Bundessozialgericht, Urteil vom 09.03.2022, Az. B 7/14 AS 30/21 R

7. Senat | REWIS RS 2022, 2411

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche - Unionsbürger - anderes Aufenthaltsrecht - Arbeitnehmerfreizügigkeit - abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Eltern durch Wahrnehmung der elterlichen Sorge für ein die Schule besuchendes Kind


Tenor

Auf die Revisionen der Kläger werden die Urteile des [X.] vom 19. Dezember 2017 und des [X.] vom 14. April 2016 sowie der Bescheid des Beklagten vom 18. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2015 aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über den Antrag vom 12. März 2015 auf [X.] bzw Sozialgeld endgültig zu entscheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

1

[X.] sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für April bis September 2015.

2

Die Klägerin (geboren 1988) und der Kläger zu 2 (geboren 1972) sind die Eltern des 2007 geborenen [X.] zu 3 und des 2011 geborenen [X.] zu 4. Alle sind l Staatsangehörige. Die Kläger zu 1 bis 3 hielten sich ab Juli 2010 in [X.] auf, der Kläger zu 4 ist in [X.] geboren. Der Kläger zu 3 wurde im August 2013 eingeschult und besuchte fortlaufend die Grundschule. Ab Oktober 2016 wohnten die Kläger wieder in L.

3

Die Klägerin war vom 23.6. bis 30.9.2014 bei einer Gebäudereinigungsfirma sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Für die Kinder wurde monatliches Kindergeld von je 186 Euro an den Kläger zu 2 gezahlt. Das beklagte Jobcenter bewilligte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] für die Zeit vom [X.] bis 31.3.2015.

4

Den Antrag (vom 12.3.2015) auf Bewilligung von Leistungen ab 1.4.2015 lehnte der [X.] ab (Bescheid vom 18.3.2015; Widerspruchsbescheid vom 27.4.2015); der Arbeitnehmerstatus der Klägerin sei, ausgehend vom unfreiwilligen Ende ihrer Beschäftigung zum 30.9.2014, am 31.3.2015 erloschen. Während des laufenden Widerspruchsverfahrens verpflichtete das [X.] den [X.]n auf einen Eilantrag hin, den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 1.4. bis [X.] in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Beschluss des [X.] vom 14.4.2015), was der [X.] auch umsetzte (zwei Bescheide vom 17.4.2015).

5

Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des [X.] vom 14.4.2016; Urteil des L[X.] vom 19.12.2017). Die Kläger seien nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 [X.] (in der bis einschließlich 28.12.2016 geltenden Fassung, künftig: aF) von Leistungen nach dem [X.] ausgeschlossen, denn ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Der Klägerin habe aus ihrer Beschäftigung bis 30.9.2014 nur ein [X.] Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs 2 [X.] 3 Satz 2 [X.]/[X.] für die Dauer von sechs Monaten, also bis 31.3.2015. Der Kläger zu 2 sei in der [X.] noch nie erwerbstätig gewesen, sodass auch er allenfalls zur Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt gewesen sei. Folglich unterfielen auch die Kläger zu 3 und 4 als Familienangehörige dem [X.] des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 [X.] aF. Das Aufenthaltsrecht des [X.] zu 3 wegen des Schulbesuchs nach Art 10 VO ([X.]) [X.]/2011 begründe kein eigenständiges, davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Klägerin und der Kläger zu 2 und 4. Dies habe der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 [X.] durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem [X.] und nach dem [X.]B XII vom 22.12.2016 ([X.] 3155) bekräftigt. Leistungsansprüche nach § 23 [X.]B XII seien ebenfalls ausgeschlossen. Der entgegenstehenden Rechtsprechung des B[X.] vermöge man sich nicht anzuschließen.

