Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.01.2012, Az. V ZB 198/11, V ZB 199/11

5. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 10157

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Gegenstand

Wiedereinsetzung: Rechtsirrtum wegen inhaltlich unrichtiger Rechtsmittelbelehrung


Leitsatz

Ein durch eine inhaltlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung hervorgerufener Rechtsirrtum einer anwaltlich vertretenen Partei ist nicht verschuldet, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerden der Beklagten werden die Beschlüsse der 7. Zivilkammer des [X.] vom 19. Juli 2011 und vom 11. August 2011 aufgehoben.

Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung der Beklagten an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden hat.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 5.000 €.

Gründe

I.

1

Die Klägerin nimmt die beklagte Wohnungseigentümergemeinschaft wegen einer nachbarschaftlichen Vereinbarung in Anspruch. In der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht wies der für [X.] zuständige [X.] die [X.]en nach Erörterung seiner Zuständigkeit gemäß § 43 Nr. 5 [X.] darauf hin, dass eine Berufung an das [X.] als zentrales Berufungsgericht für alle [X.] Berufungsverfahren zu richten sei. Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten der [X.]n am 29. April 2011 zugestellt. Am 27. Mai 2011 legte er für die [X.] Berufung bei dem [X.] ein. Am 6. Juni 2011 wies der Vorsitzende der Berufungskammer des [X.] darauf hin, dass die Berufung unzulässig sei, weil das [X.] zuständig sei. Mit Schriftsatz vom 8. Juni 2011 legte die [X.] bei dem [X.] Berufung ein, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und begründete die Berufung anschließend. Das [X.] hat den Wiedereinsetzungsantrag mit Beschluss vom 19. Juli 2007 zurückgewiesen und die Berufung mit Beschluss vom 11. August 2008 als unzulässig verworfen. Mit der Rechtsbeschwerde wendet sich die [X.] gegen beide Beschlüsse. Sie beantragt die Aufhebung des Beschlusses vom 19. Juli 2007 und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist.

II.

2

Das Berufungsgericht meint, die Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil der [X.]n ein schuldhafter Rechtsirrtum ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen sei. Er habe nicht auf die Rechtsmittelbelehrung des Gerichts vertrauen dürfen, sondern eine eigenständige Prüfung des zuständigen Rechtsmittelgerichts vornehmen müssen. Dazu habe er umso mehr Anlass gehabt, als ihm durch die mündliche Verhandlung deutlich geworden sein müsse, dass für die Berufung in [X.] Besonderheiten zu beachten seien. Allein durch Heranziehung der einschlägigen Norm (§ 72 Abs. 2 GVG) sei die Zuständigkeit des allgemeinen Rechtsmittelgerichts eindeutig und offensichtlich gewesen. Zudem habe er eine Fehlerkorrektur verhindert, indem er die Rechtsmittelfrist nahezu vollständig ausgeschöpft habe.

III.

3

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

4

1. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ein Zulassungsgrund ist gegeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eine Entscheidung des [X.] erfordert. Das Berufungsgericht hat der [X.]n den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt ihren Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. [X.] 77, 275, 284) und eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (Senat, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - [X.], [X.], 367, 368 mwN).

5

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch in der Sache begründet.

6

a) Die bei dem [X.] eingelegte Berufung hat die Frist des § 517 ZPO nicht gewahrt. Für die Berufung der [X.]n ist das [X.] als allgemeines Berufungsgericht zuständig. Die besondere Zuständigkeit des [X.] in [X.] ist nicht begründet, weil sich die in § 72 Abs. 2 GVG geregelte Zuständigkeitskonzentration nur auf Binnenstreitigkeiten nach dem Wohnungseigentumsgesetz erstreckt, nicht aber auf die in § 43 Nr. 5 [X.] geregelten Klagen Dritter gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft.

7

b) Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des Amtsgerichts hat dazu geführt, dass die [X.] die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt hat. Aus diesem Grund ist ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 ZPO).

8

aa) Die Wiedereinsetzung setzt zunächst voraus, dass die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung kausal für die Versäumung der Frist war (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Mai 2002 - [X.], [X.], 390, 399; [X.], Beschluss vom 23. Juni 2010 - [X.]/10, NJW-RR 2010, 1297 Rn. 11 jeweils mwN). Daran bestehen nach dem tatsächlichen Ablauf keine Zweifel, weil der Prozessbevollmächtigte der [X.]n den mündlich erteilten richterlichen Hinweis befolgt hat und die Berufung nicht bei dem in dem normalen Rechtsmittelzug zuständigen [X.], sondern bei dem [X.] eingelegt hat.

9

bb) Die [X.] hat die Frist unverschuldet versäumt.

