Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.02.2021, Az. 4 StR 533/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2021, 8663

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Gegenstand

Revision in Strafsachen: Zulässigkeit der Beweiserhebung durch Augenscheinseinnahme in Lichtbilder in Abwesenheit des Angeklagten


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 23. Juni 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen sowie wegen „sexuellen Missbrauchs von [X.] in zehn Fällen, in drei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern sowie davon in einem Fall tateinheitlich mit Herstellung einer kinderpornographischen Schrift, und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Herstellung einer jugendpornographischen Schrift“ zu der „Freiheitsstrafe“ von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die mit mehreren Verfahrensbeanstandungen und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

2

1. Die Revision beanstandet zu Recht, dass ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung ‒ die Einnahme eines Augenscheins von mehreren Lichtbildern ‒ in Abwesenheit des Angeklagten stattgefunden hat (§ 338 Nr. 5 [X.] i.V.m. § 230 Abs. 1 [X.]).

3

a) Der Verfahrensrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

In der Hauptverhandlung am 10. Juni 2020 ordnete die [X.] gemäß § 247 [X.] für die Dauer der Vernehmung der Nebenklägerin die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer an. Während der anschließenden in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Zeugenvernehmung der Nebenklägerin wurden mehrere vom Verteidiger überreichte Lichtbilder in Augenschein genommen. Nach Abschluss der Befragung unterrichtete der Vorsitzende den wieder anwesenden Angeklagten über die Aussage der Nebenklägerin.

5

b) Aufgrund der Beweiskraft des [X.] gemäß § 274 [X.] steht fest, dass die Lichtbilder nicht lediglich als Vernehmungsbehelf Verwendung fanden, sondern Gegenstand einer förmlichen Beweiserhebung durch Einnahme eines Augenscheins waren. Nach dem im [X.] des § 247 [X.] aufgrund der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung eng auszulegenden Begriff der Vernehmung (vgl. [X.], Beschluss vom 21. April 2010 ‒ [X.], [X.]St 55, 87, 90 mwN) ist die Erhebung eines anderweitigen [X.], selbst wenn sie in engem Zusammenhang mit der Vernehmung steht, nicht Teil der Vernehmung, so dass die Durchführung der Beweiserhebung in Abwesenheit des Angeklagten durch den Entfernungsbeschluss nach § 247 [X.] nicht gedeckt wird (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 14. Januar 2014 ‒ 4 StR 529/13, [X.], 223; vom 5. Oktober 2010 ‒ 1 [X.], [X.], 51). Die Inaugenscheinnahme hätte daher nach § 230 Abs. 1 [X.] nicht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgen dürfen.

6

c) Der [X.] ist nicht durch eine Wiederholung des Augenscheins in Anwesenheit des Angeklagten geheilt worden. Eine Verfahrenskonstellation, in welcher ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler denkgesetzlich ausgeschlossen ist (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Mai 2006 ‒ 4 [X.], [X.], 20; [X.] in [X.]/[X.], [X.], 63. Aufl., § 247 Rn. 21 mwN), liegt ebenfalls nicht vor. Selbst wenn ‒ was allerdings angesichts der unterbliebenen Mitwirkung des Angeklagten an und seiner fehlenden Kenntnis von der Beweiserhebung zweifelhaft erscheint ‒ ein denkgesetzlicher Ausschluss des [X.] in Betracht zu ziehen wäre, falls dem Angeklagten das Augenscheinsobjekt in einer nicht hinter der Augenscheinseinnahme zurückbleibenden Weise bekannt ist (offengelassen in [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 ‒ 1 [X.], aaO), lägen diese Voraussetzungen nicht vor. Denn es steht weder ‒ entgegen der Ansicht des [X.] ‒ zweifelsfrei fest, dass die vom Verteidiger vorgelegten Lichtbilder vom Angeklagten stammen, noch besteht vor dem Hintergrund der Gegenerklärung des Verteidigers eine erfolgsversprechende Möglichkeit, die Herkunft der Bilder freibeweislich zu klären.

7

2. In Folge der Aufhebung des angefochtenen Urteils auf Grund der Verfahrensrüge kommt es nicht mehr darauf an, dass die Urteilsformel hinsichtlich der Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs von [X.] in drei der ausgeurteilten Fälle nicht mit der von den Feststellungen getragenen rechtlichen Würdigung in den Urteilsgründen in Einklang zu bringen ist.

8

Der Senat weist für die neue Hauptverhandlung ferner darauf hin, dass die Strafbarkeit wegen Herstellens einer kinderpornographischen Schrift nach § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB in der bis zum 26. Januar 2015 geltenden Fassung eine auf die Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung der Schrift gerichtete Verwendungsabsicht des [X.] voraussetzt. Der neue Tatrichter wird hinsichtlich dieses [X.] gegebenenfalls auch die Frage der Verfolgungsverjährung zu prüfen haben.

Sost-Scheible     

        

Bender     

        

Bartel

        

Lutz      

        

Maatsch      

        

Meta

4 StR 533/20

17.02.2021

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hagen (Westfalen), 23. Juni 2020, Az: 51 KLs 2/20

§ 230 Abs 1 StPO, § 247 S 1 StPO, § 338 Nr 5 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.02.2021, Az. 4 StR 533/20 (REWIS RS 2021, 8663)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 8663

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4 StR 529/13

1 StR 264/10

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