Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.06.2015, Az. VI R 31/14

6. Senat | REWIS RS 2015, 9507

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Gegenstand

Außergewöhnliche Belastungen bei Unterbringung einer Jugendlichen in einer Einrichtung der Jugendhilfe


Leitsatz

1. Für den Begriff der "Behinderung" i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV ist auf § 2 Abs. 1 SGB IX abzustellen. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist .

2. Ob im Einzelfall eine Behinderung i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX vorliegt, hat das FG aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen .

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des [X.] vom 27. November 2013  7 K 69/12 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob [X.]ufwendungen für die vollstationäre Unterbringung einer Jugendlichen in einer Einrichtung der Jugendhilfe als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abziehbar sind.

2

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten und wurden in den Streitjahren 2009 und 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

3

Die im Jahr 1994 geborene Tochter [X.] der Kläger litt seit längerem an einer einfachen Störung der Konzentration und [X.]ufmerksamkeit (F90.0, Liste der Internationalen Klassifikation der Krankheiten --[X.]--) sowie an einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8, [X.]; vgl. Befundbericht des [X.] vom 16. Oktober 2007 sowie jugendpsychiatrischer Befundbericht der [X.] Jugendklinik vom 17. [X.]pril 2009). [X.] befand sich Ende 2006 in jugendpsychiatrischer Behandlung. Nachdem es im häuslichen Bereich aufgrund aggressiven Verhaltens von [X.] zu massiven Schwierigkeiten gekommen war, erfolgte in der [X.] von März 2007 bis Juni 2007 eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung. Eine weitere stationäre jugendpsychiatrische Beobachtung und Behandlung fand von November 2008 bis Januar 2009 statt. Seit Januar 2009 war die Tochter in einer betreuten Mädchenwohngruppe untergebracht. Der Landkreis gewährte vollstationäre Jugendhilfe nach dem [X.]chten Buch Sozialgesetzbuch ([X.]) durch Übernahme der [X.]. Nach Überprüfung der Einkommensverhältnisse der Kläger setzte der Landkreis einen Kostenbeitrag gemäß §§ 91 ff. [X.] für das [X.] in Höhe von 7.151,52 € und für das [X.] in Höhe von 7.842 € fest.

4

Mit ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre beantragten die Kläger, den vom Landkreis festgesetzten Kostenbeitrag als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 [X.]bs. 1 EStG anzuerkennen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --F[X.]--) berücksichtigte diese [X.]ufwendungen nicht. Die Einsprüche der Kläger wies das F[X.] zurück, weil ein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amts- oder vertrauensärztliches Gutachten nicht vorgelegt worden sei.

5

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrten die Kläger die Berücksichtigung ihrer [X.]ufwendungen nach [X.]bzug einer Haushaltsersparnis in Höhe von 5.183,52 € (2009) bzw. 5.874 € (2010) als außergewöhnliche Belastungen. Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage ab.

6

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

7

Sie beantragen,
das Urteil des Niedersächsischen [X.] vom 27. November 2013  7 K 69/12 aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide 2009 und 2010 i.d.F. der [X.] vom 16. März 2012 dahingehend abzuändern, dass für 2009 außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 5.183,52 € und für 2010 in Höhe von 5.874 € einkommensmindernd berücksichtigt werden.

8

Das F[X.] beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Nach den Feststellungen des [X.] kann nicht abschließend entschieden werden, ob die Tochter der Kläger vor [X.]eginn der fraglichen Heilmaßnahme an einer "anderen [X.]ehinderung" i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. [X.] (EStDV) litt.

1. Nach § 33 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche [X.]elastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen [X.]etrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (u.a. Urteil des [X.] --[X.]-- vom 29. September 1989 III R 129/86, [X.], 380, [X.] 1990, 418).

a) In ständiger Rechtsprechung geht der [X.] davon aus, dass Krankheitskosten --ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der [X.] dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit (z.[X.]. Medikamente, [X.]) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl ([X.]-Urteile vom 17. Juli 1981 VI R 77/78, [X.]E 133, 545, [X.] 1981, 711; vom 13. Februar 1987 III R 208/81, [X.]E 149, 222, [X.] 1987, 427, und vom 20. März 1987 III R 150/86, [X.]E 149, 539, [X.] 1987, 596).

b) Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche [X.]elastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf ([X.]-Urteile vom 1. Februar 2001 III R 22/00, [X.]E 195, 144, [X.] 2001, 543, und vom 3. Dezember 1998 III R 5/98, [X.]E 187, 503, [X.] 1999, 227). Eine derart typisierende [X.]ehandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten ([X.]-Urteil in [X.]E 195, 144, [X.] 2001, 543). Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen werden (vgl. [X.]-Urteil vom 18. Juni 1997 III R 84/96, [X.]E 183, 476, [X.] 1997, 805), also medizinisch indiziert sind (Senatsurteil vom 19. April 2012 VI R 74/10, [X.]E 237, 156, [X.] 2012, 577).

c) Die Zwangsläufigkeit von krankheitsbedingten Aufwendungen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel (§§ 2, 23, 31 bis 33 des [X.]) hat der Steuerpflichtige durch eine Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers nachzuweisen (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV). In den abschließend geregelten Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV (vgl. Senatsurteile vom 6. Februar 2014 VI R 61/12, [X.]E 244, 395, [X.] 2014, 458, und vom 26. Februar 2014 VI R 27/13, [X.]E 245, 18, [X.] 2014, 824) ist der Nachweis der Zwangsläufigkeit durch ein vor [X.]eginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche [X.]escheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 [X.]) zu führen (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStDV).

d) Nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. [X.] ist solch ein qualifizierter Nachweis auch bei krankheitsbedingten Aufwendungen für eine medizinisch erforderliche auswärtige Unterbringung eines an Legasthenie oder einer anderen [X.]ehinderung leidenden Kindes des Steuerpflichtigen zu erbringen.

e) Die in § 84 Abs. 3f EStDV angeordnete rückwirkende Geltung des § 64 EStDV auf alle Fälle, in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist (Senatsurteil in [X.]E 237, 156, [X.] 2012, 577), begegnet vorliegend auch für das Streitjahr 2010 keinen verfassungsrechtlichen [X.]edenken.

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die in § 84 Abs. 3f EStDV angeordnete rückwirkende Geltung des § 64 EStDV verfassungsrechtlich unbedenklich, da es dem Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht verwehrt ist, eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprach, wie es vorliegend der Fall war (Senatsurteil in [X.]E 237, 156, [X.] 2012, 577). Zwar hat der erkennende Senat ausdrücklich offen gelassen, ob und inwieweit anderes für die [X.] nach dem Ergehen der Urteile des [X.] vom 11. November 2010 ([X.], [X.]E 232, 34, [X.] 2011, 966, und VI R 17/09, [X.]E 232, 40, [X.] 2011, 969) bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss am 1. November 2011 bzw. der Verkündung des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 am 4. November 2011 ([X.], 2131) oder jedenfalls bis zur entsprechenden Gesetzesinitiative --hier der Prüfbitte des [X.]undesrates vom 18. März 2011-- gilt (Senatsurteil in [X.]E 237, 156, [X.] 2012, 577). Darauf kommt es im Streitfall --obwohl hier zumindest auch der Veranlagungszeitraum 2010 betroffen [X.] jedoch nicht an. Denn ein Verzicht auf die Einholung eines amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens im Vertrauen auf die geänderte Rechtsprechung des erkennenden Senats vom 11. November 2010 (Senatsurteile in [X.]E 232, 34, [X.] 2011, 966, und in [X.]E 232, 40, [X.] 2011, 969) kommt hier schon deshalb nicht in [X.]etracht, weil die Tochter der Kläger bereits seit Januar 2009 in der betreuten Mädchenwohngruppe untergebracht war. Zu diesem [X.]punkt entsprach es sowohl der höchstrichterlichen Rechtsprechung ([X.]-Urteil vom 21. April 2005 III R 45/03, [X.]E 209, 365, [X.] 2005, 602) als auch der Verwaltungspraxis (R 33.4 der Einkommensteuer-Richtlinien 2008), dass im Falle einer auswärtigen Unterbringung eines verhaltensauffälligen Jugendlichen in einer Wohngruppe ein vor [X.]eginn der Unterbringung erstelltes amts- bzw. vertrauensärztliches Gutachten zur Anerkennung der Aufwendungen als außergewöhnliche [X.]elastungen notwendig war.

