Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.04.2018, Az. 1 BvR 745/17, 1 BvR 981/17

1. Senat | REWIS RS 2018, 10285

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Vizepräsident Kirchhof im Verfahren bzgl der Verfassungsmäßigkeit der Rundfunkbeiträge nicht gem § 18 BVerfGG von der Mitwirkung ausgeschlossen - zudem Ablehnungsgesuche (§ 19 BVerfGG) zwar zulässig, aber unbegründet


Tenor

1. Vizepräsident [X.] ist nicht von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen.

2. Die Ablehnungsgesuche gegen Vizepräsident [X.] werden als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

1

Die Beschwerdeführer machen einen Ausschluss gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.] und die Besorgnis der Befangenheit gemäß § 19 [X.] des Vizepräsidenten [X.] wegen gutachtlicher Äußerungen seines Bruders geltend.

2

Der Einführung des [X.] durch Art. 1 des Fünfzehnten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15./17./21. Dezember 2010 ([X.]staatsvertrag, GBl.[X.] 2011, [X.]) gingen mehrjährige [X.] voraus. Hierbei wurden mehrere Modelle zur Reform der früheren Rundfunkgebühr erörtert. Eines dieser Modelle war die Einführung einer Abgabe für Wohnungen oder Haushalte sowie Betriebsstätten, die zum nicht unerheblichen Teil in den in [X.] getretenen [X.]taatsvertrag eingegangen sind.

3

Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit eines solchen Modells erstattete unter anderem der Finanzverfassungsrechtler und ehemalige [X.] im [X.] des [X.] Paul [X.] im April 2010 im Auftrag von [X.], [X.] und [X.] ein "Gutachten über die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks". Das Gutachten bejahte die Verfassungsmäßigkeit einer geräteunabhängigen Wohnungs- und Betriebsstättenabgabe und qualifizierte eine solche Abgabe finanzverfassungsrechtlich als Beitrag. In der Gesetzesbegründung zu den Umsetzungsgesetzen des [X.]taatsvertrags verwiesen die Gesetzgeber neben "mehreren wissenschaftlichen Expertisen" zur Frage der abgabenrechtlichen, finanzverfassungsrechtlichen und europarechtlichen Aspekte auch auf das Gutachten von Paul [X.] (vgl. [X.], Drucksache 15/197, S. 33).

II.

4

Mit Schriftsatz vom 11. April 2018 haben die Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) angeregt, den Vizepräsidenten Ferdinand [X.] gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.] wegen Verwandtschaft mit einem an der Sache Beteiligten von der Ausübung seines [X.]amts auszuschließen; ersatzweise haben sie beantragt, ihn wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 19 [X.] abzulehnen.

5

1. Zur Begründung des Ausschlusses führen die Antragsteller aus, nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sei ein [X.] des [X.] von der Ausübung seines [X.]amts unter anderem ausgeschlossen, wenn er mit einem an der Sache Beteiligten in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt sei. Vizepräsident Ferdinand [X.] sei der Bruder von Paul [X.], welcher gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 [X.] an der Sache beteiligt sei. Eine Beteiligung liege vor, wenn ein [X.] oder ein naher Angehöriger im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.] ein über § 18 Abs. 2 [X.] hinausgehendes besonderes, konkretes Interesse am Ausgang des Verfahrens habe, etwa weil dieser im Fall eines positiven oder negativen Verfahrensausgangs über die sich aus der Aufhebung eines Gesetzes ergebenden Rechtsfolgen hinaus unmittelbar Ansprüche geltend machen könne oder wenn gegen ihn Ansprüche erhoben werden könnten.

6

Nach diesen Maßstäben sei Paul [X.] Beteiligter an der Sache im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. Denn er habe nicht nur ein aus einem allgemeinen Gesichtspunkt folgendes Interesse, sondern vielmehr ein besonderes, konkretes Interesse am Ausgang des [X.]. Sein im Auftrag von [X.], [X.] und [X.] erstattetes Gutachten habe den von den Ländern beabsichtigten "Systemwechsel" als machbar bestätigt. Das Gutachten sei maßgebliche Grundlage für die daraufhin verabschiedeten Regelungen des [X.]taatsvertrags geworden. Sollte der Senat nunmehr die Verfassungswidrigkeit der Regelungen des [X.]taatsvertrags feststellen und sie aufheben, hätte dies für Paul [X.] nicht nur einen enormen Reputationsverlust zur Folge, sondern würde auch dazu führen, dass die Länder beziehungsweise die [X.] Schadensersatzansprüche gegen ihn geltend machen könnten.

