Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.09.2022, Az. VIII B 135/21

8. Senat | REWIS RS 2022, 5208

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Gegenstand

Verstoß gegen die Pflicht bei der Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zu berücksichtigen


Leitsatz

NV: Für eine einwandfreie Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens darf das Gericht weder Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, ohne zureichenden Grund ausblenden noch seine Überzeugung auf Umstände gründen, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens zählen. Ebenso wenig darf das Gericht Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, ungeprüft behaupten. Es darf auch nicht von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgehen, der in den Akten keine Stütze findet oder der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 26.10.2021 - 15 K 15100/20 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet.

2

Das Finanzgericht ([X.]) hat entgegen der gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) bestehenden Pflicht das Gesamtergebnis des Verfahrens bei seiner Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt. Die Vorentscheidung wird daher aufgehoben und der Streitfall zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

3

1. Dem [X.] ist ein Verfahrensfehler gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O unterlaufen. Es hat bei seiner Würdigung, der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) habe im Streitjahr 2011 einen Honoraranspruch gegen die Mandantin [X.] vereinnahmt, indem er auf zuvor treuhänderisch für die [X.] gehaltene Darlehensansprüche der [X.] gegen die [X.] zur Anrechnung auf seine Forderung zugegriffen habe, das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht einwandfrei berücksichtigt.

4

a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 04.02.2021 - VIII B 38/20, [X.], 641, Rz 3). Das Gesamtergebnis des Verfahrens wird insbesondere konkretisiert durch die Schriftsätze der Beteiligten, ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie in einem etwaigen Erörterungstermin, ihr Verhalten, die den Streitfall betreffenden Steuerakten, beigezogene Akten eines anderen Verfahrens, vom Gericht eingeholte Auskünfte, Urkunden und die aufgrund einer ggf. durchgeführten Beweisaufnahme gewonnenen Beweisergebnisse. Auch offenkundige und gerichtsbekannte Tatsachen sind zu berücksichtigen ([X.] vom 23.04.2020 - X B 156/19, [X.], 1077, Rz 10, m.w.N.).

5

b) Für eine einwandfreie Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens darf das Gericht weder Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, ohne zureichenden Grund ausblenden noch seine Überzeugung auf Umstände gründen, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens zählen. Ebenso wenig darf das Gericht Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, ungeprüft behaupten. Es darf auch nicht von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgehen, der in den Akten keine Stütze findet oder der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird ([X.] in [X.], 1077, Rz 11).

6

c) Nach diesem Maßstab hat das [X.] das Gesamtergebnis des Verfahrens im Streitfall nicht einwandfrei berücksichtigt. Es ist von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgegangen, der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen zum Sachverhalt getragen wird.

7

aa) Der als Rechtsanwalt tätige Kläger hat in einer [X.] vom 05.12./30.12.2011 der [X.] für seine Tätigkeit 127.011,46 € in Rechnung gestellt. Ein Betrag in Höhe von 106.732,32 € entfiel auf den Nettobetrag der Honorarforderung und ein Betrag in Höhe von 20.279,14 € auf die Umsatzsteuer (zum Steuersatz von 19 %). In der Rechnung findet sich der Zusatz, dass mit dieser Rechnungslegung das gewährte Darlehen der [X.] in Höhe eines Betrags von 106.732,32 € auf den Gesamtbetrag angerechnet werde. Der Kläger ermittelte den Gewinn aus selbständiger Tätigkeit im Streitjahr im Wege der Einnahmen-Überschuss-Rechnung gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

8

bb) Das [X.] hat in dieser "Anrechnung des Darlehens" auf die Honorarforderung eine Vereinnahmung des Betrags in Höhe von 106.732,32 € durch den Kläger im Streitjahr gesehen. Ein Zufluss von Einnahmen finde statt [X.] das [X.]--, wenn ein Rechtsanwalt zunächst treuhänderisch als [X.] verwaltete Vermögenswerte an sich nehme und in seinen Verfügungsbereich überführe, indem er mit seiner Honorarforderung gegen den Herausgabeanspruch des Mandanten auf den als Fremdgeld verwalteten Vermögenswert aufrechne. Hierdurch löse er die gemäß § 4 Abs. 3 Satz 2 EStG für einen durchlaufenden Posten aufgrund von [X.]n erforderliche Verklammerung der Einnahmen und Ausgaben auf, wodurch es mit Wegfall der Verklammerung zu einem Zufluss der Einnahmen komme (S. 5 des [X.]-Urteils). Im Streitfall habe der Kläger zur Befriedigung seiner Honorarforderung auf zuvor von ihm als Zahlstelle treuhänderisch gehaltene Darlehensansprüche der [X.] gegen seine Mandantin [X.], gestützt auf eine Generalvollmacht, zugegriffen (S. 6 des [X.]-Urteils). Von früheren abschlagsweisen Zahlungen der [X.] an den Kläger vor dem Streitjahr für Leistungen, die der Kläger an die [X.] erbracht habe und die in der Rechnung vom 05.12./30.12.2011 abgerechnet worden seien, könne [X.] das [X.]-- nicht ausgegangen werden, da der Kläger in den behaupteten Zeiträumen der Abschlagszahlungen (2007/2008) einerseits keine entsprechenden Einnahmen erklärt habe und die [X.] Abschlagszahlungen angesichts ihrer prekären finanziellen Lage nicht habe erbringen können (S. 8 des [X.]-Urteils).

