Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.11.2019, Az. III R 44/17

3. Senat | REWIS RS 2019, 1110

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Gegenstand

Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind; Feststellung eines Gendefektes nach Vollendung des 27. Lebensjahres


Leitsatz

1. Für die Beurteilung des Merkmals "Behinderung" i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX enthaltene Legaldefinition in der im jeweiligen Streitzeitraum geltenden Fassung maßgeblich.

2. Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX i.d.F. bis 31.12.2017 setzt eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation voraus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und kausal zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt .

3. Alle drei Tatbestandsmerkmale des Behinderungsbegriffes müssen vor Vollendung der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG geregelten Altersgrenze eingetreten sein und zusätzlich auch während des Zeitraums bestehen, für den der Kindergeldanspruch geltend gemacht wird.

4. Eine drohende Behinderung erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.

5. Liegt bei einem Kind ein Gendefekt vor, der vor Erreichen der Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG zu keiner mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauernden Funktionsstörung und/oder zu keiner darauf beruhenden Teilhabebeeinträchtigung geführt hat, scheidet ein auf die Behinderung gestützter Kindergeldanspruch aus .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 12.01.2017 - 6 K 889/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015.

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater einer im August 1968 geborenen [X.]ochter ([X.]). [X.] leidet an einer Muskelerkrankung in Form der Myotonen Dystrophie Curschmann-Steinert. Hierbei handelt es sich um eine erblich bedingte Muskelerkrankung, bei der es zu einer langsam fortschreitenden Abnahme der Muskelkraft bei gleichzeitigem Vorliegen von so genannten myotonen Phänomenen kommt. Als myotone Phänomene bezeichnet man das Auftreten von Muskelsteifigkeit, z.B. beim festen Zupacken. Erste Symptome dieser Krankheit traten bei [X.] bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren auf. So gab es Probleme beim Laufen sowie beim Aufstehen aus der Hocke und es traten gelegentlich Versteifungen in ihrer Handmuskulatur auf. Die Erkrankung wurde aber zunächst nicht erkannt, Behandlungsversuche z.B. durch einen Orthopäden blieben erfolglos. Diagnostiziert wurde die Krankheit erst 1998, als sich [X.] einer gentechnischen Untersuchung unterzog. In den folgenden Jahren verstärkten sich die Symptome, insbesondere die Muskelschwäche in den Beinen. [X.]'s seit Juni 2005 gültiger Schwerbehindertenausweis wies zunächst einen Grad der Behinderung (GdB) von 50, verbunden mit dem [X.], aus. Seit März 2009 beträgt der GdB 100 und ist verbunden mit den [X.] und aG.

3

[X.] ist gelernte Bürokauffrau und befand sich bis zu einer betriebsbedingten Kündigung im Mai 2010 in einem Beschäftigungsverhältnis. Ein weiteres im September 2011 aufgenommenes Beschäftigungsverhältnis endete nach sieben [X.]agen, was nach Angaben der [X.] daran lag, dass sie die ihr übertragenen Aufgaben aufgrund ihrer Gehbehinderung nicht habe erfüllen können. Im August 2012 wurde [X.] rückwirkend ab Oktober 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt. Bis auf einen von August 2012 bis August 2013 ausgeübten Freiwilligendienst mit einer monatlichen Aufwandsentschädigung von 165 € war [X.] seither nicht mehr erwerbstätig.

4

Den Antrag des [X.] vom 11.08.2014, ihm ab Januar 2010 Kindergeld für [X.] zu gewähren, lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (die Familienkasse) mit [X.] vom 24.10.2014 ab. Zur Begründung verwies sie darauf, dass die Behinderung nicht, wie von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gefordert, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Der dagegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 19.03.2015).

5

Im anschließenden Klageverfahren wurde die Klage auf die Monate Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015 beschränkt, da nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten nur in diesen Monaten der notwendige Lebensbedarf der [X.] nicht durch die ihr zur Verfügung stehenden Mittel abgedeckt wurde.

6

Das Finanzgericht (FG) hielt die Klage in vollem Umfang für begründet und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für die Monate Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015 festzusetzen.

