Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.02.2012, Az. V ZB 320/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 9018

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Gegenstand

Rechtsbeschwerde im Abschiebungshaftverfahren: Haftverlängerung wegen Personalknappheit


Tenor

Auf die Rechtsmittel des Betroffenen wird der Beschluss der 11. Zivilkammer des [X.] vom 9. Dezember 2010 aufgehoben und festgestellt, dass die Anordnung der Abschiebungshaft in dem Beschluss des [X.] vom 18. Oktober 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in den Rechtsmittelverfahren werden dem [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert beträgt für die Rechtsmittelverfahren 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein kosovarischer Staatsangehöriger, reiste erstmalig 1998 nach [X.] ein. Da sein Asylantrag keinen Erfolg hatte, wurde er mit Fristsetzung zur Ausreise aufgefordert und ihm die Abschiebung angedroht. Diese Entscheidung ist seit Februar 1999 bestandskräftig.

2

Im September 2005 wurde er nach [X.]/[X.] abgeschoben. Im Juni 2006 wurde er erneut in [X.] aufgegriffen und im Juli 2006 nach [X.] abgeschoben. Nachdem er wiederum in [X.] aufgegriffen worden war, wurde ihm eine Grenzübertrittsbescheinigung mit der Auflage ausgehändigt, [X.] bis zum 5. Dezember 2008 zu verlassen. Dem kam er nicht nach. Am 18. Oktober 2010 wurde er in [X.] festgenommen.

3

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 (Ausländerbehörde) hat das Amtsgericht am gleichen Tag die Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von höchstens drei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Der Betroffene ist am 7. Dezember 2010 in den [X.] abgeschoben worden. Das [X.] hat die sofortige Beschwerde mit dem Antrag, die Verletzung des Betroffenen in seinen Rechten festzustellen, zurückgewiesen. Gegen den Beschluss wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er seinen Feststellungsantrag weiter verfolgt.

II.

4

Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, dass die Inhaftierung des Betroffenen nicht wegen eines Verstoßes gegen § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] rechtswidrig gewesen sei. Eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung des Betroffenen sei nicht erforderlich gewesen, weil das bei der Festnahme eingeleitete polizeiliche Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft noch nicht bekannt gewesen sei. Vorher sei dieser die Erklärung ihres Einvernehmens nicht möglich und diese daher für den Erlass der Anordnung von [X.] auch nicht erforderlich.

5

Es liege auch kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor. Die Beteiligte zu 2 habe für die Rückführung des Betroffenen eine Sicherheitsbegleitung für erforderlich halten dürfen. Im Hinblick auf den „[X.]“ hätten jedoch Anfang November 2010 keine personellen Kapazitäten für eine Sicherheitsbegleitung zur Verfügung gestanden. Verzögerungen aus solchen Extremsituationen habe der Betroffene als Konsequenz aus seinen strafbaren Verstößen gegen ausländerrechtliche Vorschriften zu tragen.

III.

6

Die Rechtsbeschwerde, die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - [X.], [X.] 2011, 27 Rn. 4) und auch im Übrigen zulässig (§ 71 FamFG) ist, hat Erfolg, weil der Betroffene durch die Anordnung und den Vollzug der Abschiebungshaft in seinem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt worden ist.

7

1. Für den Zeitraum vom 18. Oktober 2010 bis zum 4. November 2010 ergibt sich die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die Haftanordnung bereits aus dem Fehlen des Einvernehmens der zuständigen Staatsanwaltschaft mit einer Abschiebung des Betroffenen.

8

a) Diese ist nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erforderlich, wenn gegen den Ausländer öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Liegt die Zustimmung nicht vor, sind die Anordnung und der Vollzug einer nur zur Sicherung der Abschiebung zulässigen Haft nach § 62 Abs. 2 [X.] aF (jetzt § 62 Abs. 3) rechtswidrig und verletzen den Ausländer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (Senatsbeschlüsse vom 16. Juni 2010 - [X.], NVwZ 2010, 1574 Rn. 8, vom 20. Januar 2011 - [X.], [X.] 2011, 144, 145 Rn. 22 und vom 3. Februar 2011 - [X.], [X.] 2011, 148, 149 Rn. 14 f. - std. Rspr.).

9

aa) Die Abschiebungshaft hätte danach am 18. Oktober 2010 nicht angeordnet werden dürfen. In diesem Zeitpunkt war ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, wofür die polizeiliche Vernehmung des Betroffenen als Beschuldigten wegen des Verdachts einer Straftat nach § 95 Abs. 1 [X.] ausreicht (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2011 - [X.], [X.] 2011, 148, 149 Rn. 10). Das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Betroffenen lag jedoch (noch) nicht vor.

bb) Ob dies - wie die Rechtsbeschwerde meint - bereits zu einer von Amts wegen zu beachtenden Unzulässigkeit des [X.] führte, was voraussetzt, dass sich aus dem Haftantrag oder den beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass gegen den Ausländer ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2011 - [X.], [X.] 2011, 148, 149 Rn. 7), kann hier dahinstehen. Die Verletzung des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist nämlich, wenn sie im Rechtsbeschwerdeverfahren gerügt wird, unabhängig davon zu berücksichtigen, ob der [X.] bei der Anordnung der Abschiebungshaft Anhaltspunkte für eine diesbezügliche Prüfung hatte oder ob die den Haftantrag stellende Behörde es pflichtwidrig unterlassen hat, in dem Haftantrag auf das schwebende Ermittlungsverfahren hinzuweisen (Senatsbeschluss vom 29. September 2011 - [X.], NVwZ 2012, 62 Rn. 4).