6

Mit ihren vom L[X.] zugelassenen Revisionen rügen die Kläger ua eine Verletzung von Art 10 VO ([X.]) [X.]/2011. Der [X.] habe, nachdem das Verfahren vor dem B[X.] deshalb ausgesetzt gewesen sei, mittlerweile entschieden (vgl [X.] vom 6.10.2020 - [X.] - [X.]:[X.] = [X.] 2021, 43), dass Art 7 Abs 2 und Art 10 VO ([X.]) [X.]/2011 einer Regelung wie § 7 Abs 1 Satz 2 [X.] c [X.] in der Normfassung des [X.], nach der ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seine minderjährigen Kinder, die alle im Aufenthaltsstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art 10 VO ([X.]) [X.]/2011 genießen, weil die Kinder dort die Schule besuchen, unter allen Umständen automatisch vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ausgeschlossen seien. Hilfsweise rügen die Kläger einen Verstoß gegen die §§ 21, 23 [X.]B XII. Selbst wenn sie von Leistungen nach dem [X.] ausgeschlossen wären, würde nach ständiger Rechtsprechung des B[X.] ein Anspruch auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs 1 Satz 3 [X.]B XII aF bestehen.

7

Die Kläger beantragen,

unter Aufhebung der Urteile des [X.] vom 19. Dezember 2017 und des [X.] vom 14. April 2016 und des Bescheids des [X.]n vom 18. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2015 den [X.]n zu verpflichten, ihnen Leistungen nach dem [X.] für den Zeitraum vom 1. April bis 30. September 2015 zu gewähren,

 hilfsweise,

unter Aufhebung der Urteile des [X.] vom 19. Dezember 2017 und des [X.] vom 14. April 2016 den Beigeladenen zu verurteilen, Sozialhilfe für den Zeitraum vom 1. April bis 30. September 2015 zu gewähren.

8

Der [X.] beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

9

Die Kläger könnten sich nicht auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO ([X.]) [X.]/2011 berufen. Denn die Klägerin sei weder zum Zeitpunkt der Wohnsitznahme in der [X.] noch der Einschulung des [X.] zu 3 Wanderarbeitnehmerin in [X.] gewesen. Dies unterscheide den vorliegenden Sachverhalt von dem der [X.]-Entscheidung vom 6.10.2020 zugrundeliegenden als auch der Entscheidung des B[X.] vom [X.] (B 14 [X.]/19 R).

Der Beigeladene hat sich nicht zum Verfahren geäußert und keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revisionen der Kläger, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 [X.]G), sind begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 [X.]G). Den Klägern stehen im streitbefangenen [X.]raum die bereits vorläufig bewilligten Leistungen ([X.]/Sozialgeld) endgültig zu; ein Leistungsausschluss besteht nicht.

1. Gegenstand des Verfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen nur der Bescheid vom 18.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.4.2015, mit dem der Beklagte einen Anspruch der Kläger auf [X.]/Sozialgeld wegen eines nach § 7 Abs 1 Satz 2 [X.]B II aF bestehenden Leistungsausschlusses abgelehnt hat. Nicht nach § 86 [X.]G Gegenstand des Widerspruchs- und damit auch nicht des Klageverfahrens geworden sind hingegen die Bescheide vom 17.4.2015, mit denen der Beklagte die Entscheidung des [X.] im vorläufigen Rechtsschutz umgesetzt hat (sog Ausführungsbescheide; zur vergleichbaren Fallkonstellation vgl nur B[X.] vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - B[X.]E 120, 149 = [X.]-4200 § 7 [X.], Rd[X.]2). Dass der Beklagte die Bescheide formal auf § 40 Abs 2 [X.]B II iVm § 328 [X.]B III gestützt hat, ist unschädlich. Denn nach ihrem eindeutigen Erklärungsgehalt wollte der Beklagte keine eigenständige Regelung treffen, sondern ausdrücklich nur die Entscheidung des [X.] ausführen. Dies folgt aus der Auslegung der Bescheide anhand des objektiven Empfängerhorizonts, zu der das B[X.] als Revisionsgericht befugt ist (dazu eingehend B[X.] vom 25.10.2017 - [X.] [X.]/17 R - [X.]-1300 § 45 [X.] RdNr 21 ff).

