Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.02.2012, Az. V ZB 320/10

V. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 9025

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 320/10

vom

16. Februar 2012

in der Abschiebungshaftsache

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Der V.
Zivilsenat des [X.] hat am 16. Februar 2012 durch den Vorsitzenden [X.] Prof.
Dr.
Krüger, die [X.] [X.] und Prof. Dr.
Schmidt-Räntsch, die [X.]in [X.] und den [X.] Dr. Czub
beschlossen:
Auf die Rechtsmittel des Betroffenen wird der Beschluss der 11.
Zivilkammer des [X.] vom 9. Dezember 2010 aufgehoben und festgestellt, dass die Anordnung der
Ab-schiebungshaft in dem Beschluss des [X.] vom 18.
Oktober 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechen-den Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in den
Rechtsmittelverfahren werden dem [X.] auf-erlegt.
Der Gegenstandswert beträgt für die Rechtsmittelverfahren 3.000

Gründe:
I.
Der Betroffene, ein kosovarischer Staatsangehöriger, reiste erstmalig 1998 nach [X.] ein. Da sein Asylantrag keinen Erfolg hatte, wurde er mit Fristsetzung zur Ausreise aufgefordert und ihm die Abschiebung angedroht. Diese Entscheidung ist seit Februar 1999 bestandskräftig.
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Im September 2005 wurde er nach [X.]/[X.] abgeschoben. Im [X.] 2006 wurde er erneut in [X.] aufgegriffen und im Juli 2006 nach [X.] abgeschoben. Nachdem er wiederum in [X.] aufgegriffen worden war, wurde ihm eine Grenzübertrittsbescheinigung mit der Auflage ausgehän-digt, [X.] bis zum 5. Dezember 2008 zu verlassen. Dem kam er nicht nach. Am 18. Oktober 2010 wurde er in [X.] festgenommen.
Auf Antrag der Beteiligten zu 2 (Ausländerbehörde) hat das Amtsgericht am gleichen Tag die Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von höchstens drei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung ange-ordnet. Der Betroffene ist am 7. Dezember 2010 in den [X.] abgeschoben
worden. Das [X.] hat die sofortige Beschwerde mit dem Antrag, die [X.] in seinen Rechten festzustellen, zurückgewiesen. [X.] den Beschluss wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er seinen Feststellungsantrag weiter verfolgt.

II.
Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, dass die Inhaftierung des Be-troffenen nicht wegen eines Verstoßes gegen § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] rechtswidrig gewesen sei. Eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Ab-schiebung des
Betroffenen sei nicht erforderlich gewesen, weil das bei der Festnahme eingeleitete polizeiliche Ermittlungsverfahren der [X.] noch nicht bekannt gewesen sei. Vorher sei dieser die Erklärung ihres Einvernehmens nicht möglich und diese daher für den Erlass der Anordnung von [X.] auch nicht erforderlich.

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Es liege auch kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor. Die Beteiligte zu 2 habe für die Rückführung des Betroffenen eine Sicherheitsbe-gleitung für erforderlich halten [X.] jedoch Anfang November 2010 keine personellen Kapazitäten für eine Si-cherheitsbegleitung zur Verfügung gestanden. Verzögerungen aus solchen Ext-remsituationen habe der Betroffene als Konsequenz aus seinen strafbaren Ver-stößen gegen ausländerrechtliche Vorschriften zu tragen.

