Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.05.2022, Az. 2 AZR 424/21

2. Senat | REWIS RS 2022, 3251

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Gegenstand

Massenentlassungsanzeige - Fehlen der sog. Soll-Angaben


Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten zu 1. wird das Urteil des [X.] vom 25. Juni 2021 - 14 [X.] 1225/20 - aufgehoben, soweit darin zu ihren Lasten erkannt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die [X.]che zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

2

Die Beklagte zu 1. (im Folgenden Beklagte) beschäftigte in ihrem Betrieb regelmäßig mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmer. In der [X.] vom 18. Juni bis zum 18. Juli 2019 kündigte sie insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse, darunter das der Klägerin.

3

Diese hat mit der vorliegenden Klage ua. geltend gemacht, die ihr am 19. Juni 2019 zugegangene Kündigung sei nach § 134 BGB nichtig, weil die Beklagte - als solches unstreitig - nicht zuvor gegenüber der [X.] die Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG gemacht habe.

4

Die Klägerin hat - soweit für die Revision von Interesse - sinngemäß beantragt

        

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 19. Juni 2019 aufgelöst worden ist.

5

Das Arbeitsgericht hat die Klage durch Versäumnisurteil abgewiesen. Auf den Einspruch der Klägerin hat es dem Kündigungsschutzantrag unter teilweiser Aufhebung des Versäumnisurteils entsprochen. Das [X.] hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt diese ihren Antrag weiter, die Kündigungsschutzklage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit der gegebenen Begründung durfte das [X.] ihre Berufung gegen das dem Kündigungsschutzantrag auf den zulässigen Einspruch der Klägerin (§ 59 ArbGG, § 340 ZPO) unter teilweiser Aufhebung des klageabweisenden Versäumnisurteils stattgebende erstinstanzliche Urteil nicht zurückweisen. Das [X.] hat die Kündigung vom 19. Juni 2019 rechtsfehlerhaft für nichtig gehalten. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch diese Kündigung aufgelöst worden ist, kann der [X.] nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), soweit dieses zulasten der Beklagten erkannt hat.

7

I. Das Berufungsgericht hat dem Kündigungsschutzantrag zu Unrecht mit der Begründung entsprochen, die streitbefangene Kündigung sei gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] iVm. § 134 BGB nichtig, weil die Beklagte vor deren Zugang nicht gegenüber der [X.] die Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] gemacht habe.

8

1. Den vom [X.] getroffenen Feststellungen lässt sich schon nicht entnehmen, dass die Klägerin im Zuge einer nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] anzeigepflichtigen Massenentlassung entlassen worden ist. Dazu müsste die Beklagte innerhalb eines [X.]raums von 30 Kalendertagen mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen haben, darunter die Klägerin. Als Entlassung gilt der Zugang einer Kündigungserklärung (vgl. [X.] 27. Januar 2005 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 39; [X.] 27. Januar 2022 - 6 [X.] (A) - Rn. 27). Das Berufungsgericht hat nur festgestellt, dass die Beklagte „in der [X.] vom 18. Juni 2019 bis zum 18. Juli 2019“ insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse „gekündigt“ hat. Dies lässt nicht eindeutig erkennen, wann die weiteren Kündigungen den betreffenden Arbeitnehmern zugegangen sind.

9

2. Sollte die Klägerin - wohin eine Erklärung der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem [X.] deutet - im Zuge einer anzeigepflichtigen Massenentlassung entlassen worden sein, wäre die streitbefangene Kündigung nicht deshalb nach § 134 BGB nichtig, weil die Beklagte vor ihrem Zugang nicht gegenüber der [X.] die Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] gemacht hat.

a) § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] ist nach dem im Gesetzeswortlaut, in der Gesetzessystematik und in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachten Willen des - nationalen - Gesetzgebers eindeutig nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung für die Massenentlassungsanzeige ausgestaltet. Nur das Fehlen einer wirksamen Anzeige könnte aber in unionsrechtskonformer Auslegung von § 17 Abs. 3 [X.] gemäß § 134 BGB zur Nichtigkeit einer im Rahmen der betreffenden Massenentlassung erklärten Kündigung führen (vgl. [X.] 22. November 2012 - 2 [X.] - Rn. 20 ff., [X.]E 144, 47).