7

2. Zur Begründung des [X.] nach § 19 [X.] führen die Antragsteller aus, Zweifel an der Unvoreingenommenheit von Vizepräsident Ferdinand [X.] ergäben sich über die Umstände im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.] hinaus aus einer summativen Wirkung des Verwandtschaftsverhältnisses und der Tätigkeit von Paul [X.], die weit über die bloße Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des [X.] hinausreiche und letztlich in besonderer Weise zur Übernahme einer Gewährfunktion für die Verfassungsmäßigkeit des [X.]taatsvertrags in den mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Punkten geführt habe. Das Gutachten sei von vornherein dazu bestimmt gewesen, das Gesetzesvorhaben verfassungsrechtlich abzustützen. Ihm sei, wie der Gang des Gesetzgebungsverfahrens zeige, eine für die Entscheidung ausschlaggebende Funktion zugekommen. Angesichts dessen sei bei einer die Lebenswahrscheinlichkeit nicht außer Acht lassenden Betrachtung die Besorgnis der Antragsteller nicht von der Hand zu weisen, Vizepräsident [X.] könne der streitbefangenen Rechtsfrage nicht mehr mit der Unbefangenheit gegenübertreten, wie wenn sein Bruder lediglich seine wissenschaftliche Meinung geäußert hätte.

III.

8

Vizepräsident [X.] hat unter dem 18. April 2018 eine dienstliche Stellungnahme abgegeben. Er habe sich zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des [X.] weder öffentlich noch innerhalb der Familie jemals geäußert, geschweige denn darüber diskutiert. Es liege ihm fern, aus familiärer Bindung eine bestimmte verfassungsrechtliche Sichtweise einzunehmen.

9

Die Antragsteller und die Äußerungsberechtigten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

B.

Vizepräsident [X.] ist von der Mitwirkung in den vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht kraft Gesetzes von der Ausübung seines [X.]amts ausgeschlossen (§ 18 [X.], dazu I). Die [X.] werden als unbegründet zurückgewiesen (§ 19 [X.], dazu II).

I.

Ein [X.] des [X.] ist von der Ausübung seines [X.]amts unter anderem ausgeschlossen, wenn er mit einem an der Sache Beteiligten in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt ist (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.]). Nach § 18 Abs. 2 [X.] gilt dabei nicht als Beteiligter, wer aufgrund nur allgemeiner Gesichtspunkte am Ausgang des Verfahrens interessiert ist. Daher erfordert eine Beteiligung jedenfalls eine enge, konkrete Beziehung zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Gegenstand des Verfahrens (vgl. [X.] 47, 105 <108>).

Zwar ist Paul [X.] mit dem Vizepräsidenten [X.] als dessen Bruder in der Seitenlinie im zweiten Grade verwandt (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 [X.]). Es fehlt jedoch an einer engen, konkreten Beziehung Paul [X.]s zum Gegenstand des Verfahrens. Allein der Umstand, dass Paul [X.] in einem - von mehreren - Rechtsgutachten im Auftrag von [X.], [X.] und [X.] einen wohnungs- und betriebsstättenbezogenen Rundfunkbeitrag verfassungsrechtlich befürwortet und damit einen - möglicherweise maßgeblichen - Anstoß für die Einführung der gegenwärtigen Regelung geschaffen hat, verschafft keine solche enge, konkrete Beziehung zum gegenständlichen Verfahren. Es sind keinerlei relevante unmittelbare Vorteile oder Nachteile [X.], in: [X.]/Schmidt-Bleib-treu/[X.]/[X.], [X.], § 18 Rn. 2 ; Kliegel, in: [X.], [X.], 2018, § 18 Rn. 7) erkennbar, die Paul [X.] aus einer Entscheidung des Senats erwachsen könnten. Die von den Antragstellern angeführte Möglichkeit von Regressansprüchen im Falle einer stattgebenden Entscheidung des Senats erscheint fernliegend und hinge ohnehin von weiteren Zwischenschritten ab. Auch der behauptete, eventuell drohende "Reputationsverlust" durch die unterschiedliche Bewertung von Rechtsfragen würde allenfalls ein allgemeines Interesse am Ausgang des Verfahrens nach § 18 Abs. 2 [X.] begründen, das für die Annahme einer Beteiligtenstellung gerade nicht ausreicht.

