Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.07.2011, Az. II ZB 11/10

2. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 4382

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Gegenstand

Kapitalanlegermusterverfahren: Bindungswirkung eines Vorlagebeschlusses bei verfahrensrechtlichen Mängeln


Leitsatz

1. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann .

2. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt nicht, wenn der Vorlagebeschluss trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens ist .

3. Fehler und Auslassungen des Vorlagebeschlusses bei der Bezeichnung der Beweismittel sowie der Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel können während des Musterverfahrens behoben werden und berechtigen das Oberlandesgericht daher nicht, den Vorlagebeschluss aufzuheben und an das Prozessgericht zurückzugeben .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerden der Kläger wird der Beschluss des [X.] des [X.] vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 52.631,58 € festgesetzt.

Gründe

1

I. Die Rechtsbeschwerdeführer machen - neben weiteren Klägern in gesonderten Verfahren - vor dem [X.] Schadensersatzansprüche wegen einer unzutreffenden [X.] der Beklagten zu 1 geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das [X.] am 12. November 2009 nach § 4 Abs. 1 Satz 1 [X.] beschlossen, eine Entscheidung des [X.] "herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die [X.] vom [X.] unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden".

2

Die Gründe des [X.] des [X.]s geben von dem Klagevortrag Einzelheiten zum Einstieg der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1 in die [X.] des [X.] und zu den den Anlegern hierzu in der [X.] vom 22. März 2000 angeblich verschwiegenen Tatsachen wieder. Der im Vorlagebeschluss angegebene Zeitpunkt der Klageerhebung sowie das in Bezug genommene Klagevorbringen, wann und zu [X.] Aktien der Beklagten zu 1 nach der [X.] erworben worden seien, betreffen dagegen offenkundig nicht die hiesigen Kläger, sondern die Klage eines Klägers aus einem Parallelverfahren vor dem [X.].

3

Mit Beschluss vom 11. März 2010 hat das [X.] ([X.], [X.], 51) den Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich ergangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätze aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das [X.] zurückgegeben. Dagegen richtet sich die - vom [X.] zugelassene - Rechtsbeschwerde der Kläger.

4

II. Das [X.] hat ausgeführt: Der Vorlagebeschluss leide an erheblichen Mängeln und sei daher keine taugliche Grundlage für das Musterverfahren. Die Bindungswirkung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 [X.] bestehe nicht uneingeschränkt und entfalle, wenn der Vorlagebeschluss - wie hier - an schweren verfahrensrechtlichen Mängeln leide. Insoweit seien die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Einschränkung der Bindung an einen Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO entsprechend heranzuziehen. Es könne offen bleiben, ob der Beschluss bereits deshalb aufzuheben sei, weil er unzureichende Feststellungen über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 [X.] (Aufführung der weiteren Musterfeststellungsanträge sowie deren Inhalt und Eintragung) enthalte. Denn es fehlten jedenfalls entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 [X.] ausreichende Angaben zum Inhalt der geltend gemachten Ansprüche der Kläger, zu den vorgebrachten Streitpunkten und deren Entscheidungserheblichkeit sowie zu Angriffs- und Verteidigungsmitteln. Bereits der in den Gründen des [X.] vorangestellte Klägervortrag betreffe offensichtlich nicht die hiesigen Kläger (andere Daten und Zahlen und einen anderen Klagezeitpunkt). Zum Vorbringen der Beklagten und zu den von diesen benannten Beweismitteln finde sich nichts.

5

III. [X.] ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Das [X.] ist gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 [X.] an den Vorlagebeschluss des [X.]s München I vom 12. November 2009 gebunden.

6

1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil das [X.] im ersten Rechtszug sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Der [X.] steht nicht entgegen, dass der Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 [X.] unanfechtbar ist. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit gilt nur für den Vorlagebeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des [X.], mit der der Vorlagebeschluss aufgehoben wird.

