Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.06.2023, Az. B 12 KR 45/22 B

12. Senat | REWIS RS 2023, 4014

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Gebot des gesetzlichen Richters - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des [X.] vom 5. Oktober 2022 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin auf Leistungen aus einer Kapitallebensversicherung Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung ([X.]) und [X.] Pflegeversicherung ([X.]) zu zahlen hat.

2

Die Klägerin ist als nicht hauptberuflich Selbstständige seit dem [X.] bei der Beklagten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Am [X.] erhielt sie im Alter von 60 Jahren eine Kapitallebensversicherung in Höhe von 60 947,74 Euro ausgezahlt. Die Beklagte setzte Beiträge zur [X.] und [X.] auf Versorgungsbezüge, Arbeitseinkommen, Kapitalerträge und sonstige Einnahmen in Höhe von insgesamt 320,97 Euro monatlich fest, wobei der Betrag der Leistung aus der Kapitallebensversicherung mit 1/120 des [X.] für 120 Monate zugeordnet wurde (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom 16.5.2018). Die Klage ist erfolglos geblieben ([X.] vom 9.7.2020). Das [X.] hat die auf Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils sowie des Bescheids vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.5.2018 und in der Fassung des Bescheids vom [X.] gerichtete Berufung der Klägerin durch Beschluss nach § 153 Abs 4 [X.] zurückgewiesen (Beschluss vom 5.10.2022).

3

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem oben genannten Beschluss. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache insbesondere wegen der unterschiedlichen beitragsrechtlichen Belastung von freiwillig Versicherten und Pflichtversicherten aufgrund des ab 1.1.2020 geltenden Freibetrags nach § 226 Abs 2 SGB V geltend.

4

II. Die Entscheidung des [X.] nach § 153 Abs 4 [X.] ist wegen eines [X.] aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.

5

Das Berufungsgericht hat vorliegend durch Beschluss allein der Berufsrichter entschieden und damit die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) missachtet. Die Möglichkeit des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 Satz 1 [X.] ohne die Mitwirkung [X.] (vgl § 33 Abs 1 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 Alt 1 [X.]) war hier nicht eröffnet. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung ist ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen, da ein Verstoß gegen tragende Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens vorliegt (vgl B[X.] vom 8.10.2019 - [X.] KR 8/19 R - [X.], 186 = [X.] 4-1500 § 153 [X.], RdNr 11 ff).

6

Gegenstand des Klageverfahrens war zunächst der Bescheid der Beklagten vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.5.2018. Der während des Berufungsverfahrens ergangene weitere Bescheid vom [X.] ist - nach den Entscheidungsgründen des [X.] - gemäß § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 [X.] Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Die unabhängig vom Willen der Beteiligten kraft Gesetzes eintretende Klageänderung hindert die Beteiligten zwar nicht, über den Verfahrensgegenstand im Rahmen ihrer allgemeinen Dispositionsbefugnis zu verfügen und die Klage ausdrücklich auf die Anfechtung des Ausgangsverwaltungsakts zu beschränken. Eine solche Begrenzung des Streitgegenstands liegt aber nicht vor, da der Bescheid ausdrücklich in den Antrag miteinbezogen worden ist.

