht, an der Perücke und an der Jacke fand sich DNA, als deren Verursacher der Angeklagte nicht hat ausgeschlossen werden können. Im Intimbereich befanden sich geringe Anteile von DNA und Y-chromosomale Allele unbekannter männlicher Personen; ebenso waren an der Unter- und der Schlafanzughose der Getöteten Allele einer unbestimmbaren Anzahl männlicher Personen nachweisbar; Spuren des Angeklagten waren jeweils nicht nachweisbar. An einer über den Leichnam gelegten Jacke befanden sich Fasern, die denen der Jacke des Angeklagten glichen.

Zwischen 20 und 22 Uhr hatte die Nachbarin der Getöteten aus der Mietwohnung einen lautstarken Streit zwischen einer Frau und [X.] in ausländischer Sprache wahrgenommen. Als sie hörte, dass die Tür der Mietwohnung zugeknallt wurde, schaute sie durch ihren Türspion und sah, wie [X.] und eine schwarze Frau aus der Richtung der Mietwohnung kamen. Am nächsten Morgen zwischen 8 und 9 Uhr hörte sie erneut, dass die Tür der Mietwohnung zugezogen wurde. Da sie bei der Getöteten um einen für einen Handwerker benötigten Schlüssel hatte bitten wollen, öffnete sie ihre Wohnungstür und sah wiederum [X.] und eine schwarze Frau im [X.], die sichtlich erschrocken sofort ihre Gesichter abwandten und in Richtung der Treppe rannten. Die Nachbarin blieb noch kurz in ihrer Wohnungstür stehen, bis kurze [X.] später [X.] aus der Wohnung der Getöteten trat und nach Ansprache ebenfalls den Kopf wegdrehte und davonlief.

Die Mietwohnung wies bei der Durchsuchung am 26. März 2020 keinerlei Spuren eines Einbruchs oder Kampfs auf. In der Wohnung befanden sich insbesondere ein Laptop und mehrere Giro- und Kreditkarten der Getöteten, während ihr [X.] sowie die Haus- und Wohnungsschlüssel nicht aufgefunden wurden. Bei einer weiteren Durchsuchung am 8. April 2020 konnte auch unter Verwendung der Chemikalie Luminol in der Wohnung, im [X.] und im Treppenhaus kein Blutnachweis erbracht werden. Bei einer Begehung der Wohnung mit Leichenspürhunden am 3. März 2021 – also fast ein Jahr nach der Tat – zeigten diese in der Wohnung, im Treppenhaus und im Fahrstuhl kein Anzeigeverhalten.

Am 27. März 2020 warf der Bruder der Getöteten dem Angeklagten in einem Telefongespräch die Tat vor. Am selben Tag wusch der Angeklagte seine sämtlichen in der Unterkunft befindlichen Kleidungsgegenstände mit Ausnahme derer, die er am Körper trug; dazu zählte auch seine Jacke. Am 28. März 2020 wurden nach der Festnahme des Angeklagten an seiner rechten Halsseite und im oberen Rückenbereich kleine Kratzer festgestellt. Er verhielt sich freundlich und kooperativ gegenüber den Polizeibeamten, stimmte einer freiwilligen Abgabe einer Speichelprobe ebenso zu wie einer Durchsuchung seiner eingelagerten Sachen. Während seiner Beschuldigtenvernehmung wurde der Angeklagte von den Vernehmungsbeamten teils erheblich unter Druck gesetzt; er hat gleichwohl – wie auch in der Hauptverhandlung – bestritten, etwas mit dem Tod von [X.]      zu tun zu haben.

2. Das [X.] hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es sich trotz Indizien, die für die Täterschaft des Angeklagten sprächen, nicht davon zu überzeugen vermochte, dass er der Täter war. Dies hat die [X.] im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der Streit zwischen dem Angeklagten und der später Getöteten könne ein Beweggrund gewesen sein; gegen den Angeklagten spreche zudem vordergründig, dass er zwei Tage nach der Tat all seine Kleidungsstücke einschließlich der Jacke gewaschen und über seinen Aufenthalt am Abend des [X.] nach 22 Uhr nachweislich falsche Angaben gemacht habe. Die beiden letztgenannten Anhaltspunkte seien als gegen ihn sprechende Indizien aber nur schwach ausgeprägt, weil er wegen des [X.] der Getöteten, er sei der Täter gewesen, auch in Panik geraten sein könne und deshalb seine Sachen gewaschen habe; im Übrigen könne auch ein Unschuldiger zur Lüge greifen, um jeden unberechtigten Verdacht gegen sich zu entkräften.

