Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.10.2022, Az. XIII ZB 5/20

13. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 7856

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Gegenstand

Abschiebungshaft: Maximaler zeitlicher Puffer für die Haftdauer nach Planung des Abschiebungstermins


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beschluss der 1. Zivilkammer des [X.] vom 17. Januar 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des [X.] vom 11. Dezember 2019 auch für den Zeitraum vom 16. bis 23. Januar 2020 zurückgewiesen worden ist.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Mühl-hausen vom 11. Dezember 2019 den Betroffenen im Zeitraum vom 16. bis 23. Januar 2020 in seinen Rechten verletzt hat.

Von den in erster und zweiter Instanz entstandenen Gerichtskosten mit Ausnahme der [X.], die nicht erhoben werden, und seinen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen trägt der Betroffene 64 %. Von den im Rechtsbeschwerdeverfahren entstandenen Gerichtskosten und seinen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen trägt der Betroffene 82 %. Weitere Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der [X.] hat dem Betroffenen 36 % seiner Auslagen in erster und zweiter Instanz sowie 18 % seiner Auslagen in der [X.] zu erstatten.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste erstmals im August 2017 in das [X.] ein. Sein Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. Eine für den 14. Oktober 2019 geplante Abschiebung und eine für den 29. Oktober 2019 organisierte freiwillige Ausreise des Betroffenen scheiterten, weil dieser sich jeweils nicht in der Gemeinschaftsunterkunft aufhielt. Am 10. Dezember 2019 wurde der Betroffene festgenommen.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 11. Dezember 2019 Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis zum 4. Februar 2020 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Beschwerdegericht mit Beschluss vom 17. Januar 2020 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde erstrebt der Betroffene nach seiner Abschiebung nach [X.] am 23. Januar 2020 die Feststellung, dass er durch die angeordnete Haft in seinen Rechten verletzt worden ist.

3

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

4

1. Das Beschwerdegericht hat den Haftantrag der beteiligten Behörde für zulässig und die Haftanordnung durch das Amtsgericht für rechtmäßig erachtet. Die Behörde habe sich im Haftantrag zu [X.] nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG erforderlichen Punkten geäußert; die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung und ihrer Dauer seien ebenso dargelegt worden wie die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung. Die Dauer der Haft sei verhältnismäßig. Die Behörde habe ausreichend begründet, warum eine Abschiebung erst zu dem benannten Zeitpunkt möglich sei.

5

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht in [X.] Punkten stand.

6

a) Allerdings fehlt es im Streitfall nicht an einem zulässigen Haftantrag.

7

aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 15. September 2011 - [X.] 123/11, [X.] 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - [X.], [X.] 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - [X.]/19, juris Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in [X.] erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 27. Oktober 2011 - [X.] 311/10, [X.] 2012, 82 Rn. 13; vom 20. April 2021 - [X.] 36/21, juris Rn. 6 mwN).

8

bb) Diesen Anforderungen genügt der Haftantrag der beteiligten Behörde vom 10. Dezember 2019.

9

(1) Darin wird ausgeführt, nach Auskunft der Zentralen [X.] beim [X.] Landesverwaltungsamt sei eine Abschiebung des Betroffenen nach [X.] frühestens am 9. Januar 2020 möglich. Eine konkrete Buchungsbestätigung liege jedoch noch nicht vor. Zum Zweck der Abschiebung sei ein EU-Laissez-Passer ausgestellt worden. Die Haft werde vorsorglich bis zum 4. Februar 2020 beantragt, da der Betroffene bei Weigerung, das Flugzeug zu betreten, zurück in die Aufnahmeeinrichtung für Abschiebehaft nach [X.] verbracht und dann eine neue Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung terminiert werden müsse, die eine längere Vorbereitungszeit erfordere.

(2) Diese Informationen haben dem Haftrichter eine hinreichende tatsächliche Grundlage dafür verschafft, selbständig zu beurteilen, welcher Haftzeitraum (zunächst) notwendig war, um die Abschiebung des Betroffenen sicherzustellen. Dies genügt für einen zulässigen Haftantrag. Dass die von der beteiligten Behörde mitgeteilte Tatsachengrundlage nicht geeignet war, eine Haftanordnung bis zum 4. Februar 2020 zu rechtfertigen, ändert an der Zulässigkeit des [X.] nichts. Zweck des [X.] ist es, den [X.] und den Betroffenen durch die Angaben der Behörde in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der beantragten Haft zu prüfen. Inwieweit die Angaben in dem Haftantrag der beteiligten Behörde eine tragfähige Grundlage für die beantragte Haft bieten, ist dagegen keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit des [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 26. Januar 2021 - [X.] 14/19, juris Rn. 12 mwN).