cc) [X.] der Verletzung des § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist begründet, weil - entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts - Abschiebungshaft auch dann nicht ohne das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Ausländers angeordnet werden darf, wenn diese (noch) keine Kenntnis von dem durch die Polizei eingeleiteten Ermittlungsverfahren hat. Maßstab für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Ausländers ist die Gesetzeslage. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Ausländers von der Einleitung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens an und nicht erst nach der Vorlage der Akten durch die Polizei an die Staatsanwaltschaft (§ 163 Abs. 2 StPO) erforderlich. Die Zulässigkeit der Anordnung von Abschiebungshaft hängt nicht von solchen Zufälligkeiten im Ablauf eines Ermittlungsverfahrens ab (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Februar 2011 - [X.], [X.] 2011, 148, 150 Rn.17). Unwägbarkeiten im Hinblick auf die Umstände, die zur Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme ausgeräumt werden müssen, können nicht hingenommen werden, wenn sie - wie es bei der Einholung des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft der Fall ist - von [X.] Behörden zu beherrschen sind (Senatsbeschluss vom 10. Februar 2011 - [X.], Rn. 8, juris). Ist die Einholung der Zustimmung der Staatsanwaltschaft - auch unter Einschaltung des Bereitschaftsdienstes - ausnahmsweise nicht möglich, kommt allein die Anordnung einer kurzzeitigen vorläufigen Ingewahrsamnahme nach § 427 FamFG in Betracht (Senatsbeschluss vom 10. Februar 2011 - [X.], aaO).

b) Eine - wegen Fehlens des erforderlichen Einvernehmens der zuständigen Staatsanwaltschaft - zunächst rechtswidrige Haft kann jedoch (mit Wirkung für den weiteren Vollzug) rechtmäßig werden, wenn die Strafverfolgungsbehörde ihre Zustimmung nach der Haftanordnung erteilt und dem Betroffenen auch zu dieser Haftvoraussetzung gemäß Art. 103 Abs. 1 GG das rechtliche Gehör gewährt wird (Senatsbeschluss vom 29. September 2011 - [X.], NVwZ 2012, 62 Rn. 4). Das ist hier am 4. November 2010 erfolgt. Die Staatsanwaltschaft hat an diesem Tag ihr Einvernehmen mit der Abschiebung erteilt; das rechtliche Gehör ist dem Betroffenen durch die Mitteilung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft seitens des Vorsitzenden der [X.] mit der Anheimgabe einer Stellungnahme gewährt worden, die auch am folgenden Tag bei dem Beschwerdegericht eingegangen ist.

2. Der Feststellungsantrag ist jedoch auch für den nachfolgenden Zeitraum vom 5. November 2010 bis zur Abschiebung des Betroffenen am 7. Dezember 2010 begründet. Die Rechtsbeschwerde beanstandet mit Erfolg einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, weil die Abschiebung erst über einen Monat später als ursprünglich vorgesehen durchgeführt worden ist.

a) Die Ausländerbehörde hat die Abschiebung gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben, damit die Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt bleibt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. Juni 2010 - [X.], NVwZ 2010, 1172, 1173 Rn. 21 und vom 18. August 2010 - [X.] 119/10, Rn. 18, juris). Bei der Umsetzung der Abschiebung steht ihr allerdings ein organisatorischer Spielraum zu (vgl. Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2010 - [X.] 56/10, Rn. 13, juris).

b) Vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden - und von der Rechtsbeschwerde auch nicht angegriffen - ist der Ausgangspunkt der Entscheidung, dass der Betroffene angesichts seiner unerlaubten Einreisen in das [X.] unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 [X.] die Verzögerungen hinzunehmen hatte, die mit der Rückführung in Begleitung eines Polizeibeamten und mit einem Ersuchen an die nach § 71 Abs. 3 Nr. 1 [X.] dafür (auch) zuständige Bundespolizei (HK-AuslR/[X.], Ausländerrecht, § 71 [X.] Rn. 14) zwangsläufig verbunden waren.

c) Die Verzögerung der Abschiebung soll jedoch nicht allein darauf, sondern auf einer zeitweisen Überlastung der [X.] und der Länder durch den Schutz eines Atommülltransports beruht haben. Das musste der Betroffene nicht hinnehmen.

Der Ausländerbehörde ist es nicht erlaubt, wegen einer Überlastung der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen staatlichen Stelle den Ausländer länger als für eine Abschiebung unbedingt erforderlich in Haft zu halten. Angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) vermag eine nicht nur ganz kurzfristige Überlastung der zuständigen Stelle einen weiteren Vollzug der Haft selbst dann nicht zu legitimieren, wenn sie auf einem außerordentlichen Geschäftsanfall beruht (vgl. [X.], NJW 2003, 2895, 2896 - zur Untersuchungshaft). Vor diesem Hintergrund stellte es einen ungerechtfertigten Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen dar, wenn dieser wegen einer besonderen Belastung der Polizei durch einen Großeinsatz noch mehr als einen Monat nach dem für die Abschiebung ursprünglich vorgesehenen Termin in Haft verbringen musste.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, den Landkreis [X.] zur Erstattung der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.

[X.]                                     Schmidt-Räntsch

                     Stresemann                                  [X.]

Meta

V ZB 320/10

16.02.2012

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Osnabrück, 9. Dezember 2010, Az: 11 T 711/10

§ 11 Abs 1 S 1 AufenthG, § 62a AufenthG, § 72 Abs 4 S 1 AufenthG, § 95 Abs 1 AufenthG, Art 2 Abs 2 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.02.2012, Az. V ZB 320/10 (REWIS RS 2012, 9018)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9018

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