aa) Bei § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] handelt es sich um eine an den Arbeitgeber adressierte [X.]. Die Verletzung von an Private gerichteten Sollbestimmungen führt regelmäßig nicht zur Unwirksamkeit der betreffenden Rechtshandlung (vgl. BayObLG 14. Juli 1981 - [X.] 32/81 - zu II 3 a (1) der Gründe; [X.]/[X.] 81. Aufl. § 134 Rn. 6a; [X.]/[X.] BGB 18. Aufl. § 134 Rn. 10 [X.]). Diese Regel wird für die Massenentlassungsanzeige bestätigt in der Begründung des [X.] vom 19. Oktober 1977 für das [X.] zur Änderung des Kündigungsschutzgesetzes vom 27. April 1978 ([X.]I S. 550), durch das der jetzige Abs. 3 in § 17 [X.] eingefügt wurde. Danach ist der Inhalt der Anzeige in Bezug auf die in Satz 5 vorgesehenen Angaben „nur in einer Sollbestimmung festgelegt“ ([X.]. 8/1041 S. 5).

[X.]) Entscheidend tritt hinzu, dass der Gesetzgeber in § 17 Abs. 3 Satz 4 [X.] eine Mussregelung getroffen und in der Begründung zum Entwurf der Bundesregierung vom 2. März 1995 für das Gesetz zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das [X.]-Recht vom 20. Juli 1995 ([X.]I S. 946), durch den § 17 Abs. 3 Satz 4 [X.] zur Erweiterung der Unterrichtungs- und Anzeigepflichten bei Massenentlassungen im Zuge der Umsetzung der [X.]/[X.] vom 24. Juni 1992 ([X.]) seine gegenwärtige Fassung erhalten hat, ausgeführt hat: „Diese Vorschrift stellt - wie bisher - sicher, daß das Arbeitsamt alle für die Arbeitsverwaltung bestimmten Informationen auch dann erhält, wenn kein Betriebsrat vorhanden ist, dessen Unterrichtung dem Arbeitsamt durch eine Abschrift der Mitteilung zur Kenntnis gebracht werden könnte“ ([X.]. 13/668 S. 14). Danach soll - entsprechend der Trennung in eine Mussbestimmung und eine [X.] (vgl. [X.] 29. September 2005 - 8 [X.] - zu II 1 b [X.] (3) der Gründe, [X.]E 116, 78; 25. Oktober 1994 - 3 [X.] - zu [X.] 2 c aa der Gründe) - zwar § 17 Abs. 3 Satz 4 [X.], nicht aber § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] eine Regelung zum zwingenden Inhalt der Massenentlassungsanzeige treffen (vgl. [X.]/[X.] 2022, 41, 47 f.; siehe auch [X.]/Salamon Kündigungsschutz Kap. 3 Rn. 100).

cc) Zudem ist in gesetzessystematischer Hinsicht zu beachten, dass § 17 Abs. 3 Satz 4 [X.] vom Arbeitgeber zwar die Angabe der Zahl und der Berufsgruppen sowie der vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer verlangt, nicht hingegen die Individualisierung der Betroffenen (aA - insoweit nicht tragend - [X.] 13. Juni 2019 - 6 [X.] - Rn. 25, [X.]E 167, 102). Dann aber können die „personenbezogenen“ Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] keine „Muss-Angaben“ sein. Dies gilt auch, wenn der Arbeitgeber sie bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige bereits machen könnte.

dd) Damit läuft § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] nicht leer. Der Gesetzgeber des [X.] zur Änderung des Kündigungsschutzgesetzes hat den nach seiner Vorstellung über die damals in nationales Recht umzusetzenden Vorgaben der Richtlinie 75/129/[X.] vom 17. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen hinausgehenden ([X.]. 8/1041 S. 5) Zweck der Bestimmung, die Arbeitsvermittlung der Betroffenen zu fördern, aufgrund der Beschlussempfehlung des [X.] in den Gesetzestext aufgenommen ([X.]. 8/1546 S. 8). Ausweislich des Zusatzes „für die Arbeitsvermittlung“, der sich in § 17 Abs. 3 Satz 4 [X.] nicht findet, hat § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] einen rein sozialrechtlichen Regelungsgehalt. Indem die Vorschrift den Arbeitgeber (im Einvernehmen mit dem Betriebsrat) zur Mitwirkung veranlasst, um so im Sinne der Solidargemeinschaft den Eintritt des Versicherungsfalls der Arbeitslosigkeit möglichst zu vermeiden oder doch dessen Dauer zu begrenzen, geht sie über eine lediglich programmatische Zielvorstellung des Gesetzgebers hinaus (vgl. [X.] 29. September 2005 - 8 [X.] - zu II 1 b [X.] (3) der Gründe, [X.]E 116, 78 zu § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III). Das trifft in abgeschwächter Form auch noch unter Geltung von § 38 Abs. 1 SGB III zu.

