Bundessozialgericht, Beschluss vom 30.03.2017, Az. B 2 U 277/16 B

2. Senat | REWIS RS 2017, 13119

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - faires Verfahren - gerichtliche Überraschungsentscheidung - widersprüchliches Verhalten des Gerichts - unterlassene Hinweispflicht: gesonderte Antragstellung hinsichtlich Feststellung einer konkreten Unfallfolge - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 20. Oktober 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt die weitere Zahlung von Verletztenrente.

2

Die Klägerin erlitt 2008 als Postzustellerin einen anerkannten Arbeitsunfall (Treppensturz), für den sie bis zum 17.1.2010 Verletztengeld von der [X.] bezog. Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom 10.2.2011 "für die vergangene [X.] dem Grunde nach" Verletztenrente bis zum 31.1.2011. Für die anschließende [X.] lehnte sie die Bewilligung einer Verletztenrente ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom [X.]). Im anschließenden Klageverfahren hat das [X.] ein ärztliches Gutachten eingeholt, in dem degenerative Veränderungen im distalen Bereich der Kniescheibe diagnostiziert wurden, die als unfallbedingt anzusehen seien. Aufgrund der vorliegenden Retropatellararthrose sei von einer MdE von [X.] auszugehen. Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.1.2016). Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar sei die Retropatellararthrose als Unfallfolge hinzugetreten, die zusätzlichen Beeinträchtigungen könnten die MdE aber nicht erhöhen. In dem Urteil hat das [X.] zudem ausgeführt: "Diese weitere Unfallfolge der Retropatellararthrose bei gleichzeitig eingeschränkter Verschieblichkeit der [X.] hat das Gericht bei der Prüfung der hier zu entscheidenden Frage, welche MdE bei der Klägerin vorliegt, einzubeziehen. Denn bei der Prüfung der Höhe der MdE sind sämtliche Unfallfolgen einzubeziehen, unabhängig davon, ob sie formell anerkannt sind oder nicht und ob sie erst während des Rechtsstreits aufgetreten sind (vgl. dazu und zu der hier vorzunehmenden materiell-rechtlichen Prüfung im Unterschied zu einem gesonderten prozessualen Begehren auf Feststellung bzw. Verurteilung der [X.] zur Anerkennung weiterer Unfallfolgen während des laufenden Klageverfahrens ausführlich L[X.] Baden-Württemberg, Urteil vom 20.10.2011 - L 10 U 4346/08 -, juris Rn. 23 f.)."

3

Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie im Wesentlichen vorgetragen hat, aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Folgeerkrankung (Retropatellararthrose) betrage die MdE [X.]. Das L[X.] hat sodann am [X.] den Beteiligten einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, dessen Ziffer 1 lautete: "1. Die Beklagte erkennt als weitere Folge des Unfalls vom 14.02.2008 eine leichte Retropatellararthrose am rechten Knie der Klägerin an." Nach Ziffer 2 dieses [X.] sollte die Beklagte bis zum 31.3.2012 Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von [X.] gewähren. Der Vergleich kam nicht zustande. In der mündlichen Verhandlung vor dem L[X.] am 20.10.2016 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, das Urteil des [X.] aufzuheben, die angefochtenen Bescheide der [X.] abzuändern "und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalls vom 14. Februar 2008 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. über den 31. Januar 2011 hinaus zu gewähren." Das L[X.] hat durch Urteil vom selben Tag das Urteil des [X.] sowie die Bescheide der [X.] geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin bis zum 31.12.2011 Verletztenrente nach einer MdE von [X.] zu gewähren. Im Übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es am Ende seines Urteils ausgeführt: "Über weitere Schädigungsfolgen, etwa eine Retropatellararthrose, hatte der [X.] nicht zu entscheiden; einen entsprechenden Antrag hat der Klägerin im Gerichtsverfahren nicht gestellt."

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde. Sie rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß §§ 62, 123, 128 Abs 2 [X.]G iVm § 279 Abs 3 ZPO. Sie habe bereits in ihrer Berufungsschrift deutlich gemacht, dass es ihr darum gehe, die Retropatellararthrose als Unfallfolge anerkannt zu bekommen. Aufgrund des Ablaufs des Verfahrens hätte das L[X.], wenn es zu der Auffassung gelangt sei, es bedürfe einer gesonderten Antragstellung betreffend die Retropatellararthrose, auf die Notwendigkeit einer solchen gesonderten Antragstellung hinweisen müssen. Soweit sich das L[X.] nunmehr in dem Urteil erstmals darauf gestützt habe, über weitere Unfallfolgen sei nicht zu entscheiden gewesen, weil die Klägerin keinen "entsprechenden Antrag" betreffend die Retropatellararthrose gestellt habe, sei sie von dieser Rechtsansicht überrascht worden. Das L[X.] hätte deshalb zuvor einen richterlichen Hinweis erteilen müssen. Hätte das L[X.] über die weitere Unfallfolge entschieden, so hätte es auch für nachfolgende [X.]räume eine MdE in Höhe von zumindest [X.] anerkennen müssen.