II.

Die [X.] sind zulässig, aber unbegründet.

Die Ablehnung eines [X.]s nach § 19 [X.] setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Es kommt mithin nicht darauf an, ob der [X.] tatsächlich "parteilich" oder "befangen" ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des [X.]s zu zweifeln (vgl. [X.] 135, 248 <257 Rn. 23>; 142, 9 <14 Rn. 14>; 142, 18 <21 Rn. 11>; [X.], Beschluss des [X.]s vom 13. Februar 2018 - 2 BvR 651/16 -, [X.], Rn. 17). Allerdings kann eine Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 19 [X.] nicht aus den allgemeinen Gründen hergeleitet werden, die nach der ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs. 2 und Abs. 3 [X.] einen Ausschluss von der Ausübung des [X.]amts nicht rechtfertigen; es wäre ein Wertungswiderspruch, könnte gerade wegen dieser Gründe dennoch ein [X.] über eine Befangenheitsablehnung von der Mitwirkung ausgeschlossen werden. Daher muss stets etwas Zusätzliches gegeben sein, damit eine Besorgnis der Befangenheit als begründet erscheinen kann (vgl. [X.] 135, 248 <257 Rn. 24>; [X.], Beschluss des [X.]s vom 13. Februar 2018 - 2 BvR 651/16 -, [X.], Rn. 20). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass [X.] des [X.] über jene Unabhängigkeit und Distanz verfügen, die sie befähigen, in Unvoreingenommenheit und Objektivität zu entscheiden (vgl. [X.] 108, 122 <129>).

Solche zusätzlichen Umstände liegen in der Person des Vizepräsidenten Ferdinand [X.] nicht vor. Darauf, ob Paul [X.] nach den Ausführungen der Antragsteller über die Erstattung des Gutachtens hinaus in besonderem Maße mit den Regelungen des [X.]taatsvertrags in Verbindung gebracht werden kann, als deren "Urheber" anzusehen ist und eine besondere Gewähr für die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung übernommen hat, kommt es für sich genommen nicht an. Denn im Rahmen des § 19 [X.] müssen die zusätzlichen Umstände, die geeignet sein sollen, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit zu rechtfertigen, in der Person des abgelehnten [X.]s vorliegen (vgl. [X.] 135, 248 <257 ff. Rn. 25 ff.>). Allein Verwandtschaft begründet keine Besorgnis der Befangenheit. Etwaige Umstände, die eine besondere Verbindung Paul [X.]s zur streitgegenständlichen Regelung belegen sollen, könnten die Besorgnis der Befangenheit nach § 19 [X.] daher nur dann begründen, wenn dadurch auch die Unparteilichkeit des Vizepräsidenten Ferdinand [X.] berührt wäre. Wenn die Antragsteller insoweit darauf abheben, Vizepräsident [X.] könne der streitbefangenen Rechtsfrage nicht mehr mit der Unbefangenheit gegenübertreten, wie wenn sein Bruder Paul [X.] ohne [X.] lediglich seine wissenschaftliche Meinung geäußert hätte, stellt dies - unabhängig von der Überzeugungskraft dieser Differenzierung - keinen besonderen Umstand dar, der die Unparteilichkeit von Vizepräsident [X.] in Zweifel ziehen könnte.

Meta

1 BvR 745/17, 1 BvR 981/17

24.04.2018

Bundesverfassungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerwG, 25. Januar 2017, Az: 6 C 11/16, Urteil

§ 18 Abs 1 Nr 1 BVerfGG, § 18 Abs 2 BVerfGG, § 19 Abs 1 BVerfGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.04.2018, Az. 1 BvR 745/17, 1 BvR 981/17 (REWIS RS 2018, 10285)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 10285


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 745/17, 1 BvR 981/17

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 745/17, 1 BvR 981/17, 24.04.2018.


Az. 6 C 11/16

Bundesverwaltungsgericht, 6 C 11/16, 25.01.2017.


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2 BvR 651/16

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