7

2. Der - nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 [X.] unanfechtbare - Vorlagebeschluss des [X.] ist nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 [X.] für das [X.] grundsätzlich bindend. Die Bindung ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Vorinstanz weder eingeschränkt noch ausnahmsweise entfallen.

8

a) Der angefochtenen Entscheidung ist allerdings darin zuzustimmen, dass bei Vorliegen bestimmter Umstände eine Bindungswirkung des [X.] nicht besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines [X.] sein kann. § 4 Abs. 1 Satz 2 [X.] findet dann keine Anwendung (vgl. [X.] in [X.], [X.], § 4 Rn. 31; [X.] in [X.], [X.], § 9 Rn. 7; KK-[X.]/Vollkommer, § 4 Rn. 90; ebenso im Ergebnis KG, [X.] vom 3. März 2009 - 4 Sch 2/06, juris Rn. 248, 258; vgl. zur Unanfechtbarkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 4 [X.] [X.], Beschluss vom 16. Juni 2009 - [X.], [X.], 1393 Rn. 10; Beschluss vom 8. September 2009 - [X.], juris Rn. 5; Beschluss vom 30. November 2010 - [X.], [X.], 147 Rn. 10 f.). Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der geltend gemachte Anspruch kann Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags sein, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.]. Mit der Feststellung, dass die [X.] vom 22. März 2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1 und 3 Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden, sollen anspruchsbegründende Voraussetzungen zu Schadensersatzansprüchen wegen falscher Kapitalmarktinformation geklärt werden.

9

b) Es kann dahinstehen, ob die Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 [X.] entfiele, wenn das [X.] auf die - nach der Rechtsprechung des [X.] ([X.], Beschluss vom 10. Juni 2008 - [X.], [X.]Z 177, 88 Rn. 24) unzulässige - Feststellung des Anspruchs selbst gerichtet wäre. Das [X.] des [X.] ist nicht auf die Feststellung eines Schadensersatzanspruches aus § 826 BGB dem Grunde nach gerichtet. Im Vordergrund steht vielmehr erkennbar die Frage nach der Unrichtigkeit der [X.] der Beklagten zu 1 vom 22. März 2000 und damit nach dem Vorliegen einer einzelnen anspruchsbegründenden Voraussetzung. Jedenfalls darin liegt ein nach § 1 Abs. 1 Satz 1 [X.] zulässiges [X.].

c) Ob die Bindungswirkung in entsprechender Anwendung der zu § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entwickelten Rechtsprechung in Ausnahmefällen bei Willkürentscheidungen entfallen kann, wie das [X.] in Übereinstimmung mit einem Teil der Literatur (vgl. KK-[X.]/Vollkommer, § 4 Rn. 87; [X.], Das Kapitalanleger-[X.]gesetzt [[X.]]: Anwendungsfragen und Rechtsdogmatik, 2011, [X.]) angenommen hat, kann ebenfalls dahinstehen. Denn der Vorlagebeschluss des [X.]s vom 12. November 2009 ist nicht im Sinne dieser Rechtsprechung willkürlich; er weist vielmehr lediglich einfache Rechtsfehler auf, die eine Durchbrechung der Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 [X.] nicht rechtfertigen (vgl. [X.], aaO, S. 285 f.).

aa) Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses kann nach der zu § 281 ZPO ergangenen Rechtsprechung des [X.] im Einzelfall dann entfallen, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs oder auf Willkür beruht. Willkür liegt erst dann vor, wenn dem Beschluss jede gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Es genügt aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist ([X.], Beschluss vom 15. März 1978 - [X.], [X.]Z 71, 69, 72 f.; Beschluss vom 10. Dezember 1987 - [X.] 809/87, [X.]Z 102, 338, 341; Beschluss vom 22. Juni 1993 - [X.], NJW 1993, 2810, 2811; Beschluss vom 10. Juni 2003 - [X.], NJW 2003, 3201, 3202; Beschluss vom 13. Dezember 2005 - [X.], [X.], 847 Rn. 12 f.; Beschluss vom 20. August 2007 - [X.], NJW-RR 2008, 370 Rn. 6).