2. [X.] stehen einer Sachentscheidung des Gerichts nicht entgegen. Ihren Anspruch auf [X.]/Sozialgeld verfolgen die Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 56 [X.]G), weil sie die begehrte Leistung vom Beklagten im Ergebnis eines einstweiligen [X.] bereits erhalten haben und keinen Anspruch auf höhere Leistungen geltend machen, der mit der (kombinierten) Leistungsklage zu verfolgen wäre. Mit der Verpflichtung zum Erlass eines Verwaltungsakts wird zugunsten der Kläger ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen dieser Leistungen geschaffen; denn die einstweilige Anordnung verliert mit der endgültigen Entscheidung ihre Rechtswirkungen (B[X.] vom 3.12.2015 - B 4 AS 49/14 R - juris Rd[X.]4 mwN; B[X.] vom 9.12.2016 - [X.] [X.] 8/15 R - B[X.]E 122, 154 = [X.]-3500 § 53 [X.], Rd[X.]7; B[X.] vom 18.7.2019 - [X.] [X.] 4/18 R - [X.]-3500 § 54 [X.] Rd[X.]1). Der Anspruch der Kläger ist auch zulässigerweise auf den Erlass eines Grundurteils gerichtet, das auch bei einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft sein kann, wenn im Streit lediglich das Behaltendürfen einer bereits erbrachten Leistung steht (vgl zur vergleichbaren Situation der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage bei Klage auf zuschussweise statt darlehensweiser Leistung B[X.] vom 9.12.2016 - [X.] [X.] 15/15 R - [X.]-3500 § 90 [X.] Rd[X.]6; vgl auch B[X.] vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R - B[X.]E 126, 294 = [X.]-4200 § 41a [X.], Rd[X.]1).

3. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf [X.]/Sozialgeld sind §§ 7 ff, 19 ff [X.]B II in der Fassung, die das [X.]B II durch die Bekanntmachung der Neufassung des [X.] vom 13.5.2011 ([X.]) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/15 R - [X.]-4200 § 11 [X.] Rd[X.]4 f). Insbesondere lässt sich dem Gesetz vom 22.12.2016 nicht entnehmen, dass es sich Geltung für die [X.] vor seinem Inkrafttreten am 29.12.2016 beimisst (dazu zuletzt B[X.] vom 27.1.2021 - [X.] [X.]/19 R - Rd[X.]0 mwN).

4. Die Kläger erfüllten im streitbefangenen [X.]raum die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach dem [X.]B II (dazu 5.). Sie sind nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 [X.]B II von Leistungen nach dem [X.]B II ausgeschlossen, weil sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 berufen konnten (dazu 6.). Der Kläger zu 3 besuchte die Schule und die Klägerin war nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin (dazu 7.). Auch die weiteren Voraussetzungen aus Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 lagen vor (dazu 8.).

5. Nach § 7 Abs 1 Satz 1 [X.]B II aF erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.] haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Die erwerbsfähige Klägerin und der Kläger zu 2 hatten das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a [X.]B II noch nicht erreicht und hatten nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des L[X.] ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.]. Die Kläger zu 3 und 4 können als minderjährige, dem Haushalt der Klägerin und des [X.] zu 2 angehörende Kinder Ansprüche auf Sozialgeld haben (§ 7 Abs 3 [X.], § 19 Abs 1 Satz 2, § 23 [X.]B II). Die Kläger waren auch hilfebedürftig, denn sie verfügten nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des L[X.] mit Ausnahme des für die Kläger zu 3 und 4 an den Kläger zu 2 gezahlten Kindergelds weder über Einkommen noch Vermögen.

6. Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 [X.]B II aF sind "ausgenommen" - also keine leistungsberechtigten Personen iS des § 7 Abs 1 Satz 1 [X.]B II und § 7 Abs 2 [X.]B II und ohne Leistungsberechtigung nach dem [X.]B II - Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Von diesem Leistungsausschluss umfasst sind erst recht die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der [X.], die keine [X.] Staatsangehörigkeit besitzen ([X.]-Ausländer) und nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem [X.]/[X.] oder ein Aufenthaltsrecht nach dem [X.] verfügen. Bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes bzw bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche hindert sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 [X.]B II aF bzw lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (vgl zuletzt B[X.] vom 27.1.2021 - [X.] [X.]/19 R - Rd[X.]5 mwN).

Ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 steht in diesem Sinne einem Leistungsausschluss entgegen (B[X.] vom 3.12.2015 - B 4 [X.]/15 R - B[X.]E 120, 139 = [X.]-4200 § 7 [X.]6, RdNr 27; B[X.] vom 27.1.2021 - [X.] AS 25/20 R - [X.]-4200 § 7 [X.]9; B[X.] vom 27.1.2021 - [X.] [X.]/19 R, juris; [X.] vom 6.10.2020 - [X.]/19 - [X.]:[X.] = [X.] 2021, 43 zu § 7 Abs 1 Satz 2 [X.] c [X.]B II idF vom 22.12.2016, [X.] 3155). Nach Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats (hier L), der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier in der [X.]) beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht teilnehmen. Dieses Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur weiteren Teilnahme am Unterricht (vgl [X.] vom 6.10.2020 - [X.]/19 - [X.]:[X.] = [X.] 2021, 43, Rd[X.]5) vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht (vgl im Einzelnen B[X.] vom 3.12.2015 - B 4 [X.]/15 R - B[X.]E 120, 139 = [X.]-4200 § 7 [X.]6, RdNr 27, 29 ff; zuletzt zusammenfassend B[X.] vom 27.1.2021 - [X.] AS 25/20 R - [X.]-4200 § 7 [X.]9 und [X.] [X.]/19 R, juris). Das Recht knüpft an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils an, reicht aber zeitlich über die Beschäftigung hinaus. Mit dem Erfordernis der (früheren) Beschäftigung verweist Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 auf den Arbeitnehmerbegriff des Art 45 A[X.]V, wovon auch der [X.] ausgeht ([X.] vom 6.10.2020 - [X.]/19 - [X.]:[X.] = [X.] 2021, 43, Rd[X.]5 ff) und was sich im Übrigen aus der zu Art 10 gehörenden [X.] und dem Sinn und Zweck der [X.] ([X.]) [X.]/2011 ergibt, das Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erreichen (Erwägungsgrund [X.] der [X.] <[X.]> [X.]/2011).

7. Die Klägerin war während ihrer von Juni bis September 2014 ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin. Der freizügigkeitsrechtliche Begriff des Arbeitnehmers ist als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts unionsrechtlich zu bestimmen ([X.] vom 23.3.1982 - [X.]/81 - [X.], [X.]:C:1982:105, Slg 1982, 1035 Rd[X.]1 = NJW 1983, 1249; zur Bedeutung dieses Begriffs und dem der Beschäftigung in anderen Regelungszusammenhängen vgl nur [X.] in [X.], Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl 2018, Teil 1, Art 45-48 A[X.]V Rd[X.]0; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Kommentar zum [X.] Arbeitsrecht, 4. Aufl 2022, Art 45 A[X.]V Rd[X.]0 ff; zum Arbeitnehmerbegriff auch [X.], [X.] 2016, 184, 188 ff; [X.], [X.] 2018, 327 ff; [X.], [X.] 2018, 3 ff) und nicht eng auszulegen ([X.] vom 21.2.2013 - [X.]/12, [X.]:[X.], Rd[X.]9 mwN); er muss mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Arbeitnehmerbegriff nicht übereinstimmen ([X.] aaO Rd[X.]0). In Abgrenzung zu Nichterwerbstätigen (dazu [X.], [X.] 2016, 184, 188, 192) ist jeder als "Arbeitnehmer" iS von Art 45 A[X.]V anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten [X.] für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält ([X.] vom 23.3.2004 - [X.]/02 - [X.], [X.]:[X.] = [X.] 2004, 490 RdNr 26; [X.] vom [X.] - [X.]/02 - [X.], [X.]:C:2004:488 = [X.] 2005, 757 Rd[X.]5; [X.] vom [X.] - [X.]/10 - [X.], [X.]:[X.] = NVwZ 2012, 688 RdNr 23; [X.] vom 19.6.2014 - [X.]/12 - [X.], [X.]:[X.] = [X.] 2014, 765 Rd[X.]3 f; [X.] vom 1.10.2015 - [X.]/14 - [X.], [X.]:[X.] = [X.] 2016, 222 RdNr 22).