Zwar habe der Angeklagte am frühen Nachmittag und am frühen Abend des [X.] zeitlich die Möglichkeit gehabt, die Tat zu begehen, dagegen spreche aber, dass ihm für die Tötung in der Mietwohnung gegen Mittag nur „ein – äußerst knappes – [X.]fenster“ von etwa zehn bis 20 Minuten zur Verfügung gestanden habe. Dass der Angeklagte bei seiner körperlichen Untersuchung drei Tage nach der Tat „lediglich äußerst geringfügige Verletzungen“ aufgewiesen habe, spreche „eher gegen“ seine Täterschaft, denn es sei „sehr wahrscheinlich“, dass die Getötete sich gewehrt habe, und „unwahrscheinlich“, dass der Täter keine äußerlich sichtbaren Hautverletzungen davongetragen habe. Die auf den Angeklagten hindeutenden Spuren am Leichnam könnten das Ergebnis von Sekundär- und Tertiärantragungen sein. Dagegen lasse der im Intimbereich des Leichnams festgestellte geringe Anteil männlicher DNA, die nicht dem Angeklagten habe zugeordnet werden können, einen bisher unbekannten Täter möglich erscheinen und deute wie auch andere Spuren auf einen kurz vor dem Tod vollzogenen Geschlechtsverkehr hin. Die am Tattag „zwischen 20:00 Uhr und 22:00 Uhr“ und am darauffolgenden Morgen aus der Wohnung der Getöteten gekommenen Menschen, zu denen der Angeklagte nicht gehört habe, könnten nach Ansicht des [X.]s „mit dem Versterben von [X.]      etwas zu tun“ gehabt haben.

II.

Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig und begründet.

1. Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig. Die sachgerechte Auslegung der Revisionsschrift ergibt, dass sich ihr Rechtsmittel gegen den Freispruch vom Vorwurf eines Tötungsdelikts zum Nachteil ihrer Tochter wendet und damit ein zulässiges Ziel verfolgt (vgl. § 395 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, § 400 Abs. 1 StPO). Zwar hat die Nebenklägerin nur die nicht ausgeführten [X.] der Verletzung formellen und materiellen Rechts erhoben. Jedoch zielt ihr Revisionsantrag, „das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere [X.] zurück zu verweisen", nach den Gesamtumständen ersichtlich auf die Beseitigung des Freispruchs (vgl. [X.], Beschluss vom 19. September 2001 – 3 [X.], [X.], 261).

2. Die Revision der Nebenklägerin ist auch begründet, denn die Beweiswürdigung des [X.]s, die zum Freispruch des Angeklagten geführt hat, erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

a) Allerdings muss das Revisionsgericht es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Urteil vom 30. Juli 2020 – 4 [X.], [X.], 116 Rn. 6 mwN). Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung dürfen einzelne Beweisergebnisse zudem nicht mit der fehlerhaft isolierten Anwendung des [X.] entwertet werden, denn der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa [X.], Urteil vom 16. Februar 2022 – 5 [X.] Rn. 14).

b) Nach diesen Maßgaben liegen hier durchgreifende Rechtsfehler vor, denn die Beweiswürdigung weist jedenfalls eine wesentliche Lücke auf und enthält keine rechtsfehlerfreie Gesamtwürdigung der für und wider die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Beweisanzeichen. Im Einzelnen:

aa) Das [X.] hat – sachverständig beraten – angenommen, die unter den Fingernägeln der rechten Hand der Getöteten festgestellte DNA des Angeklagten in Gestalt einer Zwei-Personen-Mischspur, die mit einer Wahrscheinlichkeit von [X.] von dem Angeklagten und der Getöteten stamme, sowie die weiteren am Körper und an der Kleidung der Verstorbenen festgestellten DNA-Spuren, hinsichtlich derer der Angeklagte als Spurenleger in Betracht komme, ließen sich „zwanglos“ damit vereinbaren, dass die später Getötete in der Mietwohnung Sachen des Angeklagten angefasst und auf diese Weise DNA-Material des Angeklagten aufgenommen habe, das sie im Wege der Tertiärantragung an andere Gegenstände und Körperteile weitergegeben habe. Diese Ausführungen erweisen sich insbesondere mit Blick auf die bei dem Angeklagten festgestellten – wenn auch geringfügigen – Kratzer und Hautverletzungen als lückenhaft, weil offen bleibt, was als Spurenträger unter den Fingernägeln der Getöteten festgestellt wurde. Sollte es sich dabei um Hautpartikel des Angeklagten gehandelt haben, hätte die [X.] sich damit auseinandersetzen müssen, ob diese nicht durch ein Kratzen des Angeklagten durch die Getötete unter ihre Fingernägel gelangt sein könnten. Dies hätte die Bewertung, die DNA habe durch bloßes Berühren seiner Sachen aufgenommen werden können, jedenfalls beeinflussen und diese Annahme gegebenenfalls entkräften können. Soweit das [X.] in diesem Zusammenhang den Verletzungen des Angeklagten keine für, sondern eine „eher gegen“ seine Täterschaft sprechende Bedeutung zugemessen hat, erweist sich die Beweiswürdigung – wie der [X.] insoweit zu Recht ausgeführt hat – als widersprüchlich, weil die [X.] in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, dass Umstände des konkreten Tatablaufs nicht bekannt seien; dann ist aber nicht nachvollziehbar, warum es „sehr wahrscheinlich“ sein sollte, dass die Getötete sich gewehrt habe, und „unwahrscheinlich“, dass der Täter keine äußerlich sichtbaren Hautverletzungen oder jedenfalls keine erheblicheren Verletzungen davongetragen habe, als die beim Angeklagten festgestellten.