7

Mit der dagegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

8

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Das [X.] ([X.]) ist dem Verfahren beigetreten. Es unterstützt die Auffassung der Familienkasse.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Der Senat kann nach den bisherigen Feststellungen des [X.] nicht abschließend darüber entscheiden, ob die [X.]ehinderung der [X.] bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1 EStG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung besteht für ein Kind des Anspruchsberechtigten, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Kindergeldanspruch, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer [X.]ehinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung ist nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG, dass die [X.]ehinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.[X.] 2007 ([X.] 2007) vom [X.] ([X.], 1652) weiterhin die bisherige Altersgrenze (Vollendung des 27. Lebensjahres) gilt.

2. Das [X.] ist zu Recht davon ausgegangen, dass die kindergeldrechtliche [X.]erücksichtigung der [X.] eine vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene [X.]ehinderung voraussetzt.

a) Die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG vorgesehene Altersgrenze wurde zwar erst durch das Gesetz zur Familienförderung vom 22.12.1999 ([X.] 1999, 2552) ab dem Veranlagungszeitraum 2000 eingeführt und war damals auf das 27. Lebensjahr festgesetzt. Sie wurde nach der Rechtsprechung des [X.] --[X.]-- (Urteil vom 26.07.2001 - VI R 56/98, [X.], 161, [X.] 2001, 832), die an eine entsprechende Rechtsprechung des [X.]undessozialgerichts ([X.]SG) zum sozialrechtlichen Kindergeld anknüpfte ([X.] vom [X.] - 8/12 [X.] 7/77, [X.] 5780, § 2 Nr. 5, und vom 14.08.1984 - 10 [X.] 6/83, [X.] 5870, § 2 Nr. 35) aber bereits vor der gesetzlichen Festschreibung angewandt.

b) Durch das [X.] 2007 wurde die Altersgrenze auf das 25. Lebensjahr herabgesetzt. Gleichzeitig sah der Gesetzgeber aber in § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG eine Übergangsregelung vor. Danach ist die abgesenkte Altersgrenze erstmals für Kinder anzuwenden, die im Veranlagungszeitraum 2007 wegen einer vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen körperlichen, geistigen oder seelischen [X.]ehinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; für Kinder, die wegen einer vor dem 01.01.2007 in der [X.] ab der Vollendung des 25. Lebensjahres und vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretenen körperlichen, geistigen oder seelischen [X.]ehinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, ist weiter die frühere Altersgrenze anzuwenden.

c) Im Streitfall fällt [X.] in den Anwendungsbereich der Übergangsregelung. Sie wurde im August 1968 geboren und vollendete ihr 25. Lebensjahr im August 1993 und ihr 27. Lebensjahr im August 1995. Es reicht daher aus, wenn ihre [X.]ehinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

3. Weiter ist das [X.] hinsichtlich der Frage, welche Anforderungen an das Vorliegen einer [X.]ehinderung zu stellen sind, zu Recht vom [X.]ehinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1 des [X.] ([X.]) ausgegangen.

a) Nach der Rechtsprechung des [X.] ist für die [X.]eurteilung des Merkmals "[X.]ehinderung" i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] IX in der im Streitzeitraum geltenden Fassung enthaltene Legaldefinition maßgeblich. Danach ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine [X.]eilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt ist (z.[X.]. Senatsurteil vom 19.01.2017 - III R 44/14, [X.] --[X.]-- 2017, 412, Rz 16; [X.]-Urteile vom 23.02.2012 - V R 39/11, [X.]/NV 2012, 1584, Rz 22; vom 28.05.2013 - XI R 44/11, [X.]/NV 2013, 1409, Rz 14, m.w.[X.], und vom 21.10.2015 - XI R 17/14, [X.]/NV 2016, 190, Rz 27, m.w.[X.]).

b) Der [X.]ehinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SG[X.] IX i.d.F. bis 31.12.2017 ist somit dreigliedrig ([X.]/[X.], [X.] 2017, 572, 574). Er besteht aus

- einer für das Lebensalter untypischen gesundheitlichen Situation,

- die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und

- kausal zu einer [X.]eilhabebeeinträchtigung führt.