ee) Nach alledem spielt es keine Rolle, dass der [X.] die in § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] vorgesehenen Angaben nur „im Einvernehmen mit dem Betriebsrat“ zu unterbreiten sind. Allerdings ist die Annahme des Gesetzgebers, der Arbeitgeber könne diese Angaben [X.] („etwa“) deshalb „häufig … noch nicht machen“, weil dadurch die Verhandlungen mit dem Betriebsrat belastet würden ([X.]. 8/1041 S. 5), nicht überholt ([X.]/Spelge 5. Aufl. § 121 Rn. 189). Zwar wird das [X.] nach § 17 Abs. 2 [X.] - so es infolge einer zuständigen Arbeitnehmervertretung geboten ist - bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige abgeschlossen sein. Doch hatte der Gesetzgeber gerade auch die Interessenausgleichsverhandlungen gemäß §§ 111 ff. [X.] (vgl. [X.]. 8/1041 aaO). Diese können aber noch andauern, wenn der Arbeitgeber eine Massenentlassungsanzeige erstattet. Im [X.] besteht weder ein Einigungszwang noch ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Einigungsstelle anzurufen. Demgegenüber kann der Betriebsrat ihn im Verfahren nach §§ 111 ff. BetrVG über die Einigungsstelle dazu zwingen, einen Interessenausgleich wenigstens zu versuchen (§ 112 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 BetrVG). Mit der Erstattung einer Massenentlassungsanzeige zwischen dem Ende der Konsultationen und dem ausreichenden Versuch eines Interessenausgleichs beginnt der Arbeitgeber auch nicht iSv. § 113 Abs. 3 BetrVG mit der Betriebsänderung. Die Anzeige zwingt ihn nicht zum Ausspruch von Kündigungen ([X.] 14. April 2015 - 1 [X.] 794/13 - Rn. 25).

b) § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] ist auch nicht im Hinblick auf die Vorgaben der [X.]/[X.] vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ([X.]), geändert durch die Richtlinie ([X.]) 2015/1794 vom 6. Oktober 2015, als eine die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige bestimmende Mussvorschrift zu verstehen. Davon hat der [X.] ohne ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen an den [X.] (im [X.]) gemäß Art. 267 Abs. 3 A[X.]V auszugehen.

aa) Zum einen ist eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] nicht möglich. Die Entscheidung des [X.] Gesetzgebers, in § 17 Abs. 3 Satz 4 und Satz 5 [X.] zwischen „Muss-Angaben“ und „Soll-Angaben“ zu trennen, die nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der Massenentlassungsanzeige sind, sondern allein die Arbeitsvermittlung der Betroffenen fördern sollen, ist - wie gezeigt - eindeutig und weder nach Wortlaut, Systematik, Zweck noch Gesetzeshistorie lückenhaft oder unvollständig (zutreffend [X.] NZA 2022, 26, 28; ebenso [X.]/[X.] 2022, 41, 47 f.). Mit einer Uminterpretation von § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] in eine kündigungsrechtliche Mussvorschrift würden die nationalen Gerichte sich aus der Rolle des [X.] und die Grenze zu einer normsetzenden Instanz überschreiten (vgl. [X.] 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15 [X.] - Rn. 36 ff. und 49; 26. September 2011 - 2 [X.][X.] - Rn. 50 und 56). Die Pflicht zur Verwirklichung eines - vermeintlichen - Richtlinienziels darf aber nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen ([X.] 12. Mai 2022 - [X.]/20 - [[X.]] Rn. 57; 15. Januar 2014 - [X.]/12 - [[X.]] Rn. 39; [X.] 17. November 2017 - 2 BvR 1131/16 - Rn. 37; 26. September 2011 - 2 [X.] [X.] - Rn. 47). Wann letzteres der Fall ist, haben allein die nationalen Gerichte zu beurteilen (vgl. [X.] 21. Januar 2021 - [X.]/19 - [[X.]] Rn. 62 ff.; 16. Juli 2009 - [X.]/08 - [Mono Car Styling] Rn. 62 ff.; [X.] 10. Dezember 2014 - 2 BvR 1549/07 - Rn. 31). Ein diesbezügliches Vorabentscheidungsersuchen wäre unzulässig. Der Gerichtshof ist nicht befugt, das Recht eines Mitgliedstaats auszulegen ([X.] 26. Januar 2021 - [X.]/19 - [[X.]] Rn. 31; 21. September 2017 - [X.]/16 - [[X.] [X.]] Rn. 23).