bb) Das [X.] hat wesentliche gegen den Angeklagten sprechende Gesichtspunkte nicht oder jedenfalls nicht – wie es geboten gewesen wäre (vgl. [X.], Urteil vom 16. Februar 2022 – 5 [X.] Rn. 14) – mit ihrem vollen Gewicht in seine „Gesamtwürdigung“ eingestellt; vielmehr hat es einzelnen Beweisanzeichen isoliert einen allenfalls geringen Beweiswert beigemessen und andere gar nicht berücksichtigt. Die Beweiswürdigung lässt damit nicht erkennen, ob sich die [X.] des Umstandes bewusst war, dass einzelne Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, doch in ihrer Gesamtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatgerichts begründen können (vgl. [X.], Urteil vom 30. Juli 2020 – 4 [X.], [X.], 116 Rn. 11 mwN).

So hat das [X.] etwa das grundsätzlich gegen den Angeklagten sprechende Waschen seiner gesamten Kleidung im zeitlichen Zusammenhang mit der Tat nach isolierter Würdigung als „eher schwaches Indiz“ gewertet, weil es für den Angeklagten auch dann einen Grund für dieses Handeln gegeben haben könne, wenn er nicht der Täter war. Die insoweit bemühte Erklärung, der Angeklagte könne, nachdem er durch den Anruf des Bruders der Getöteten von deren Tod erfahren habe und mit dem Vorwurf, er sei der Täter, konfrontiert worden sei, in Panik geraten sein, findet im Beweisergebnis indes keine Stütze; nicht einmal der Angeklagte hat in seiner Einlassung behauptet, dies sei der Grund für die Wäsche gewesen. Es gibt aber auch mit Blick auf den [X.] keinen Grund, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für die die Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa [X.], Urteil vom 2. Februar 2022 – 5 StR 282/21 Rn. 10 mwN).

Außerdem hat die [X.] die widerlegte [X.] des Angeklagten für die [X.] ab kurz vor 22 Uhr am Abend des [X.] von vornherein als „sehr schwaches Indiz“ gewertet, weil auch ein Unschuldiger Zuflucht zur Lüge suchen könne. Auch wenn gegen diesen Ansatz revisionsrechtlich grundsätzlich nichts zu erinnern ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 16. Dezember 2015 – 1 StR 503/15 Rn. 8; vom 16. Dezember 2010 – 4 StR 508/10 Rn. 3; Urteil vom 31. März 1999 – 5 [X.]), hat das [X.] die hier gegebenen Besonderheiten des Falles aus dem Blick verloren, namentlich die Koinzidenz, dass der Angeklagte für zwei im Hinblick auf den Fall wesentliche [X.]räume kein Alibi hat: Insoweit hat es nicht ersichtlich bedacht, dass der Angeklagte gerade für die [X.], in der die Leiche am Fundort in der [X.]         abgelegt wurde, wissentlich falsche Angaben zu seinem Aufenthaltsort gemacht hat. Zudem hat die [X.] außer [X.] gelassen, dass er auch schon für die Mittagszeit, in die mit dem Beginn der Aufzeichnung einer dann aber nicht mehr versendeten Sprachnachricht das letzte Lebenszeichen der Getöteten fällt, kein Alibi hat.

Soweit das [X.] in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, das „knappe [X.]fenster“ in der Mittagszeit spreche gegen eine Tatbeteiligung des Angeklagten, ist dies nicht nachvollziehbar. Denn dem Angeklagten standen auch nach den Darlegungen der [X.] bis zu 20 Minuten für die Tatbegehung zur Verfügung; die Dauer des zum Tod führenden [X.] betrug nach den sachverständig abgesicherten Feststellungen aber lediglich drei Minuten.

Auch die gegen den Angeklagten sprechenden DNA- und Faserspuren – an der über den Leichnam gelegten Jacke waren Fasern, wie sie der vom Angeklagten getragenen Jacke entsprachen, gefunden worden – hat die [X.] isoliert betrachtet und als „wenig aussagekräftig“ bewertet; damit hat sie im Ergebnis wiederum nicht den Erfordernissen genügt, die an eine Gesamtwürdigung zu stellen sind.

c) Das Urteil beruht auf den aufgezeigten [X.] (§ 337 Abs. 1 StPO). Der [X.] kann auch mit Blick auf die nach den getroffenen Feststellungen möglicherweise gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände nicht ausschließen, dass das [X.] zu einem anderen, für den Angeklagten ungünstigen Beweisergebnis gelangt wäre, wenn es auf der Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung entschieden hätte. Die Sache bedarf deshalb umfassend neuer Verhandlung und Entscheidung.

[X.]     

      

Köhler     

      

Resch 

      

von Häfen     

      

Werner     

      

Meta

5 StR 511/21

28.04.2022

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bremen, 24. Juni 2021, Az: 21 Ks 6/20

§ 261 StPO, § 267 StPO, § 212 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.04.2022, Az. 5 StR 511/21 (REWIS RS 2022, 2948)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2948

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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