Dabei entspricht die dauerhaft altersuntypische Gesundheitsbeeinträchtigung einem im herkömmlichen, rein medizinischen Sinn zu verstehenden [X.]ehinderungsbegriff ([X.] vom 22.04.2015 - [X.] 3/14 R, [X.] 4-2500, § 33 Nr. 45, Rz 21, und vom 30.09.2015 - [X.] 14/14 R, [X.] 4-2500, § 33 Nr.  48, Rz 19; [X.]/[X.], [X.] 2017, 572, 573; [X.], [X.] 2017, 412). Demgegenüber stellt die [X.]eilhabebeeinträchtigung als Folge des [X.] eine Erweiterung des herkömmlichen [X.]ehinderungsbegriffs dar ([X.]SG-Urteil in [X.] 4-2500, § 33 Nr. 45, Rz 21), die auch eine Einbeziehung anderer, insbesondere soziologischer und pädagogischer [X.]eurteilungsmaßstäbe ermöglicht ([X.]SG-Urteil in [X.] 4-2500, §  33 Nr.  48, Rz 21; [X.]/[X.], [X.] 2017, 572, 574; [X.], [X.] 2017, 412; [X.] in Handkommentar zum [X.] --HK-SG[X.] [X.], 3. Aufl., § 2 Rz 33, der etwa auch auf arbeits- und pflegewissenschaftliche Expertise verweist). Der [X.]ehinderungsbegriff lässt sich daher nicht auf eine rein medizinische Frage reduzieren, sondern erfordert eine Differenzierung zwischen der Krankheitsbeschreibung, der Funktionsminderung und der [X.]eilhabebeeinträchtigung ([X.] in HK-SG[X.] IX, § 2 Rz 22).

c) Die gesundheitliche [X.]eeinträchtigung kann sich auf körperliche Funktionen, geistige Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit beziehen.

aa) Körperliche Funktionen sind nicht nur organisch und orthopädisch, sondern in umfassendem Sinn zu verstehen; sie schließen Störungen der Sinne (z.[X.]. Sehvermögen, Hörvermögen, Geruchs-, Geschmacks- und [X.]astsinn) und Empfindungen (z.[X.]. [X.]emperaturempfinden, Empfindlichkeit gegenüber anderen Reizen, Schmerz) ein, nicht jedoch [X.]eeinträchtigungen in der Körperstruktur, die sich auf Körperfunktionen nicht auswirken ([X.]/[X.], [X.] 2017, 618, 620, m.w.[X.]). Geistige Fähigkeiten sind in erster Linie intellektuelle und kognitive, wie Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Vorstellen, Erinnern und Urteilen, aber z.[X.]. auch [X.]ewusstsein sowie die mentale Funktion, [X.]ewegungshandlungen durchzuführen ([X.]/[X.], [X.] 2017, 618, 620, m.w.[X.]). Der [X.]egriff "seelische Gesundheit" bezieht sich nicht nur auf Krankheiten, sondern auch auf psychisch-funktionale Fähigkeiten wie Persönlichkeit (Selbstsicherheit und -vertrauen), psychische Energie, Antrieb, Psychomotorik, [X.]elastbarkeit und Emotionen ([X.]/[X.], [X.] 2017, 618, 620 f., m.w.[X.]).

bb) Die für das Vorliegen einer [X.]ehinderung erforderliche Funktionsstörung muss von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Unter dem für das jeweilige Lebensalter untypischen Zustand versteht der Gesetzgeber den Verlust oder die [X.]eeinträchtigung von normalerweise vorhandenen körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seelischer Gesundheit ([X.][X.]Drucks 14/5074, S. 98). Leistungseinschränkungen, die für das jeweilige Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind, stellen danach keine [X.]ehinderung dar ([X.][X.]Drucks 10/3138, S. 16 zu § 2a des Schwerbehindertengesetzes). Gerade bei Kindern ist zur Feststellung einer [X.]ehinderung die Abgrenzung altersadäquater Gesundheitszustände notwendig. Erforderlich ist insoweit ein Vergleich der körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht behinderten Kindes ([X.]-Urteil vom 18.06.2015 - VI R 31/14, [X.]E 251, 147, [X.] 2016, 40, Rz 23, m.w.[X.]).

cc) Zur Feststellung einer [X.]ehinderung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 SG[X.] IX kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten im Rahmen der [X.] beschrieben werden (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 251, 147, [X.] 2016, 40, Rz 19; [X.] in HK-SG[X.] IX, § 2 Rz 20; so explizit auch § 35a Abs. 1a Satz 2 des Achten [X.]uches Sozialgesetzbuch).