[X.]) Zum anderen ist eine richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] als eine die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige regelnde Mussvorschrift nicht geboten. Durch die - aufgrund ihrer präjudiziellen Wirkung ([X.] 28. Juli 2021 - 10 [X.] 397/20 (A) - Rn. 35 ff.) vom [X.] zugrunde zu legende - Rechtsprechung des Gerichtshofs ist geklärt, dass die betreffenden Angaben nicht gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 [X.] in der Anzeige enthalten sein müssen.

(1) Nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 [X.] hat der Arbeitgeber der zuständigen Behörde „alle beabsichtigten Massenentlassungen … anzuzeigen“. Das Tatbestandsmerkmal, dass ein Arbeitgeber Massenentlassungen „beabsichtigt“, entspricht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einem Fall, in dem noch keine Entscheidung getroffen worden ist ([X.] 10. Dezember 2009 - [X.]/08 - [[X.] [X.]] Rn. 48; 27. Januar 2005 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 36). Die Anzeigepflichten entstehen nach seiner inzwischen gefestigten Auffassung vor einer Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung von Arbeitsverträgen ([X.] 21. September 2017 - [X.]/16 - [[X.] [X.]] Rn. 32; 21. September 2017 - C-149/16 - [X.] [X.]] Rn. 29; 10. Dezember 2009 - [X.]/08 - aaO; 10. September 2009 - [X.]/08 - [[X.] Keskusliitto AEK [X.]] Rn. 38; 27. Januar 2005 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 37). Danach verlangt die [X.] nicht, „dass die Kündigung im [X.]punkt der Erstattung der Anzeige auf den einzelnen Arbeitnehmer ‚heruntergebrochen‘, die Entscheidung, ... welche Arbeitnehmer zu entlassen sind, also bereits gefallen ist“ (so aber - jeweils nicht tragend - [X.] 13. Februar 2020 - 6 [X.] 146/19 - Rn. 71, [X.]E 169, 362; 13. Juni 2019 - 6 [X.] - Rn. 31, [X.]E 167, 102). Es ist im Gegenteil unionsrechtlich mindestens zulässig, dass der Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige bereits erstattet, wenn die Identität der (voraussichtlich) zu entlassenden Arbeitnehmer noch nicht feststeht, also im Sinne der Rechtsprechung des [X.] noch keine Entscheidung über die Beendigung bestimmter Arbeitsverhältnisse getroffen wurde. Dem entspricht es, dass der aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b [X.] übernommene Katalog von Angaben, die „insbesondere“ in der Massenentlassungsanzeige enthalten sein müssen, in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 [X.] nicht einmal die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer umfasst, sondern nur deren Zahl. Wenn aber die [X.] nicht verlangt, dass die konkret zu entlassenden Mitarbeiter bei Erstattung der Anzeige bereits feststehen, können auf bestimmte Arbeitnehmer bezogene Angaben - wie diejenigen gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 [X.] - keine unionsrechtlich gebotene Voraussetzung für die Wirksamkeit der Anzeige sein ([X.]/[X.] 2022, 41, 44; vgl. insoweit auch [X.] 13. Juni 2019 - 6 [X.] - Rn. 25, [X.]E 167, 102).