III.
Die Rechtsbeschwerde, die gemäß §
70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz
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FamFG statthaft (Senat, Beschluss vom 22.
Juli 2010 -
V
ZB
29/10, [X.] 2011, 27 Rn. 4) und auch im Übrigen zulässig (§ 71 FamFG) ist, hat Erfolg, weil der Betroffene durch die Anordnung und den Vollzug der Abschiebungshaft in seinem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt worden ist.
1. Für den Zeitraum vom 18. Oktober 2010 bis zum 4. November 2010
ergibt sich die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die Haftanordnung [X.] aus dem Fehlen des Einvernehmens der zuständigen Staatsanwaltschaft mit einer Abschiebung des Betroffenen.
a) Diese ist nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erforderlich, wenn gegen den Ausländer öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungs-verfahren eingeleitet worden ist. Liegt die Zustimmung nicht vor, sind die An-ordnung und der Vollzug einer nur zur Sicherung der Abschiebung zulässigen Haft nach § 62 Abs. 2
[X.] aF (jetzt §
62 Abs. 3) rechtswidrig und verlet-zen den Ausländer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (Senats-beschlüsse vom 16. Juni 2010 -
V
ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 Rn. 8, vom 5
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20.
Januar 2011 -
V
ZB 226/10, [X.] 2011, 144, 145 Rn.
22 und vom [X.] -
V
ZB 224/10, [X.] 2011, 148, 149 Rn. 14 f. -
std. Rspr.).
aa) Die Abschiebungshaft hätte danach am 18. Oktober 2010 nicht [X.] werden dürfen. In diesem Zeitpunkt war ein strafrechtliches Ermitt-lungsverfahren eingeleitet worden, wofür die polizeiliche Vernehmung des Be-troffenen als Beschuldigten wegen des Verdachts einer Straftat nach §
95 Abs.
1 [X.] ausreicht (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2011 -
V
ZB 224/10, [X.] 2011, 148, 149 Rn. 10). Das nach §
72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft mit der Ab-schiebung des Betroffenen lag jedoch (noch) nicht vor.
bb) Ob dies -
wie die Rechtsbeschwerde meint -
bereits zu einer von Amts wegen zu beachtenden Unzulässigkeit des [X.] führte, was vo-raussetzt, dass sich aus dem Haftantrag oder den beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass gegen den Ausländer ein strafrechtliches Ermittlungsver-fahren eingeleitet worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2011 -
V
ZB 224/10, [X.] 2011, 148, 149 Rn. 7), kann hier dahinstehen. Die Verletzung des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist nämlich, wenn sie im Rechtsbeschwerde-verfahren gerügt wird, unabhängig davon zu berücksichtigen, ob der [X.] bei der Anordnung der Abschiebungshaft Anhaltspunkte für eine diesbezügliche Prüfung hatte oder ob die den Haftantrag stellende Behörde es pflichtwidrig [X.] hat, in dem Haftantrag auf das schwebende Ermittlungsverfahren hin-zuweisen (Senatsbeschluss vom 29. September 2011 -
V
ZB 173/11, NVwZ 2012, 62 Rn. 4).
cc) Die Rüge der Verletzung des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist [X.], weil -
entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts
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Abschiebungs-haft auch dann nicht ohne das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der 9
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Abschiebung des Ausländers angeordnet werden darf, wenn diese (noch) keine Kenntnis von dem durch die Polizei eingeleiteten Ermittlungsverfahren hat. Maßstab für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Frei-heitsgrundrecht des Ausländers ist die Gesetzeslage. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Ausländers von der Einleitung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens an und nicht erst nach der Vorlage der Akten durch die Polizei an die Staatsan-waltschaft (§
163 Abs. 2 StPO) erforderlich. Die Zulässigkeit der Anordnung von Abschiebungshaft hängt nicht von solchen Zufälligkeiten im Ablauf eines [X.] ab (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2011 -
V
ZB 224/10, [X.] 2011, 148, 150 Rn.17). Unwägbarkeiten im Hinblick auf die Umstände, die zur Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme ausgeräumt wer-den müssen, können nicht hingenommen werden, wenn sie -
wie es bei der Einholung des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft der Fall ist
-
von deut-schen Behörden zu beherrschen sind (Senatsbeschluss vom 10. Februar 2011 -
V
ZB 49/10, Rn. 8, juris). Ist die Einholung der Zustimmung der [X.] -