d) Mit dem Erfordernis, dass der altersuntypische Gesundheitszustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern muss, bezweckt der Gesetzgeber, vorübergehende Gesundheitsstörungen aus dem [X.]ehinderungsbegriff auszuschließen und damit nur [X.]eeinträchtigungen eines bestimmten Schweregrades zu erfassen ([X.] in HK-SG[X.] IX, § 2 Rz 27; s.a. [X.] in [X.]/[X.], § 2 SG[X.] IX Rz 5, wonach eine [X.]ehinderung vor allem durch eine dauerhafte und gravierende [X.]eeinträchtigung gekennzeichnet wird). Entscheidend ist insoweit nicht die seit [X.]eginn der Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene [X.], sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung ([X.]-Urteil in [X.]E 251, 147, [X.] 2016, 40, Rz 22). Zur [X.]eurteilung dieser Frage ist (ggf.) eine Prognose zur (weiteren) Entwicklung der Funktionsbeeinträchtigung zu stellen (Senatsurteil in [X.] 2017, 412, Rz 18, m.w.[X.]).

e) Für die Frage, ob in Folge des altersuntypischen gesundheitlichen Zustands die [X.]eilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt ist, kommt es auf das Ausmaß und den Grad der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsbeeinträchtigung an. Entscheidend ist, ob die [X.]eeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit nach [X.]reite, [X.]iefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die [X.] beeinträchtigt. Relevante [X.]eilhabebereiche ergeben sich aus der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, [X.]ehinderung und Gesundheit. Danach werden die [X.]ereiche Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und [X.]eziehungen, bedeutende Lebensbereiche (wozu insbesondere Erziehung und [X.]ildung, Arbeit und [X.]eschäftigung zu zählen sind) sowie gemeinschafts-, sozial- und staatsbürgerliches Leben unterschieden ([X.] in [X.]/[X.], § 2 SG[X.] IX Rz 8d, jeweils mit weiteren Anwendungsbeispielen). Die Prüfung einer [X.]eilhabebeeinträchtigung hat aufgrund einer umfassenden Kenntnis des [X.] Umfelds des betroffenen Kindes zu erfolgen, wobei ggf. neben medizinischem Sachverstand auch der anderer Wissensgebiete (insbesondere sozialpädagogischer und psychologischer Art) heranzuziehen ist (Senatsurteil in [X.] 2017, 412, Rz 20, m.w.[X.]). Danach darf eine [X.]eilhabehinderung bei Vorliegen einer Schädigung oder Funktionsbeeinträchtigung nicht einfach im Rahmen einer letztlich abstrakten [X.]etrachtungsweise in nahezu selbstverständlicher Weise unterstellt werden ([X.] in [X.]Voelzke, jurisPK-SG[X.] IX, § 2 SG[X.] IX Rz 90), sondern bedarf einer auf entsprechende tatsächliche Feststellungen gestützten [X.]egründung.

f) Entgegen der Auffassung des [X.] erfüllt eine drohende [X.]ehinderung nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm. Dieser fordert in Halbsatz 1 eine "[X.]ehinderung" und setzt zudem voraus, dass die [X.]ehinderung ursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist. Weiter erfordert Halbsatz 2, dass die [X.]ehinderung vor Vollendung der Altersgrenze "eingetreten ist" und nicht, dass sie zu diesem [X.]punkt nur droht. Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung. Denn § 32 EStG sieht nach seinem Absatz 3 vor, dass Kinder regelmäßig nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres im [X.] berücksichtigt werden. [X.]ei Kindern, die das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, geht der Gesetzgeber typisierend davon aus, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des steuerpflichtigen Elternteils nur noch unter besonderen Umständen gemindert ist (vgl. [X.]-Urteil vom [X.], [X.]E 142, 140, [X.] 1985, 91). Diese besonderen Voraussetzungen orientieren sich typisierend an bestimmten typischen Unterhaltssituationen. Solche können aber nur bei einer durch eine eingetretene [X.]ehinderung ausgelösten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt angenommen werden. Eine drohende [X.]ehinderung und eine daraus resultierende drohende Unfähigkeit zum Selbstunterhalt begründet indessen noch keine typische Unterhaltssituation für den betreffenden Elternteil. Dagegen orientieren sich sozialrechtliche Vorschriften, die wie § 2 Abs. 1 Satz 2 SG[X.] IX und § 53 Abs. 2 Satz 1 des Zwölften [X.]uches Sozialgesetzbuch (SG[X.] XII) von [X.]ehinderung bedrohte Menschen in den Kreis der Leistungsberechtigten einbeziehen, daran, dass mit den betreffenden Gesetzen insbesondere auch [X.] verfolgt werden (s. § 3 [X.], § 14 Abs. 1 SG[X.] XII; [X.] in HK-SG[X.] IX, § 2 Rz 20; [X.] in [X.]Voelzke, jurisPK-SG[X.] IX, § 2 SG[X.] IX Rz 102). Im Übrigen weist das [X.]MF zu Recht darauf hin, dass die Einführung der Altersgrenze nach der [X.]egründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Familienförderung ([X.][X.]Drucks 14/1513, S. 14) bezweckt habe, die kindergeldrechtliche [X.]erücksichtigung von Spätbehinderungen zu verhindern. Insbesondere sollte danach ausgeschlossen werden, dass z.[X.]. eine 80-jährige Mutter für ihren [X.], der im Alter von 60 Jahren einen Schlaganfall erleidet und pflegebedürftig wird, Kindergeld erhalten kann. Nichts anderes kann nach Überzeugung des Senats gelten, wenn sich der Schlaganfall auf genbedingt erhöhte Risikofaktoren zurückführen lässt.

4. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze ist das [X.] auf der [X.]asis seiner bisherigen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass bei [X.] vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine [X.]ehinderung eingetreten ist.

a) Das [X.] hat sich zunächst mit dem Vorliegen einer [X.]ehinderung im Streitzeitraum und damit in einem [X.]raum nach Vollendung des 27. Lebensjahres auseinandergesetzt. Insoweit hat es im Wesentlichen auf den seit 14.06.2005 gültigen Schwerbehindertenausweis und den seit 18.03.2009 auf 100 erhöhten Gd[X.] abgestellt. Für die Frage, ob die [X.]ehinderung vor dem im August 1995 vollendeten 27. Lebensjahr eingetreten ist, lässt sich aus diesen Feststellungen nichts ableiten.

b) Zur Frage, ob die [X.]ehinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, ging das [X.] zu Unrecht davon aus, dass bereits der angeborene Gendefekt als solcher die [X.]ehinderung darstellt.

aa) Insoweit wäre vielmehr zunächst die medizinische Feststellung erforderlich gewesen, dass der Gendefekt vor Erreichen der Altersgrenze zu einer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionsstörung geführt hat. [X.] eine genetisch bedingte Erkrankung Verlaufsformen auf, bei denen der [X.]eginn der Erkrankung nicht nur im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter, sondern auch im späteren Erwachsenenalter eintreten kann, bedarf es einer eingehenden Prüfung, ob bei dem betreffenden Kind eine Verlaufsform vorliegt, die bereits vor Erreichen der Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu einer [X.]eeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit geführt hat.

bb) Das [X.] führt insofern zwar zu Recht aus, dass es nicht darauf ankomme, ob die Krankheit --wie im Fall der [X.]-- erstmals nach Vollendung des 27. Lebensjahres diagnostiziert wird. Dies befreit das [X.] hingegen nicht davon, anhand der vorhandenen vor und nach Vollendung des 27. Lebensjahres erhobenen [X.]efunde und ggf. weiterer zu erhebender [X.]eweise zu überprüfen, ob die erforderlichen dauerhaften und gravierenden Funktionsbeeinträchtigungen schon vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sind. Soweit das [X.] bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene leichtere Symptome einer Erkrankung festgestellt hat, wären jedenfalls diese im Hinblick auf das Vorliegen einer für das Lebensalter untypischen gesundheitlichen Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern wird, zu würdigen gewesen.

cc) Nichts anderes ergibt sich aus der vom Kläger zitierten Passage aus dem [X.]-Urteil in [X.]E 251, 147, [X.] 2016, 40, Rz 22. Danach setzt eine [X.]ehinderung nach § 2 Abs. 1 SG[X.] IX eine sich auf mehr als sechs Monate erstreckende Gesundheitsstörung voraus, wobei insoweit nicht die seit [X.]eginn der Erkrankung oder gar die seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene [X.] entscheidend ist, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung. Denn soweit der Kläger hierauf bezogen ausführt, es sei unstreitig, dass sich die Gesundheitsstörung bei [X.] auf mehr als sechs Monate erstrecke, übersieht er, dass im Streitfall eine doppelte Prüfung des Vorliegens einer [X.]ehinderung erforderlich ist. Zum einen erfordert § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1 EStG die Prüfung, dass im Streitzeitraum, also in den Monaten Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015 eine [X.]ehinderung vorlag. Zum anderen verlangt § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG, dass bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine [X.]ehinderung eingetreten ist, was wiederum voraussetzt, dass bereits in diesem [X.]raum eine sich auf mehr als sechs Monate erstreckende Gesundheitsstörung vorgelegen haben muss.