7

Über erst während des Berufungsverfahrens wirksam erlassene Verwaltungsakte, die einen mit dem Rechtsmittel bereits angefochtenen Verwaltungsakt abändern oder ersetzen iS des § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 [X.], hat das Berufungsgericht nicht zweitinstanzlich auf Berufung, sondern erstinstanzlich auf Klage zu befinden (stRspr; vgl B[X.] vom 8.10.2019 - [X.] KR 8/19 R - [X.], 186 = [X.] 4-1500 § 153 [X.], RdNr 13 mwN). Daher hätte vorliegend aufgrund mündlicher Verhandlung oder nach Zustimmung der Beteiligten (§ 124 Abs 2 [X.]) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil unter Beteiligung [X.] entschieden und - ausgehend von der Rechtsansicht des [X.] - die Klage gegen den im Berufungsverfahren erlassenen Beitragsbescheid abgewiesen werden müssen (vgl BSG Beschluss vom 22.11.2012 - [X.] P 10/12 B - [X.] 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.]). Für die notwendige erstinstanzliche Entscheidung bietet § 153 Abs 4 [X.] keine Grundlage. Das folgt sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch aus deren Regelungszweck. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 153 Abs 4 [X.] ist nicht danach zu differenzieren, ob die im Berufungsverfahren nach § 96 Abs 1 in Verbindung mit § 153 Abs 1 [X.] einzubeziehenden Verwaltungsakte eine wesentliche Änderung der prozessualen Situation mit sich bringen oder nicht (vgl im Einzelnen B[X.] vom 8.10.2019 - [X.] KR 8/19 R - [X.], 186 = [X.] 4-1500 § 153 [X.], RdNr 14 ff).

8

Der mit der gesetzeswidrigen Entscheidung des [X.] im Wege des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 [X.] einhergehende Verstoß einerseits gegen den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf eine Entscheidung durch [X.] (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) und andererseits gegen den das sozialgerichtliche Verfahren prägenden Grundsatz der Mitwirkung [X.] (§ 33 [X.]) ist als absoluter Revisionsgrund (§ 547 [X.] iVm § 202 Satz 1 [X.]) ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu berücksichtigen. Den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ist nicht die Rechtsmacht eingeräumt, durch [X.] Verhalten die Unbeachtlichkeit einer Verletzung des der Rechtsstaatlichkeit dienenden grundrechtsgleichen Rechts auf [X.] herbeizuführen (stRspr; vgl B[X.] vom 8.10.2019 - [X.] KR 8/19 R - [X.], 186 = [X.] 4-1500 § 153 [X.], RdNr 17 mwN).

9

Der angefochtene Beschluss nach § 153 Abs 4 [X.] lässt sich auch nicht in eine gesetzeskonforme Zurückweisung der Berufung mit ordnungsgemäßer Besetzung des Spruchkörpers und eine rechtswidrige Entscheidung unter Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters über die Klage aufspalten. Das [X.] hat das Verfahren als Ganzes geführt, ohne dass ein Teil des streitbefangenen Zeitraums abgetrennt worden ist. Die gesetzeswidrige Entscheidung auch über die Klage "infiziert" den gesamten Beschluss (vgl B[X.] vom 8.10.2019 - [X.] KR 8/19 R - [X.], 186 = [X.] 4-1500 § 153 [X.], RdNr 21 mwN).

Der Verfahrensmangel steht der Klärung der grundsätzlichen Rechtsfrage, ob die Freibetragsregelung des § 226 Abs 2 SGB V in der Fassung des [X.]-Betriebsrentenfreibetragsgesetzes vom 21.12.2019 ([X.] 2913) auf die Festsetzung der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung anzuwenden ist (hierzu anhängig [X.] KR 3/23 R), entgegen. Die Klärung würde im Übrigen auch Feststellungen zur Beitragsfestsetzung für die Zeit ab 1.1.2020 voraussetzen.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines [X.], auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]), vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

[X.]

Meta

B 12 KR 45/22 B

06.06.2023

Bundessozialgericht 12. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Lüneburg, 9. Juli 2020, Az: S 16 KR 198/18, Urteil

§ 12 Abs 1 S 2 Alt 1 SGG, § 33 Abs 1 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.06.2023, Az. B 12 KR 45/22 B (REWIS RS 2023, 4014)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4014

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 12 KR 17/22 BH (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren - Verweigerung von Prozesskostenhilfe bei mangelnder Erfolgsaussicht


B 5 RE 7/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - mündliche Verhandlung - wirksam erlassene Verwaltungsakte während des …


B 14 AS 161/18 B (Bundessozialgericht)

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nach § 153 …


B 12 KR 58/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - richterliche Hinweispflicht


B 12 KR 22/19 R (Bundessozialgericht)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.