2. Vorliegend ist daher entscheidend, ob bei der Tochter der Kläger eine "andere [X.]ehinderung" vorlag und daher die [X.] des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. [X.] zu erfüllen waren.

a) Für den [X.]egriff der "[X.]ehinderung" i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. [X.] ist auf § 2 Abs. 1 des Neunten [X.] ([X.]) abzustellen (Senatsurteil vom 15. Januar 2015 VI R 85/13, [X.]E 249, 114, [X.] 2015, 586 Rz 14, m.w.N.; vgl. auch [X.] in [X.], 3. Aufl., § 2 Rz 1 und 11; [X.], in: jurisPK-[X.], § 2 Rz 38 zur [X.]edeutung des § 2 Abs. 1 [X.] für die gesamte Rechtsordnung bzw. für das Einkommensteuergesetz). Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt ist.

Zur Feststellung einer [X.]ehinderung i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. [X.] i.V.m. § 2 Abs. 1 [X.] kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich im Rahmen der [X.] beschrieben werden ([X.], a.a.[X.], § 2 Rz 20; so explizit auch § 35a Abs. 1a Satz 2 [X.]III).

Da Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 [X.]III Kinder und Jugendliche erhalten können, deren seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit für länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt ist bzw. eine [X.]eeinträchtigung zu erwarten ist, kommt im Streitfall die Anwendung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. [X.] wegen einer seelischen [X.]ehinderung in [X.]etracht.

aa) Seelisch behindert ist, wer infolge seelischer Störung in der Funktionsfähigkeit entsprechend gemindert ist. Als solche seelische Störungen kommen körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge von Krankheit oder Verletzung des Gehirns, Anfallsleiden oder körperliche [X.]eeinträchtigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen in [X.]etracht ([X.], a.a.[X.], § 2 Rz 24; [X.] in: [X.]/[X.]/Majerski-[X.], [X.], 12. Aufl., § 2 Rz 11).

bb) Eine [X.]ehinderung nach § 2 Abs. 1 [X.] setzt zudem eine mehr als sechs Monate sich erstreckende Gesundheitsstörung voraus. Entscheidend ist insoweit nicht die seit [X.]eginn der Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene [X.], sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung (Urteil des [X.] --[X.]SG-- vom 12. April 2000 [X.] 9 S[X.] 3/99 R, Sozialrecht 3-3870 § 3 Nr. 9).

cc) Die (seelische) Gesundheit muss nach § 2 Abs. 1 [X.] außerdem "von dem für das Lebensalter typischen Zustand" abweichen. Leistungseinschränkungen, die für das jeweilige Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind, stellen danach keine [X.]ehinderung dar ([X.]TDrucks 10/3138, 16 zu § 2a des Schwerbehindertengesetzes). Gerade bei Kindern ist zur Feststellung einer [X.]ehinderung die Abgrenzung altersadäquater Gesundheitszustände notwendig. Erforderlich ist insoweit ein Vergleich der körperlichen, geistigen bzw. seelischen Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht behinderten Kindes ([X.] vom 12. Februar 1997  9 RVs 1/95, [X.], 97).

dd) Schließlich besteht eine [X.]ehinderung i.S. des § 2 Abs. 1 [X.] nur dann, wenn "daher", also in Folge der seelischen Störung, die Teilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt ist. Eine seelische Störung allein genügt gerade nicht für die Annahme einer seelischen [X.]ehinderung. Hinzukommen muss vielmehr die [X.]eeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die [X.]. Es kommt dabei auf das Ausmaß und den Grad der seelischen Störung an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach [X.]reite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die [X.] beeinträchtigt (Urteil des [X.] vom 26. November 1998  5 [X.] 38/97, [X.] 436.511 § 35a [X.]/ [X.]III Nr. 1; Urteil des [X.] --VGH-- vom 4. Mai 2010  10 A 1623/09, juris; [X.] in [X.], [X.], § 35a Rz 5 und 8). Hierzu ist aufgrund einer umfassenden Kenntnis des [X.] Umfelds des betroffenen Kindes oder Jugendlichen nach [X.] und gegebenenfalls psychologischem Sachverstand zu beurteilen, wie sich die Funktionsbeeinträchtigung im Hinblick auf die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der [X.] auswirkt. Sofern eine fachärztliche bzw. -therapeutische Stellungnahme zum Vorliegen einer seelischen Gesundheitsstörung auch Aussagen zur Frage einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung umfasst, sind diese bei der [X.]eurteilung angemessen zu berücksichtigen ([X.]eschluss des [X.] vom 11. Juni 2008  4 ME 184/08, Neue [X.]schrift für Verwaltungsrecht - [X.] 2008, 792).

b) Ob im Einzelfall eine [X.]ehinderung vorliegt, hat das [X.] --nach Maßgabe des oben benannten [X.] und-- aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen (vgl. Senatsurteil vom 26. Juni 2014 VI R 51/13, [X.]E 246, 326, [X.] 2015, 9, zur Auslegung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 [X.]uchst. f EStDV).