5

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Entscheidung des L[X.] beruht auf dem Verfahrensmangel der Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs (§ 62 iVm § 123 [X.]G). Das L[X.] hat betreffend die Retropatellararthrose eine Überraschungsentscheidung getroffen. Das L[X.] hätte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 20.10.2016 darauf hinweisen müssen, dass es nunmehr zu der rechtlichen Überzeugung gelangt ist, die Feststellung einer konkreten Unfallfolge bedürfe einer gesonderten Antragstellung. Hiermit musste die Klägerin aufgrund des bisherigen Gangs des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht rechnen. Der Rechtsstreit nahm damit eine überraschende Wendung, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbevollmächtigter nach dem bisherigen Ablauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 62 Rd[X.] 8b mwN). Da die Klägerin zulässig und begründet einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G bezeichnet hat, hat der [X.] von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache durch Beschluss gemäß § 160a Abs 5 [X.]G an das L[X.] zurückzuverweisen.

6

Der umfassende Anspruch auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) gegenüber Freiheitsrechten und das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (vgl Beschluss des [X.]s vom 3.4.2014 - [X.] U 308/13 B - Juris Rd[X.] 8; [X.] 78, 123, 126; [X.] [X.] 3-1500 § 161 [X.] 5; B[X.] [X.] 3-1750 § 565 [X.] 1; B[X.] [X.] 3-1500 § 112 [X.] 2; B[X.] Beschluss vom [X.] - B 11 [X.] 21/02 B - Juris; B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] U 281/08 B - Juris). Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl B[X.] [X.] 3-1500 § 153 [X.] 1 mwN; [X.] 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in dessen Erwägungen miteinbezogen wird ([X.] 22, 267, 274; [X.] 96, 205, 216 f). Weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem auf rechtliches Gehör ergibt sich eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem [X.] oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung ([X.] 66, 116, 174; [X.] 74, 1, 5; [X.] 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- oder Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstößt und eine Überraschungsentscheidung darstellt (so schon Beschluss des [X.]s vom [X.] - [X.] U 281/08 B - Juris).

7

So liegen die Verhältnisse hier. Bereits das [X.] hatte in seinem Urteil auf die Rechtsauffassung des L[X.] Baden-Württemberg hingewiesen, dass über Unfallfolgen unabhängig von einer gesonderten Antragstellung und unabhängig von dem Vorliegen von Verwaltungsentscheidungen über die konkrete Unfallfolge entschieden werden könne. Nach Einlegung der Berufung, in der sich die Klägerin wesentlich auf das Vorliegen einer Retropatellararthrose berufen hatte, hat das L[X.] in einem Vergleichsvorschlag seinerseits die Beklagte aufgefordert, eine Retropatellararthrose als Unfallfolge anzuerkennen. Aufgrund dieses Ablaufs musste auch ein fachkundiger Rechtsanwalt nicht mehr damit rechnen, dass der entscheidende [X.] nunmehr von der aufgezeigten Rechtsprechungspraxis des L[X.] Baden-Württemberg abweichen und eine ausdrückliche Antragstellung betreffend die Unfallfolge Retropatellararthrose fordern werde. Das L[X.] hätte ohne Weiteres in der mündlichen Verhandlung vom 20.10.2016 auf seine Rechtsauffassung hinweisen können, sodass die Klägerin Gelegenheit gehabt hätte, die Feststellung der Retropatellararthrose als Unfallfolge zu beantragen.

8

Dahinstehen kann hier, inwiefern die Rechtsauffassung des L[X.], es bedürfe eines gesonderten Antrags für die Feststellung jeder einzelnen Unfallfolge, die offenbar nicht der sonstigen Praxis des L[X.] Baden-Württemberg entspricht (vgl nur L[X.] Baden-Württemberg Urteil vom 21.2.2013 - L 10 U 176/11 - Juris), richtig war (vgl hierzu auch das Urteil des [X.]s vom 13.9.2005 - [X.] U 4/04 R - Juris). Maßgebend ist ausschließlich, dass das L[X.] diese Auffassung für die Klägerin überraschend erstmals in den Urteilsgründen vertrat, womit die Klägerin nicht rechnen konnte.

9

Das L[X.] wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 277/16 B

30.03.2017

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Mannheim, 28. Januar 2016, Az: S 18 U 1907/14

§ 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 Abs 1 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 30.03.2017, Az. B 2 U 277/16 B (REWIS RS 2017, 13119)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 13119

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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