Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.04.2012, Az. 2 BvR 1762/10

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 7243

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Aufrechterhaltung von Sicherungsverwahrung in Anwendung von § 67d Abs 3 S 1 StGB sowie § 2 Abs 6 StGB - Anforderungen für Entscheidung auf Grundlage der übergangsweise fortgeltenden Vorschriften nicht gewahrt - kein Wegfall des Rechtsschutzinteresses durch zwischenzeitliche fachgerichtliche Entscheidung bei erheblichem Grundrechtseingriff


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 7. Juli 2010 - 1 Ws 342/10 - und der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des [X.] mit dem Sitz in [X.] vom 4. Juni 2010 - [X.]/1994 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus in einem sogenannten "Altfall" im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.

I.

2

1. a) Der 1960 geborene Beschwerdeführer wurde unter anderem am 24. August 1983 durch das [X.] wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung, versuchter Vergewaltigung in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des [X.] vom 7. Februar 1983 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Das [X.] verurteilte ihn am 31. Januar 1989 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen sexueller Nötigung. Mit Urteil des [X.] vom 17. November 1992 wurde der Beschwerdeführer wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl und Hausfriedensbruch, letzterer in Tateinheit mit Sachbeschädigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

3

b) Die Sicherungsverwahrung wird seit 29. Mai 1996 gegen den Beschwerdeführer vollzogen; am 28. Mai 2006 waren zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollstreckt.

4

c) Mit angegriffenem Beschluss vom 4. Juni 2010 - [X.]/1994 - ordnete die auswärtige Strafvollstreckungskammer des [X.] mit dem Sitz in [X.] nach Anhörung des Beschwerdeführers und Einholung eines Gutachtens die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an. Zur Begründung führte es aus, es bestehe weiterhin die Gefahr, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Hanges Straftaten begehen werde, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, und stützte sich dabei auf die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und ein psychiatrisches Gutachten vom 12. März 2010, das sich hinsichtlich der äußerst ungünstigen Prognose mit einem früher eingeholten Gutachten deckte. Wegen der mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden Sexualdelikte sei die Unterbringung weiterhin verhältnismäßig. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot liege trotz der Dauer der Sicherungsverwahrung entgegen der Entscheidung des [X.] vom 17. Dezember 2009, die für die Strafvollstreckungskammer nicht bindend sei, nicht vor. Darüber hinaus setzte die Kammer eine Sperrfrist nach § 67e Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB fest, vor deren Ablauf ein weiterer Antrag des Beschwerdeführers auf Prüfung unzulässig sei.

5

d) Hiergegen richtete sich die sofortige Beschwerde zum [X.], die mit Beschluss vom 7. Juli 2010 - 1 Ws 342/10 - als unbegründet verworfen wurde. Der Senat schloss sich der Gefahrenprognose des [X.] an und führte aus, er nehme die Entscheidung des [X.] zur Kenntnis, könne ihr jedoch nicht folgen, weil sie insbesondere gegen den Schutz der Grundrechte der potentiellen Opfer der [X.] aus Art. 2 Abs. 2 GG verstoße.

6

e) Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde vom 7. August 2010. Sie war mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden, der darauf abzielte, den Beschwerdeführer sofort auf freien Fuß zu setzen.

7

Das [X.] lehnte den Erlass der einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16. August 2010 ab.

8

f) Mit Beschluss vom 27. Oktober 2011 hat die auswärtige Strafvollstreckungskammer des [X.] mit dem Sitz in [X.] die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mittlerweile für erledigt erklärt. Eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten könne aus konkreten Umständen, die in der Person des Beschwerdeführers liegen, nicht festgestellt werden. Die hohen Anforderungen an eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus seien nicht erfüllt, auch wenn ein hohes Risiko hinsichtlich versuchter oder vollendeter Vergewaltigungen aufgrund einer psychischen Störung des Beschwerdeführers im Sinne des [X.]es bestehe.

9

Gegen den Beschluss richtete sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft [X.], die mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 durch das [X.] als unbegründet verworfen wurde. Es schloss sich der Auffassung des [X.] an, dass die hochgradige Gefahr einer Begehung "schwerster" Sexualdelikte nicht ersichtlich sei.

2. Mit seiner gegen den Beschluss des [X.] vom 4. Juni 2010 und den Beschluss des [X.] vom 7. Juli 2010 gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG und Art. 20 Abs. 3 GG.

Das [X.] und das [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Dem [X.] hat das [X.] der Staatsanwaltschaft [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]), und gibt ihr statt. Nach den Maßstäben, die in der Rechtsprechung des [X.]s bereits geklärt sind (vgl. [X.] 128, 326 ff.), ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet (§ 93b, § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der mit der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus einhergehende erhebliche Grundrechtseingriff ([X.] 128, 326 <389>) lässt das Feststellungsinteresse des Beschwerdeführers trotz der zwischenzeitlich unter Bezugnahme auf das Senatsurteil vom 4. Mai 2011 ([X.] 128, 326 ff.) ergangenen Entscheidungen des [X.] und des [X.] fortbestehen (vgl. [X.] 91, 125 <133>; 108, 251 <268>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.

a) Der den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des [X.] von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ([X.]) ist, wie der [X.] des [X.]s mit Urteil vom 4. Mai 2011 ([X.] 128, 326 ff.) festgestellt hat, mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und, soweit er in Verbindung mit § 2 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des [X.] von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 begangen wurden, darüber hinaus mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar.

Aufgrund der Anordnung des [X.]s unter Nummer [X.] Buchstabe a des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter anwendbar, mit der Maßgabe, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des [X.] und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter ([X.] - [X.]) - Art. 5 des [X.] und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 ([X.]) - leidet. Zudem hatten die zuständigen Vollstreckungsgerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung gegeben sind. Lagen die Voraussetzungen nicht vor, hatten sie die Freilassung der betroffenen [X.] spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 anzuordnen (vgl. Nummer [X.] Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011). Die Überprüfungsfrist für die Erledigung der Sicherungsverwahrung beträgt überdies in der Konstellation des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB im Rahmen der Weitergeltung der Vorschrift abweichend von § 67e Abs. 2 des Strafgesetzbuchs ein Jahr (vgl. Nummer [X.] Buchstabe c des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011).

b) Dies zugrunde gelegt, verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Sie beruhen auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des [X.] von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ([X.]) und genügen nicht den Anforderungen, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der für weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des [X.]s vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Fachgerichte haben in den angegriffenen Entscheidungen namentlich nicht geprüft, ob nach diesen Maßstäben eine Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig war. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie im Zeitpunkt ihrer Entscheidungen das Urteil des [X.]s vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnten, weil dieses noch nicht ergangen war ([X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juni 2011 - 2 BvR 2846/09 -, [X.], S. 413 <415 f.>). Denn für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist ([X.] 128, 326 <408>).

3. Es ist daher festzustellen, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Sie sind jedoch nicht aufzuheben, da sie durch die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer vom 27. Oktober 2011 und des [X.] vom 15. Dezember 2011 mittlerweile prozessual überholt sind. Die Fachgerichte haben damit die mit der in Nummer [X.] Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 angeordnete erneute Sachprüfung durchgeführt.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 1762/10

17.04.2012

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 7. Juli 2010, Az: 1 Ws 342/10, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 Abs 6 StGB, § 67d Abs 3 S 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.04.2012, Az. 2 BvR 1762/10 (REWIS RS 2012, 7243)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7243

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