Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 05.10.2010, Az. 1 StR 264/10

1. Strafsenat | REWIS RS 2010, 2685

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 264/10 vom 5. Oktober 2010 in der Strafsache gegen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. - 2 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des [X.] und des Beschwerdeführers am 5. Oktober 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 3. Dezember 2009 mit den Feststellungen auf-gehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen. Gründe: Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] in 20 Fällen, davon in 13 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, in fünf Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Kör-perverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Mona-ten verurteilt. 1 Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge, mit der die Einvernahme eines Augenscheins in Abwesenheit des Angeklagten beanstan-det wird (§ 338 Nr. 5 StPO), Erfolg. 2 1. Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde: 3 - 3 - Das [X.] hat am ersten und am fünften Hauptverhandlungstag die Geschädigte, die 1992 geborene Zeugin

[X.](Stieftochter des Angeklagten), vernommen und jeweils für die Dauer der Vernehmung die Ent-fernung des Angeklagten gemäß § 247 StPO angeordnet. Gelegentlich der [X.] der Geschädigten am fünften Hauptverhandlungstag hat die Verteidi-gung eine Fotografie vorgelegt, welche die Gegebenheiten einer von der [X.] in ihrer Vernehmung genannten Örtlichkeit zeigt. Das Protokoll ver-hält sich dazu wie folgt: 4 —Der Verteidiger des Angeklagten übergab ein Lichtbild über die Örtlich-keiten des Badezimmers. Das Lichtbild wurde von der Kammer, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Sachverständigen, dem Verteidiger und der Zeugin in Augenschein genommen. Die Zeugin äußert sich hierzu.fi 5 Nachdem der Angeklagte wieder in den Sitzungssaal gerufen wurde, wurde er vom Vorsitzenden über den Inhalt der Aussage der Zeugin [X.] in-formiert, auch zu deren Angaben zum vorgenannten Lichtbild. Eine ([X.]) förmliche Augenscheinnahme fand nicht statt. 6 2. Dieser Verfahrensgang begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO. Die hier durchgeführte Augenscheinsnahme (a) ist vom re-striktiv auszulegenden Begriff der Vernehmung i.S.d. § 247 StPO nicht umfasst (b), so dass entgegen § 230 Abs. 1 StPO ein Teil der Hauptverhandlung in Ab-wesenheit des Angeklagten durchgeführt wurde. Der daraus resultierende [X.] wurde hier auch nicht geheilt (c). 7 a) Das Lichtbild wurde förmlich in Augenschein genommen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das gegenständliche Lichtbild lediglich - was als Teil der Vernehmung zulässig gewesen wäre (vgl. [X.], Beschluss 8 - 4 - vom 23. Oktober 2002 - 1 [X.]) - als Vernehmungsbehelf herangezogen wurde. Das Vorhalten von Urkunden und die Verwendung von Augenscheinsob-jekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung hätten keiner Aufnahme in die Sitzungsniederschrift bedurft (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Dezember 2000 - 1 [X.], [X.], 262). Hier wird durch die [X.] über die Hauptverhandlung jedoch bewiesen (§ 274 StPO), dass eine förmliche Beweisaufnahme stattgefunden hat. Umstände, die die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel ziehen könnten, liegen nicht vor. Zwar ist der Inhalt eines Hauptverhandlungsprotokolls insoweit auslegungsfähig (vgl. [X.], [X.] vom 5. Mai 2004 - 2 [X.], [X.], 237). Die hier [X.] Formulierung enthält (anders als in dem der Entscheidung vom 4. Mai 2004 - 1 StR 391/03 - zugrunde liegenden Fall) indes keine Unklarheiten und lässt Zweifel daran nicht aufkommen, dass ein förmlicher Augenschein durchgeführt wurde. Außerdem wird die Durchführung einer förmlichen Beweisaufnahme durch die dienstliche Stellungnahme des [X.] der [X.] bestätigt (—Lichtbild wurde – in Augenschein genommenfi) und auch in den vom [X.] eingeholten ergänzenden Stellungnahmen der Berufsrichter nicht in Abrede gestellt (—der Zeugin dieses Foto vorgehalten bzw. mit ihr in [X.]). b) Welche Verfahrensvorgänge vom Begriff der Vernehmung i.S.d. § 247 Satz 1 und 2 StPO erfasst werden, wird vom Gesetz nicht näher bestimmt. Die-ser Begriff ist im [X.] der §§ 247 und 248 StPO aufgrund der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhand-lung, die als Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. [X.] garantiert wird, restrik-tiv auszulegen ([X.], Beschluss des [X.] vom 21. April 2010 - [X.], Rn. 14 mwN, [X.], 352 = NJW 2010, 2450). 9 - 5 - Die Erhebung eines [X.] kann demnach, auch wenn er eng mit der Vernehmung verbunden ist, nicht als Teil der Vernehmung i.S.d. § 247 StPO angesehen werden, sondern ist ein Vorgang mit einer selbstständigen verfah-rensrechtlichen Bedeutung. Die Augenscheinsnahme in Abwesenheit des [X.] war daher vom Beschluss über seine Ausschließung nicht gedeckt. Somit fand ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten statt, dessen Anwesenheit das Gesetz vorschreibt (§§ 230, 247 StPO). Dies begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO. c) Der Verfahrensfehler wurde nicht geheilt. Dies hätte nur durch eine - hier nicht erfolgte - Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der weiteren Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten erfolgen können. Zwar muss die förmliche Augenscheinseinnahme nicht dergestalt wiederholt werden, dass das Gericht und die Verfahrensbeteiligten das Augenscheinsob-jekt nochmals besichtigen. Vielmehr hätte die Besichtigung des [X.] durch den Angeklagten während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO ausgereicht, wenn die weiterhin anwesenden Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einer neuerlichen Augenscheinsnahme hatten ([X.], Urteil vom 11. November 2009 - 5 [X.], [X.], 162). Indes lässt sich aus dem zu dieser wesentlichen Förmlichkeit (§ 274 StPO) schweigenden Protokoll zur Hauptverhandlung nicht feststellen, dass der Augenschein - wenigstens - in dieser Weise nachgeholt worden wäre. Soweit den dienstlichen Stellungnah-men zu entnehmen ist, das Lichtbild sei —thematisiertfi oder (soweit erinnerlich durch Hochheben) vorgezeigt worden, vermag dies die - negative - Beweiskraft des Protokolls nicht zu entkräften. 10 - 6 - 3. Das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds (§ 338 Nr. 5 StPO) führt zur Aufhebung des Urteils, ohne dass es darauf ankommt, ob das Urteil tatsächlich auf dem Verfahrensfehler beruhen kann. 11 Ein Fall, in dem es [X.] ausgeschlossen wäre, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Mai 2006 - 4 [X.]), liegt nicht vor. Der [X.] braucht nicht zu entscheiden, ob [X.] hier hätte angenommen werden können, wenn das in Augenschein ge-nommene Lichtbild vom Angeklagten selbst stammte oder von diesem sogar selbst gefertigt wurde, es also keinem Zweifel unterliegen kann, dass er die dem Augenscheinsobjekt zu entnehmenden Tatsachen mindestens so gut kennt, als wäre ihm das Foto zur Augenscheinsnahme vorgelegt worden. Denn dies kann weder aus dem Protokoll noch aus den ergänzend eingeholten dienstlichen Stellungnahmen mit der dazu erforderlichen Bestimmtheit [X.] werden. 12 Nack Rothfuß Hebenstreit Elf Graf

Meta

1 StR 264/10

05.10.2010

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 05.10.2010, Az. 1 StR 264/10 (REWIS RS 2010, 2685)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 2685

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