Die Klägerin war nach den Feststellungen des L[X.] vom 23.6. bis 30.9.2014 sozialversicherungspflichtig bei einem Glas- und Gebäudereinigungsunternehmen beschäftigt gewesen; Gesichtspunkte, die gegen einen Arbeitnehmerstatus sprechen könnten, hat das L[X.] nicht mitgeteilt. Auch der Beklagte ist, wie die Bewilligung von [X.]/Sozialgeld für die [X.] ab 1.10.2014 zeigt, offenbar vom Arbeitnehmerstatus ausgegangen.

8. Die Kläger erfüllten auch die weiteren Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011. Der Kläger zu 3 besuchte ab August 2013 durchgehend die Grundschule und damit auch in der [X.], in der die Klägerin als Arbeitnehmerin tätig war. Die Klägerin sowie der Kläger zu 2 nahmen die elterliche Sorge für ihre Kinder tatsächlich wahr. Anders als der Beklagte meint, setzt das Aufenthaltsrecht aus Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 weder voraus, dass die Klägerin im [X.]punkt der Einschulung des [X.] zu 3 oder gar zum [X.]punkt der Wohnsitznahme in [X.] Arbeitnehmerin war. Schon der Wortlaut des Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011, wonach auch Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer Rechte aus der Verordnung ableiten können, spricht gegen das Verständnis des Beklagten. Dies hat auch der [X.] betont, wenn er ausführt, dass Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011 dem Kind im Zusammenhang mit dessen Anspruch auf Zugang zum Unterricht ein eigenständiges Aufenthaltsrecht einräumt, das nicht davon abhängig ist, dass der Elternteil oder die Eltern, die die elterliche Sorge für sie wahrnehmen, weiterhin Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat sind. Ebenso wenig hat der Umstand, dass der betreffende Elternteil nicht mehr Wanderarbeitnehmer ist, Auswirkungen auf dessen Aufenthaltsrecht nach Art 10 [X.] ([X.]) [X.]/2011, das demjenigen des Kindes entspricht, für das er die elterliche Sorge tatsächlich wahrnimmt ([X.] vom 6.10.2020 - [X.]/19 - [X.]:[X.] = [X.] 2021, 43 Rd[X.]7).

Keiner der vom Beklagten benannten Entscheidungen des [X.] kann Gegenteiliges entnommen werden. Der [X.] führte in der Entscheidung vom [X.] ([X.]/08 - [X.], [X.]:[X.] = NVwZ 2010, 887 - RdNr 67) unter Berufung auf die Entscheidung Baumbast ([X.] vom 17.9.2002 - [X.]/99, [X.]:[X.] = NJW 2002, 3610) im Gegenteil aus, dass das Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das der Elternteil genießt, dem die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers tatsächlich zukommt, während das Kind eine Ausbildung in diesem Staat absolviert, nicht von der Voraussetzung abhängt, dass einer der Elternteile des Kindes zu dem [X.]punkt, zu dem es seine Ausbildung begonnen hat, als Wanderarbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat berufstätig gewesen ist. Schließlich verweist der [X.] im Urteil vom 30.6.2016 ([X.]/15; [X.]:C:2016:487 = NVwZ 2016, 1471 Rd[X.]4) lediglich darauf, dass das Recht der Kinder von [X.] auf Zugang zur Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat davon abhänge, dass das betreffende Kind zuvor seinen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hatte. Dies war beim Kläger zu 3 nach den Feststellungen des L[X.] der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 [X.]G.

[X.]Harich                 [X.]

Meta

B 7/14 AS 30/21 R

09.03.2022

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: False

vorgehend SG Trier, 14. April 2016, Az: S 1 AS 104/15, Urteil

§ 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 vom 26.07.2016, § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU 2004, § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU 2004, Art 10 EUV 492/2011, Art 45 AEUV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 09.03.2022, Az. B 7/14 AS 30/21 R (REWIS RS 2022, 2411)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2411

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