9

cc) Das [X.] hat bei seiner tatsächlichen Würdigung, der Kläger habe auf einen von ihm zuvor als Zahlstelle treuhänderisch gehaltenen Darlehensanspruch der [X.] gegen die [X.] zur Befriedigung seines Honoraranspruchs gegen die [X.] zugegriffen, das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht einwandfrei berücksichtigt.

Der Kläger hatte während des finanzgerichtlichen Verfahrens im Schriftsatz vom 29.06.2020 vorgetragen, dass sich die Formulierung zur Anrechnung des Darlehens der [X.] in der Rechnung vom 05.12./30.12.2011 auf folgenden Sachverhalt beziehe: Die [X.] sei die Muttergesellschaft seiner Mandantin [X.] gewesen und habe der [X.] laufend Darlehen gewährt. Die [X.] habe der [X.] im Innenverhältnis Darlehen auch in der Form gewährt, dass sie Abschlagszahlungen für anwaltliche Leistungen des [X.] an die [X.] erfüllt habe. Die Bezugnahme in der Rechnung vom 05.12./30.12.2011 habe damit lediglich Darlehen bezeichnet, die im Innenverhältnis der [X.] zur [X.] entstanden seien, weil die [X.] an den Kläger Abschlagszahlungen (Vorschussliquidationen) geleistet habe.

Das [X.] hat sich zu diesem Vorbringen des [X.], das als Beteiligtenvorbringen zum Gesamtergebnis des Verfahrens zählt, nicht verhalten. Zu der Frage, ob der Kläger entgegen seiner Sachverhaltsdarstellung überhaupt als Treuhänder über einen Darlehensanspruch der [X.] an die [X.] verfügen konnte und dazu, wie und wann der Kläger die Abtretung der vermeintlichen Darlehensforderung der [X.] mittels der an die Darlehensschuldnerin [X.] gerichteten Rechnung vom 05.12./30.12.2011 an sich noch im Streitjahr im Einzelnen bewirkt haben soll, hat das [X.] keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Aufgrund der hierzu unterbliebenen Sachaufklärung und Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens ist das [X.] im Ergebnis von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgegangen, der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird.

Soweit das [X.] festgestellt hat, der Kläger könne im Hinblick auf die Rechnung vom 05.12./30.12.2011 im [X.] keine Abschlagszahlung der [X.] über 59.000 € (brutto) vereinnahmt haben, weil diese sich zum behaupteten Zahlungszeitpunkt in einer prekären finanziellen Lage befunden habe, berücksichtigt die Würdigung ebenfalls nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens. Denn nach dem klägerischen Vortrag hat in diesem Zeitraum die [X.] für die [X.] Vorschussansprüche des [X.] beglichen. Dass solche Ansprüche bestanden haben können, ergibt sich auch aus der Rechnung vom 05.12./30.12.2011, da der Kläger über anwaltliche Leistungen an die [X.] im Zeitraum vom 13.01.2007 bis zum 01.07.2009 abgerechnet hat.

Die der Entscheidung zugrunde liegende Würdigung des [X.], in der Rechnung vom 05.12./30.12.2011 werde nicht auf frühere Abschlagszahlungen Bezug genommen, genügt angesichts des plausiblen Sachvortrags des [X.] den Anforderungen an eine einwandfreie Berücksichtigung des [X.] ebenfalls nicht. Das [X.] durfte den Sachvortrag des [X.] über die Existenz einer Abschlagszahlung in Höhe von 59.000 € nicht ohne eine weitere Sachaufklärung zur Abwicklung der Zahlungen für die Entscheidungsfindung ausblenden.

d) Der Senat hält es für sachgerecht, das [X.]-Urteil gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O aufzuheben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

2. Der Senat sieht von einer Darstellung des Tatbestands und einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O).

3. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VIII B 135/21

20.09.2022

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 26. Oktober 2021, Az: 15 K 15100/20, Urteil

§ 96 Abs 1 S 1 Halbs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.09.2022, Az. VIII B 135/21 (REWIS RS 2022, 5208)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5208

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