auch unter Einschaltung des Bereitschaftsdienstes
-
ausnahmsweise nicht möglich, kommt allein die Anordnung einer kurzzeitigen vorläufigen Inge-wahrsamnahme nach §
427 FamFG in Betracht (Senatsbeschluss vom 10. Feb-ruar 2011 -
V
ZB 49/10, aaO).
b) Eine -
wegen Fehlens des erforderlichen Einvernehmens der zustän-digen Staatsanwaltschaft
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zunächst rechtswidrige Haft kann jedoch (mit [X.] für den weiteren Vollzug) rechtmäßig werden, wenn die Strafverfolgungs-behörde ihre Zustimmung nach der Haftanordnung erteilt und dem Betroffenen auch zu dieser Haftvoraussetzung gemäß
Art.
103 Abs. 1 GG das rechtliche Gehör gewährt wird (Senatsbeschluss vom 29. September 2011 -
V
ZB 173/11, NVwZ 2012, 62 Rn. 4). Das ist hier am 4. November 2010 erfolgt. Die [X.] hat an diesem Tag ihr Einvernehmen mit der Abschiebung erteilt; 12
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das rechtliche Gehör ist dem Betroffenen durch die Mitteilung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft seitens des Vorsitzenden der [X.] mit der Anheimgabe einer Stellungnahme gewährt worden, die auch am folgenden Tag bei dem Beschwerdegericht eingegangen ist.
2. Der Feststellungsantrag ist jedoch auch für den nachfolgenden Zeit-raum vom 5. November 2010 bis zur Abschiebung des Betroffenen am 7. De-zember 2010 begründet. Die Rechtsbeschwerde beanstandet mit Erfolg einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, weil die Abschiebung erst über ei-nen Monat später als ursprünglich vorgesehen durchgeführt worden ist.
a) Die Ausländerbehörde hat die Abschiebung gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben, damit die Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt bleibt (vgl. [X.] vom 10. Juni 2010 -
V [X.], NVwZ 2010, 1172, 1173 Rn. 21 und vom 18. August 2010 -
V [X.], Rn. 18, juris). Bei der Umsetzung der Ab-schiebung steht ihr allerdings ein organisatorischer Spielraum zu (vgl. [X.] vom 21. Oktober 2010 -
V
ZB 56/10, Rn. 13, juris).
b) Vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden -
und von der Rechts-beschwerde auch nicht angegriffen
-
ist der Ausgangspunkt der Entscheidung, dass der Betroffene angesichts seiner unerlaubten Einreisen in das [X.] unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot nach §
11 Abs. 1 Satz 1 [X.] die Verzögerungen hinzunehmen hatte, die mit der Rückführung in Begleitung eines Polizeibeamten und mit einem Ersuchen an die nach §
71 Abs.
3 Nr.
1 [X.] dafür (auch) zuständige Bundespolizei (HK-AuslR/[X.], Auslän-derrecht, § 71 [X.] Rn. 14) zwangsläufig verbunden waren.
c) Die Verzögerung der Abschiebung soll jedoch nicht allein darauf, son-dern auf einer zeitweisen Überlastung der [X.] und der Länder 13
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durch den Schutz eines Atommülltransports beruht haben. Das musste der Be-troffene nicht hinnehmen.
Der Ausländerbehörde ist es nicht erlaubt, wegen einer Überlastung der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen staatlichen Stelle den [X.] länger als für eine Abschiebung unbedingt erforderlich in Haft zu halten. Angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz
2 GG) vermag eine nicht nur ganz kurzfristige Überlastung der zuständi-gen Stelle einen weiteren Vollzug der Haft selbst dann nicht zu legitimieren, wenn sie auf einem außerordentlichen Geschäftsanfall beruht (vgl. [X.], NJW 2003, 2895, 2896 -
zur Untersuchungshaft). Vor
diesem Hintergrund [X.] es einen ungerechtfertigten Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffe-nen dar, wenn dieser wegen einer besonderen Belastung der Polizei durch ei-nen Großeinsatz noch mehr als einen Monat nach dem für die Abschiebung ursprünglich vorgesehenen Termin in Haft verbringen musste.

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IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
81 Abs.
1, §
83 Abs.
2, §
430
FamFG, §
128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, den [X.] zur Erstattung der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.
Krüger
Lemke
Schmidt-Räntsch

Stresemann
Czub
Vorinstanzen:
AG [X.], Entscheidung vom [X.] -
246 [X.] -

LG [X.], Entscheidung vom 09.12.2010 -
11 T 711/10 -

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Meta

V ZB 320/10

16.02.2012

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.02.2012, Az. V ZB 320/10 (REWIS RS 2012, 9025)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9025

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