b) Die Haftanordnung stellt sich aber für den Zeitraum ab dem 16. Januar 2020 als rechtswidrig dar, weil die vom Amtsgericht festgestellten Tatsachen insoweit eine Inhaftierung des Betroffenen nicht tragen.

aa) Die Haftgerichte sind nach Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und nach § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von [X.] in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Der [X.] hat nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG die Verantwortung für das Vorliegen der Voraussetzungen der von ihm angeordneten oder bestätigten Haft zu übernehmen. Dazu muss er die Tatsachen feststellen, die die Freiheitsentziehung rechtfertigen ([X.], Beschlüsse vom 20. Oktober 2016 - [X.] 167/14, juris Rn. 9; vom 26. Januar 2021 - [X.] 14/19, NVwZ 2017, 733 [Ls.] = juris Rn. 14).

bb) Der vom Amtsgericht festgestellte Sachverhalt hätte lediglich eine Haftanordnung bis zum 15. Januar 2020 gerechtfertigt. Nach den Angaben im Haftantrag ging die beteiligte Behörde aufgrund der Auskunft der Zentralen [X.] beim [X.] Landesverwaltungsamt davon aus, dass eine Abschiebung des Betroffenen nach [X.] am 9. Januar 2020 zwar mangels konkreter Buchungsbestätigung nicht sicher, aber möglich sei. Die Beantragung von Haft nach diesem Datum bis einschließlich 4. Februar 2020 hat sie damit begründet, dass der für den 9. Januar 2019 geplante unbegleitete Flug möglicherweise wegen einer Weigerung des Betroffenen, das Flugzeug zu betreten, scheitern könnte. Damit ging die beteiligte Behörde zunächst davon aus, dass eine unbegleitete Abschiebung durchgeführt werden könnte. Vor diesem Hintergrund musste das Amtsgericht die Haft zwar nicht auf den 9. Januar 2020 begrenzen; es durfte der beteiligten Behörde vielmehr noch einen zeitlichen Puffer für allfällige Verzögerungen bis zum 15. Januar 2020 einräumen. Für einen weitergehenden Zeitaufschlag bietet der festgestellte Sachverhalt jedoch keine Grundlage, sodass sich die angeordnete Haft ab dem 16. Januar 2020 als unzulässige Vorratshaft darstellt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. Oktober 2016 - [X.] 167/14, NVwZ 2017, 733 [Ls.] = juris Rn. 13 mwN; vom 6. Oktober 2020 - [X.] 85/19, juris Rn. 20).

c) Der Mangel ist im Beschwerdeverfahren nicht - was mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre (st. Rspr., vgl. [X.], Beschlüsse vom 21. März 2019 - [X.] 171/18, [X.] 2019, 389 juris Rn. 6; vom 20. Mai 2020 - [X.] 77/19, juris Rn. 11) - geheilt worden. Zwar hat die beteiligte Behörde dem Beschwerdegericht am 7. Januar 2020 mitgeteilt, die Zentrale [X.] habe soeben darüber informiert, dass die geplante Abschiebung des Betroffenen am 9. Januar 2020 aus Sicherheitsgründen nicht möglich sei. Der Betroffene müsse nach Rücksprache mit der [X.] begleitet durch Polizeibeamte in das Heimatland abgeschoben werden, da ein Eintrag im [X.] wegen der Verwendung eines Messers vorhanden sei, der keine andere Handlungsweise zulasse. Der Betroffene solle nunmehr im Rahmen eines Sammelcharters unter Begleitung durch die [X.] am 23. Januar 2020 nach [X.] abgeschoben werden. Daraus hat das Beschwerdegericht geschlossen, dass sich die bereits im Haftantrag angesprochene Gefahr einer weiteren Verschiebung realisiert habe. Zu diesen neu eingeführten, die Einschätzung seiner Person betreffenden Umständen ist der Betroffene aber - was zwingend erforderlich gewesen wäre (vgl. [X.], Beschluss vom 19. Mai 2020 - [X.] 17/19, juris Rn. 12 mwN) - vom Beschwerdegericht nicht persönlich angehört worden.

3. Im Übrigen wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG von einer Begründung abgesehen.

[X.]     

  

[X.]     

  

Tolkmitt

  

Picker     

  

Rombach     

  

Meta

XIII ZB 5/20

25.10.2022

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Mühlhausen, 17. Januar 2020, Az: 1 T 2/20

§ 26 FamFG, § 417 Abs 2 S 1 FamFG, § 417 Abs 2 S 2 Nr 3 FamFG, § 417 Abs 2 S 2 Nr 4 FamFG, § 417 Abs 2 S 2 Nr 5 FamFG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, Art 104 Abs 2 S 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.10.2022, Az. XIII ZB 5/20 (REWIS RS 2022, 7856)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7856

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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