bb) Der Vorlagebeschluss des [X.]s München I vom 12. November 2009 ist zwar unvollständig und teilweise inhaltlich falsch. Willkürlich ist der Vorlagebeschluss aber nicht. Willkürlich ist ein [X.] dann nicht, wenn er trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des [X.] darstellt. Der Vorlagebeschluss vom 12. November 2009 ist eine geeignete Grundlage, weil er den Anforderungen des § 4 Abs. 2 [X.] im Wesentlichen entspricht. Insbesondere gibt der Vorlagebeschluss ein [X.] (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 [X.]) sowie Streitpunkte (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 [X.]) an. Darüber hinaus bezeichnet er Beweismittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 [X.]) und enthält eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts des erhobenen Anspruchs und der dazu vorgebrachten Angriffsmittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 [X.]). Es ist ohne weiteres erkennbar, dass die Unrichtigkeit der [X.] vom 22. März 2000 sowie die darauf bezogene Kenntnis der Beklagten zu 2 und 3 im Rahmen der Anspruchsprüfung nach § 826 BGB festgestellt werden sollen.

d) Das [X.] war nicht berechtigt, aufgrund der zutreffend festgestellten Mängel den Vorlagebeschluss aufzuheben. Der Vorlagebeschluss ist mangelhaft, weil er sich entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 [X.] nicht mit dem Vortrag der Beklagten und den dazu angetretenen Beweisen auseinandersetzt. Außerdem betrifft der den Gründen des [X.] vorangestellte Klägervortrag offenkundig nicht die hiesigen Kläger und Rechtsbeschwerdeführer. Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 [X.] hat der Vorlagebeschluss die bezeichneten Beweismittel und eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel zu enthalten. Diese Punkte sollen es dem [X.] ermöglichen, das Musterverfahren vorzubereiten. Der Vorlagebeschluss dient insoweit der ersten Strukturierung, Ordnung und Aufbereitung des [X.]. Die im Vorlagebeschluss enthaltenen Tatsachenmitteilungen und Beweismittel bilden aber nicht bereits den abschließenden Verfahrensstoff des [X.]. Dieser ergibt sich vielmehr aus dem Vortrag der Beteiligten des [X.] (KK-[X.]/Vollkommer, § 4 Rn. 62, Rn. 73 f. sowie § 9 Rn. 95 f.; vgl. auch § 10 [X.]). Fehler des [X.] in diesem Bereich können daher während des [X.] behoben werden.

IV. Die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen, das auf der Grundlage des [X.] das Musterverfahren durchzuführen hat.

Gemäß § 6 [X.] ist das [X.] zunächst verpflichtet, den Vorlagebeschluss nach dessen Eingang im Klageregister öffentlich bekannt zu machen. Eine Verzögerung dieser Eintragung aufgrund von Mängeln des [X.] sieht § 6 [X.] nicht vor.

Das [X.] kann allerdings in dem Umfang, in dem eine Bindung an den Vorlagebeschluss nach dem oben Gesagten nicht besteht, den Musterfeststellungsantrag im [X.] gegebenenfalls (teilweise) als unzulässig zurückweisen. Bloße etwaige sprachliche Ungenauigkeiten kann es im [X.] durch Auslegung korrigieren (vgl. [X.], aaO, [X.] f.).

Bergmann                                    Caliebe                                   Drescher

                           [X.]

Meta

II ZB 11/10

26.07.2011

Bundesgerichtshof 2. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG München, 11. März 2010, Az: KAP 2/09, Beschluss

§ 4 Abs 1 S 2 Halbs 2 KapMuG, § 4 Abs 2 Nr 3 KapMuG, § 4 Abs 2 Nr 4 KapMuG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.07.2011, Az. II ZB 11/10 (REWIS RS 2011, 4382)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4382

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