(2) Der [X.] weist nur ergänzend darauf hin, dass es gleichwohl der zuständigen Behörde iSv. Art. 4 Abs. 2 [X.] ermöglicht wird, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (zu diesem Zweck der Massenentlassungsanzeige [X.] 27. Januar 2005 - [X.]/03 - [[X.]] Rn. 47), also die besonderen sozioökonomischen Auswirkungen zu bewältigen, die solche Entlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten [X.] Umgebung hervorrufen können (vgl. [X.] 13. Mai 2015 - [X.]/13 - [[X.] [X.]] Rn. 32; 15. Februar 2007 - C-270/05 - [[X.]] Rn. 28). Hierfür genügt es, dass sie sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen kann (insoweit zutreffend [X.] 13. Februar 2020 - 6 [X.] 146/19 - Rn. 71 und 109, [X.]E 169, 362).

(3) Ebenfalls lediglich weiterführend merkt der [X.] an, dass der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“ nach der aufgezeigten Auslegung der [X.] auch nicht deshalb nach der Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB verlangt, weil der betreffende Arbeitnehmer nicht „von der Massenentlassungsanzeige erfasst“ war (so aber [X.] 28. Juni 2012 - 6 [X.] 780/10 - Rn. 50, [X.]E 142, 202) oder der Arbeitgeber in der Anzeige nicht einmal die „Kategorie“ (korrekt) angegeben hat, der dieser Arbeitnehmer zuzurechnen ist. Sollte der Arbeitgeber die angezeigte Zahl der insgesamt zu entlassenden Arbeitnehmer überschreiten, dürfte dies die auf die bevorstehende Massenentlassung bezogene Tätigkeit der [X.] nur beeinflussen können, wenn es sich um eine derart erhebliche Abweichung handelt, dass sie „mit einer solchen Flut“ nicht rechnen musste und deshalb ihre Vermittlungsbemühungen nicht entsprechend einrichten konnte. Allenfalls dann dürfte es, um der [X.] nicht ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen, geboten sein, die Nichtigkeit - in diesem Fall aber möglicherweise aller betreffenden Kündigungen - nach § 134 BGB anzunehmen.

II. Die Kündigung ist, selbst wenn sie im Zuge einer Massenentlassung erfolgt sein sollte, auch nicht unmittelbar wegen eines Verstoßes gegen [X.]srecht unwirksam oder nichtig, was der [X.] ebenfalls ohne ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 Abs. 3 A[X.]V entscheiden kann. Dies setzte voraus, dass Primärrecht der [X.], zB die [X.] (GRC), für sich genommen dem Arbeitnehmer ein subjektives, als solches geltend zu machendes und über die aufgezeigten sekundärrechtlichen Vorgaben der [X.] hinausgehendes Recht verliehe, dass in einer Massenentlassungsanzeige auf seine Person bezogene Angaben enthalten sind. Daran fehlt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegend schon deshalb, weil - anders als etwa Art. 21 GRC (Nichtdiskriminierung) - sowohl Art. 27 GRC (Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen) als auch Art. 30 GRC (Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung) durch Bestimmungen des [X.]srechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden müssen, was insbesondere darin zum Ausdruck kommt, dass sie selbst auf die Fälle und Voraussetzungen abstellen, die nach dem [X.]srecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind ([X.] 15. Januar 2014 - [X.]/12 - [[X.]] Rn. 44 f.).

III. Der [X.] kann nicht selbst entscheiden, ob das vom Arbeitsgericht erlassene Versäumnisurteil auch hinsichtlich der Abweisung des Kündigungsschutzantrags aufrechtzuerhalten ist (§ 563 Abs. 3, § 343 Satz 1 ZPO). Das [X.] hat dahinstehen lassen, ob die Massenentlassungsanzeige vor Zugang der streitbefangenen Kündigung bei der [X.] eingegangen ist. Sollte dies nicht der Fall gewesen sein, wäre die Kündigung, falls sie im Zuge einer Massenentlassung erfolgt sein sollte, gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] iVm. § 134 BGB nichtig (vgl. [X.] 27. Januar 2022 - 6 [X.] (A) - Rn. 21; 21. März 2013 - 2 [X.] 60/12 - Rn. 31 ff., [X.]E 144, 366).

        

    Rachor    

        

    Schlünder    

        

    Niemann    

        

        

        

    Starke    

        

    B. Schipp    

                 

Meta

2 AZR 424/21

19.05.2022

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Frankfurt, 5. Februar 2020, Az: 11 Ca 4532/19, Versäumnisurteil

§ 17 KSchG, Art 3 Abs 1 EURL 2015/1794, § 134 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.05.2022, Az. 2 AZR 424/21 (REWIS RS 2022, 3251)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3251

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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