3. Im Streitfall tragen die tatsächlichen Feststellungen des [X.] nicht dessen Würdigung, dass die Tochter der Kläger an einer "anderen (seelischen) [X.]ehinderung" litt.

a) Zwar ist die Würdigung des [X.], dass bei der Tochter der Kläger eine [X.]eeinträchtigung der seelischen Gesundheit vorliegt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) In den [X.] des [X.] vom 16. Oktober 2007 und der [X.] vom 17. April 2009 werden eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) und die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) diagnostiziert. Diese [X.]efunde sind in der [X.] unter Kapitel V in der Kategorie "Psychische und Verhaltensstörungen", Unterkategorie "Verhaltens- und emotionale Störungen mit [X.]eginn in der Kindheit und Jugend" (F90-F98) aufgeführt. Die Würdigung des [X.], dass die Tochter der Kläger an einer erheblichen [X.]eeinträchtigung der seelischen Gesundheit leidet, ist daher nachvollziehbar.

bb) Nicht zu beanstanden ist auch, dass das [X.] die Sechs-Monats-Grenze in § 2 Abs. 1 [X.] als überschritten angesehen hat. Aufgrund der in dem [X.]efundbericht der [X.] vom 17. April 2009 abgegebenen Empfehlung, dass aus "der derzeitigen Sicht" für die seelische Entwicklung der Jugendlichen ein Verbleib in der Einrichtung bis zum Ende der Schulzeit oder gegebenenfalls auch darüber hinaus sinnvoll erscheine, konnte das [X.] davon ausgehen, dass auch dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist.

b) Es fehlen jedoch nachvollziehbare Feststellungen des [X.] zu den weiteren Tatbestandsmerkmalen des § 2 Abs. 1 [X.], nämlich zu den Fragen, ob die seelische Gesundheit der Tochter der Kläger von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt bzw. droht.

Ob allein aggressive Neigungen und selbstschädigende Handlungen von Kindern und Jugendlichen --wie es die [X.]efundberichte der Tochter der Kläger [X.] als seelische [X.]ehinderung angesehen werden können, ist eine Frage des Einzelfalls ([X.], a.a.[X.], § 35a Rz 7). [X.]ei einer hyperkinetischen Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit (F90.0 [X.]), die nach den [X.] auch bei der Tochter der Kläger vorliegt, ist die Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand der seelischen Gesundheit nur zu bejahen, wenn es als [X.] zu einer weitergehenden seelischen Störung kommt, aufgrund derer die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen länger als sechs Monate von dem für sein Alter typischen Zustand abweicht ([X.]eschluss des [X.] vom 19. September 2011  12 [X.] 1040/11, juris; [X.], Urteil vom 4. Mai 2010  10 A 1623/09, juris). Auch muss festgestellt werden, ob die in den [X.] weiterhin diagnostizierte kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8 [X.]) eine in dem vorgenannten Sinne ausreichende weitergehende seelische Störung ist.

Die Sache ist nicht spruchreif. Im zweiten Rechtsgang wird das [X.] die erforderlichen Feststellungen, gegebenenfalls unter Heranziehung bereits vorliegender Unterlagen (insbesondere der [X.]efundberichte), Einholung eines Sachverständigengutachtens oder mittels Vernehmung der Personen, die die Tochter der Kläger untersucht und behandelt haben, treffen.

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI R 31/14

18.06.2015

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 27. November 2013, Az: 7 K 69/12, Urteil

§ 33 Abs 1 EStG 2009, § 33 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 64 Abs 1 Nr 1 EStDV 2000 vom 01.11.2011, § 64 Abs 1 Nr 2 S 1 Buchst c EStDV 2000 vom 01.11.2011, § 64 Abs 1 Nr 2 S 2 EStDV 2000 vom 01.11.2011, § 84 Abs 3f EStDV 2000 vom 01.11.2011, § 2 SGB 5, § 23 SGB 5, § 31 SGB 5, § 32 SGB 5, § 33 SGB 5, § 275 SGB 5, § 35a Abs 1a S 2 SGB 8, § 91 SGB 8, § 91ff SGB 8, Art 2 Abs 1 SGB 9, EStG VZ 2009, EStG VZ 2010, Art 20 Abs 3 GG, Art 2 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.06.2015, Az. VI R 31/14 (REWIS RS 2015, 9507)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 9507

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