Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.11.2022, Az. 5 StR 416/22

5. Strafsenat | REWIS RS 2022, 7701

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Gegenstand

(Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 64 StGB bei Einstellung des Betäubungsmittelkonsums kurz vor Inhaftierung)


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 9. Mai 2022 aufgehoben, soweit von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist; die zugehörigen Feststellungen bleiben jedoch bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen; allerdings wird der Schuldspruch dahingehend neu gefasst, dass der Angeklagte des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig ist.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge – „wobei der Angeklagte [...] gewerbsmäßig handelte“ – schuldig gesprochen und ihn zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Von seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruches hat keinen den Angeklagten [X.] Rechtsfehler ergeben.

3

2. Die Entscheidung, von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abzusehen, hat jedoch keinen Bestand.

4

a) Das [X.] hat, soweit für die Frage der Maßregel relevant, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

5

Der 23-jährige Angeklagte, der unter einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) leidet und das ihm verordnete Medikament [X.] im Alter von 16 oder 17 Jahren absetzte, begann nunmehr, sich selbst mittels [X.]s von Betäubungsmitteln zu behandeln, zunächst vor allem mit Cannabis. Als dessen Wirkungen nach einiger Zeit nicht mehr ausreichten, um „high“ zu werden, fing er mit 17 oder 18 Jahren an, auch Kokain und MDMA zu konsumieren. Darüber hinaus nahm er Tilidin, Tramadol und Diazepam ein und rauchte weiterhin täglich Cannabis. Nachdem er von der Schwangerschaft seiner Freundin erfuhr, beschloss er, den [X.] einzustellen, wobei er lediglich einmal Entzugserscheinungen verspürte, die er mit CBD-Öl behandelte. Etwa zehn Tage vor seiner Inhaftierung in anderer Sache wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in mehreren Fällen am 7. April 2022 gelang es ihm „tatsächlich“, den [X.] von Betäubungsmitteln selbständig einzustellen; Entzugserscheinungen hat er keine „mehr“. Die sachverständig beratene [X.] hat angenommen, dass eine Substanzabhängigkeit beim Angeklagten nicht vorliege und ein Hang im Sinne des § 64 StGB zu verneinen sei.

6

b) Diesen Ausführungen liegt ein rechtsfehlerhaftes Verständnis des [X.]s vom Begriff des Hanges im Sinne des § 64 StGB zugrunde.

7

aa) Für einen Hang genügt nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von [X.] im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. [X.], Beschluss vom 7. April 2020 – 6 StR 28/20 Rn. 12, [X.], 248 f. mwN). Diesem Maßstab werden die Erwägungen des [X.]s nicht gerecht.

8

bb) Bereits der festgestellte jahrelange tägliche [X.] von Betäubungsmitteln – dazu noch zur Selbstbehandlung einer fortbestehenden Störung – legt die Annahme eines Hangs des Angeklagten nahe. Die Tatsache, dass es dem Angeklagten wenige Tage vor seiner Inhaftierung in anderer Sache gelang, den [X.] von Betäubungsmitteln „tatsächlich“ einzustellen, hat für sich genommen kein ausschlaggebendes Gewicht. Dass ein Angeklagter kurzzeitig in der Lage ist, seinen Rauschmittelkonsum zu verringern oder einzustellen, steht dem Vorliegen eines Hanges ebenso wenig entgegen (vgl. [X.], Beschluss vom 30. Juli 2019 – 2 [X.] Rn. 9, [X.], 37 f.; Urteil vom 15. Mai 2014 – 3 [X.] Rn. 10 mwN) wie zwischenzeitliche [X.] ([X.], Urteil vom 14. April 2021 – 5 [X.] Rn. 12 mwN) oder das Ausbleiben ausgeprägter Entzugssymptome ([X.], Beschluss vom 21. März 2019 – 1 StR 582/18 Rn. 6). Dies hat das [X.] nicht erkennbar bedacht. Zudem bleibt [X.], dass der Angeklagte mit dem durch den Betäubungsmittelhandel eingenommenen Geld seinen Eigenkonsum zur Tatzeit finanzierte, was für seine [X.] Gefährdung und Gefährlichkeit jedenfalls in dieser Zeit, nur etwa ein halbes Jahr vor seiner Inhaftierung in anderer Sache, sprechen könnte (vgl. [X.], Beschlüsse vom 30. Juli 2019 – 2 [X.] Rn. 9, [X.], 37 f.; vom 21. März 2019 – 1 StR 582/18).

9

c) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nicht von vornherein ausscheidet, muss – unter erneuter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) – über die Frage einer Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neu verhandelt und entschieden werden. Soweit der bisherige Sachverständige eingeschätzt hat, dass „mangels Vorliegens einer Substanzabhängigkeit“ die Maßnahme nicht erfolgversprechend sei, weil der Angeklagte nicht lernen müsse, ohne Drogen zu leben, dies „sei ihm bereits gelungen“, beruht diese Wertung, welche das [X.] übernommen hat, ebenfalls auf dem aufgezeigten Rechtsfehler.

Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht der Aufhebung in diesem Umfang nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Die zugehörigen Feststellungen können bestehen bleiben, da es sich um reine Wertungsfehler handelt. Das neue Tatgericht darf ergänzende Feststellungen treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

3. Aufgrund des Teilerfolgs des Rechtsmittels mit der Sachrüge kommt es auf die mit gleicher Zielrichtung erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr an.

4. [X.] ist dahin neu zu fassen, dass der Zusatz „gewerbsmäßig“ entfällt; denn das gewerbsmäßige Handeln als Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall nach § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG betrifft nur die Strafzumessung und ist deshalb gemäß § 260 Abs. 4 Satz 2 StPO nicht in die Urteilsformel aufzunehmen ([X.], Beschluss vom 3. Februar 2015 – 3 [X.]).

Gericke     

  

Mosbacher     

  

Resch

  

von Häfen     

  

Werner     

  

Meta

5 StR 416/22

22.11.2022

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 9. Mai 2022, Az: 509 KLs 3/22

§ 64 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.11.2022, Az. 5 StR 416/22 (REWIS RS 2022, 7701)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7701

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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