dd) Soweit der Kläger ausführt, dass es nicht zu seinen Lasten gehen könne, dass der Gendefekt erst 1998 diagnostiziert und der Schwerbehindertenausweis erst 2005 ausgestellt worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger die Feststellungslast für die tatsächlichen Voraussetzungen des von ihm geltend gemachten Kindergeldanspruchs trägt. Dabei schließt die nach Erreichen der Altersgrenze erfolgte Diagnose jedoch nicht aus, dass aufgrund der vorhandenen [X.]efunde und ggf. weiterer Gutachten auch für die [X.] vor Vollendung des 27. Lebensjahres der Eintritt der [X.]ehinderungsvoraussetzungen festgestellt wird. [X.]. kommt nach § 152 Abs. 1 Satz 2 SG[X.] IX auch eine auf einen vor dem [X.]punkt der [X.]eantragung des [X.]ehindertenausweises festgelegte Feststellung des Gd[X.] in [X.]etracht.

c) Überdies hat das [X.] auch keine tragfähigen Feststellungen zu einer durch die Funktionsstörung verursachten [X.]eilhabebeeinträchtigung getroffen. Mangels konkreter Feststellung von nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigungen konnte sich das [X.] noch nicht näher mit der Frage auseinandersetzen, ob diese die für die Annahme einer [X.]ehinderung erforderlichen [X.]eilhabebeeinträchtigungen bedingten. Vielmehr führt es nur pauschal aus, dass [X.] aufgrund der leichteren Symptome noch nicht wesentlich in ihrer [X.]eilhabe am Leben in der [X.] beeinträchtigt gewesen sei.

Zu Unrecht hält es das [X.] in diesem Zusammenhang für unschädlich, dass eine [X.]eilhabebeeinträchtigung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eintritt. Denn die [X.]eilhabebeeinträchtigung ist ein Merkmal des [X.]ehinderungsbegriffes und nicht der als weiteres [X.]atbestandsmerkmal in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG geforderten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt. In den vom [X.] insoweit zitierten [X.] vom 09.06.2011 - III R 61/08 ([X.]E 234, 143, [X.] 2012, 141, Rz 17 ff.) und vom 04.08.2011 - III R 24/09 ([X.]/NV 2012, 199, Rz 17) wurde nur ausgeführt, dass die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nach Erreichen der Altersgrenze eintreten kann. Die [X.]ehinderung und mithin auch die [X.]eilhabebeeinträchtigung müssen nach diesen Entscheidungen --worauf das [X.]MF zu Recht hinweist-- dagegen bereits vor Erreichen der Altersgrenze vorgelegen haben.

5. Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Durch die Zurückverweisung erhält das [X.] die Möglichkeit, die erforderlichen Feststellungen zum Eintritt der [X.]ehinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres nachzuholen.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 44/17

27.11.2019

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Köln, 12. Januar 2017, Az: 6 K 889/15, Urteil

§ 62 EStG 2009, § 63 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2009, § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2009, § 52 Abs 40 S 5 EStG 2009 vom 19.07.2006, § 2 Abs 1 SGB 9, § 53 Abs 2 SGB 12, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012, EStG VZ 2013, EStG VZ 2014, EStG VZ 2015

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.11.2019, Az. III R 44/17 (REWIS RS 2019, 1110)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 1110

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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III R 24/09 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für ein über 27 (bzw. 25) Jahre altes behindertes Kind - kein gewillkürter Beteiligtenwechsel …


XI R 44/11 (Bundesfinanzhof)

Kindergeldanspruch für ein volljähriges, beeinträchtigtes Kind - Feststellungslast - Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Absenkung …


III R 19/19 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld; Feststellung der Fähigkeit volljähriger behinderter Kinder zum Selbstunterhalt


III R 47/08 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Unfähigkeit zum Selbstunterhalt eines studierenden Kindes, Nachweis der Behinderung eines Kindes


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