(1) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der zur Wiedereinsetzung wegen schuldloser Fristversäumnis berechtigt, wenn die Belehrung einen unvermeidbaren oder zumindest entschuldbaren Rechtsirrtum auf Seiten der [X.] hervorruft und die Fristversäumnis darauf beruht. Auch eine anwaltlich vertretene [X.] darf sich im Grundsatz auf die Richtigkeit einer Belehrung durch das Gericht verlassen ([X.], Beschlüsse vom 23. September 1993 - [X.] 10/92, NJW 1993, 3206; vom 16. Oktober 2003 - [X.], NJW-RR 2004, 408; vom 25. November 2003 - [X.] 122/02, NJW-RR 2004, 1714, 1715; Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl., vor § 511 Rn. 36), ohne dass es darauf ankommt, ob diese gesetzlich vorgeschrieben ist oder nicht. Die Folgen einer inhaltlich unrichtigen Rechtsmittelbelehrung dürfen nicht ohne weiteres mit denen einer gesetzlich vorgeschriebenen, aber fehlenden bzw. unvollständigen Rechtsmittelbelehrung gleichgesetzt werden, weil eine anwaltlich vertretene [X.] nur in letzterem Fall regelmäßig nicht schutzbedürftig ist (zutreffend [X.], [X.], 986 f.; missverständlich insoweit die Gesetzesbegründung zu § 17 FamFG, BT-Drucks. 16/6308, [X.], vgl. [X.], FamFG, 17. Aufl., § 17 Rn. 37; zu einer unvollständigen Rechtsmittelbelehrung [X.], Beschluss vom 23. Juni 2010 - [X.]/10, NJW-RR 2010, 1297 Rn. 11 f., 15).

(2) Die Anforderungen an einen entschuldbaren Rechtsirrtum hat das Berufungsgericht überspannt, indem es ihn mit der Begründung verneint hat, bei einer eigenen Rechtsprüfung des Prozessbevollmächtigten der [X.]n wäre die Fehlerhaftigkeit der erteilten Belehrung eindeutig gewesen. Der Sache nach hat es sich damit nämlich auf die Prüfung der Vermeidbarkeit des [X.] beschränkt, ohne in den Blick zu nehmen, dass auch ein vermeidbarer Rechtsirrtum entschuldbar sein kann. Der Maßstab für die [X.]keit eines durch das Gericht verursachten [X.] darf - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht anmerkt - nicht derart gefasst werden, dass die Wiedereinsetzung nur in Ausnahmefällen zu gewähren ist, weil eine eigene anwaltliche Prüfung den Fehler in aller Regel vermeiden könnte. [X.] ist der Rechtsirrtum vielmehr schon dann, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 23. September 1993 - [X.] 10/92, NJW 1993, 3206; vom 11. Juni 1996 - [X.], [X.], 1522, 1523; vom 16. Oktober 2003 - [X.], NJW-RR 2004, 408; [X.], [X.], 986 f.; [X.]/[X.], ZPO, 29. Aufl., § 233 Rn. 23 unter "Rechtsirrtum" [X.]; zu undifferenziert [X.], NJW-RR 2010, 1223 und [X.], NJW 2010, 2594, 2595).

(3) Nach diesem Maßstab wäre der Rechtsirrtum der [X.]n zwar vermeidbar gewesen. Er war aber entschuldbar. Der Hinweis des Gerichts war eindeutig. Entgegen der Auffassung der Klägerin war er nicht offenkundig falsch. Die Formulierung, die Berufung sei an das [X.] als zentrales Berufungsgericht für alle [X.] Berufungsverfahren zu richten, war nämlich erkennbar auf die in § 72 Abs. 2 GVG geregelte besondere Zuständigkeit in [X.] bezogen. Für eine eigenständige Überprüfung der [X.] gab es aus Sicht der [X.]en keinen Anlass. Denn nachdem zuvor die Zuständigkeit des mit [X.] befassten [X.]s erörtert worden war, durften die Prozessbevollmächtigten davon ausgehen, dass der mit dieser Spezialmaterie besonders vertraute [X.] insoweit zuverlässige Auskunft gab. Das gilt - anders als das Berufungsgericht meint - gerade deshalb, weil der Hinweis im Zusammenhang mit der Erörterung der Zuständigkeiten in [X.] erteilt wurde.

(4) Verfehlt ist die Annahme, auch der Umstand, dass die [X.] die Berufung kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist eingelegt habe, begründe ihr Verschulden. [X.] dürfen grundsätzlich voll ausgeschöpft werden (vgl. Senat, Beschluss vom 18. September 2008 - [X.], [X.], 3571 Rn. 7 mwN). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war die [X.] aus Sicht des Prozessbevollmächtigten der [X.]n nicht zweifelhaft, sondern eindeutig, weil er sich auf den richterlichen Hinweis verlassen durfte. Die Möglichkeit, dass der richterliche Fehler bei einer frühzeitigen Rechtsmitteleinlegung noch vor Fristablauf behoben worden wäre, führt deshalb nicht zu einem Verschulden der [X.].

cc) Die weiteren Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegen vor.

3. Der die Berufung als unzulässig verwerfende Beschluss wird mit der Wiedereinsetzung gegenstandslos ([X.], Beschluss vom 9. Februar 2005 - [X.]/04, [X.], 791, 792). Seine Aufhebung erfolgt nur klarstellend auch ohne ausdrücklichen Antrag.

Krüger                                                   Lemke                                              Czub

                           Brückner                                                Weinland

Meta

V ZB 198/11, V ZB 199/11

12.01.2012

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Flensburg, 11. August 2011, Az: 7 S 34/11, Beschluss

§ 233 ZPO, § 517 ZPO, § 72 Abs 2 GVG, § 43 Nr 5 WoEigG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.01.2012, Az. V ZB 198/11, V ZB 199/11 (REWIS RS 2012, 10157)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 10157

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