Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.09.2016, Az. I R 14/15

1. Senat | REWIS RS 2016, 5838

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Gegenstand

(Ausschluss früherer Beamter vom Richteramt; konkludente Billigkeitsmaßnahme - Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 20.07.2016 I R 40/14)


Leitsatz

1. NV: Eine (Finanz-)Beamtin, die Vertreterin einer Behörde war (hier: vormalige Sachgebietsleiterin des FA) und nunmehr Richterin wird, ist von der Mitwirkung an allen Sachen ausgeschlossen, die bereits vor ihrer Übernahme in das Richterverhältnis anhängig waren und somit von ihr hätten vertreten werden können .

2. NV: Bei der Entscheidung darüber, ob der angefochtene Bescheid mit Blick auf eine Verwaltungsverfügung als konkludente Billigkeitsmaßnahme des FA verstanden werden kann, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob es sich bei dieser Verwaltungsverfügung um eine verwaltungsinterne Verschlusssache ("nur für den Dienstgebrauch") gehandelt hat und ein Anhalt dafür bestanden hat, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Zugangs des Bescheids Kenntnis von dieser Verfügung gehabt hat .

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.], [X.], vom 18. September 2014  3 K 1837/14 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.], [X.], zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Die im Inland wohnenden Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr (2009) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

2

Der Kläger arbeitete seit 1996 in der [X.]. Im Streitjahr war er bei der [X.]., einer Aktiengesellschaft nach [X.] Recht, beschäftigt. Er leitete dort als "[X.]" eine Geschäfts- und Stabseinheit und war Mitglied der (neunköpfigen) Geschäftsleitung.

3

Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ging der Kläger davon aus, dass seine gesamten Einkünfte aus unselbständiger Arbeit nicht der Besteuerung im Inland unterfallen würden. Da er an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund seiner Arbeitsausübung im Ausland nicht an seinen Wohnsitz im Inland zurückgekehrt und damit kein Grenzgänger [X.]. 15a Abs. 1 des Abkommens zwischen der [X.] und der [X.]ischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 ([X.] 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) i.d.[X.] vom 21. Dezember 1992 ([X.] 1993, 1888, [X.], 928) --DBA-[X.] 1971/1992-- sei, ergebe sich für seine Einkünfte aus unselbständiger Arbeit, soweit sie auf die in der [X.] ausgeübte Tätigkeit entfielen, nach der allgemeinen Vorschrift des Art. 15 Abs. 1 Satz 2 DBA-[X.] 1971/1992 ein Besteuerungsrecht der [X.]. Für seine Einkünfte aus unselbständiger Arbeit, die auf seine im Inland und in [X.] ausgeübte Tätigkeit entfielen, ergebe sich das ausschließliche Besteuerungsrecht der [X.] daraus, dass er ein leitender Angestellter [X.]. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-[X.] 1971/1992 sei.

4

Dem folgte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) im für das Streitjahr ergangenen Einkommensteuerbescheid vom 6. Oktober 2010 nur hinsichtlich der Besteuerung der Einkünfte aus unselbständiger Arbeit, soweit sie auf die in der [X.] ausgeübte Tätigkeit des [X.] entfallen, und stellte diese Einkünfte unter Progressionsvorbehalt im Inland steuerfrei. Hinsichtlich der Einkünfte, die auf die im Inland und in [X.] ausgeübte Tätigkeit des [X.] entfallen, vertrat das [X.] dagegen die Auffassung, dass die insoweit dem Kläger zugeflossenen Einkünfte im Inland zu besteuern seien, weil der Kläger nicht mit einer in Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-[X.] 1971/1992 aufgeführten Funktionsbezeichnung im [X.]ischen Handelsregister eingetragen sei.

5

Der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage hat das Finanzgericht ([X.]) [X.], [X.], mit Urteil vom 18. September 2014  3 K 1837/14 unter Mitwirkung von Richterin am [X.] als begründet angesehen und den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr aufgehoben.

6

Hinsichtlich der Besteuerung der Einkünfte aus unselbständiger Arbeit, soweit sie auf die in der [X.] ausgeübte Tätigkeit des [X.] entfallen, sah sich das [X.] durch eine Billigkeitsentscheidung des [X.] gebunden. Obwohl nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) zur Ermittlung der Nichtrückkehrtage (Senatsurteil vom 11. November 2009 I R 15/09, [X.]E 227, 419, [X.], 602) die Grenzgängereigenschaft des [X.] aufgrund einer geringeren Anzahl von [X.] (hier: 47) bejaht werden müsse, habe das [X.] in Vollzug einer Verfügung der Oberfinanzdirektion (OFD) [X.] vom 3. Mai 2010 S 130.1/416 [X.] 217/[X.] entschieden, dass zugunsten des [X.] weiterhin von den (bisherigen) Grundsätzen der Finanzverwaltung und damit davon auszugehen sei, dass der Kläger bei 67 [X.] kein Grenzgänger sei. Diese im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr stillschweigend (konkludent) getroffene Billigkeitsentscheidung sei bestandskräftig geworden und als Grundlagenbescheid für die Einkommensteuerfestsetzung bindend.

7

Hinsichtlich der Einkünfte, die auf die im Inland und in [X.] ausgeübte Tätigkeit des [X.] entfallen, vertrat das [X.] entgegen der durch das Schreiben des [X.] vom 30. September 2008 ([X.], 935) bekanntgegebenen Verständigungsvereinbarung der [X.] und eidgenössischen Finanzbehörden zu Art. 15 Abs. 4 DBA-[X.] 1971/1992 die Auffassung, dass der Kläger ungeachtet den Eintragungen im [X.]ischen Handelsregister als Direktor i.S. des Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-[X.] 1971/1992 anzusehen sei.

8

Gegen das [X.]-Urteil richtet sich die Revision des [X.]. Das [X.] beantragt, das Urteil des [X.] aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen.

9

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet und führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz l Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil R für den Streitfall von der Ausübung des [X.]amts ausgeschlossen ist.

1. Nach der gemäß § 51 Abs. l [X.]O im Finanzgerichtsprozess sinngemäß anwendbaren Bestimmung des § 41 Nr. 4 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist [X.] von der Ausübung des [X.]amts kraft Gesetzes ausgeschlossen, wenn er in der Sache als Prozessbevollmächtigter oder Beistand einer Partei bestellt oder als gesetzlicher Vertreter einer Partei aufzutreten berechtigt ist oder gewesen ist. Durch den Ausschluss soll die Mitwirkung einer Gerichtsperson verhindert werden, für die auch nur die abstrakte Möglichkeit bestand, den Streitpunkt bereits aus der Sicht eines Beteiligtenvertreters zu sehen (BFH-Urteil vom 4. Juli 1990 II R 65/89, [X.] 161, 8, [X.] 1990, 787). Da für den Tatbestand des § 41 Nr. 4 ZPO ein tatsächliches Auftreten als Vertreter nicht erforderlich ist (vgl. [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 51 [X.]O Rz 9), ist ein ([X.], der kraft Gesetzes oder aufgrund erteilten generellen oder einzelnen Auftrags Vertreter einer Behörde war und nunmehr [X.] wird, von der Mitwirkung an allen Sachen, in denen diese Behörde Beteiligte ist, ausgeschlossen, die bereits vor seiner Übernahme in das [X.]verhältnis anhängig waren und somit von ihm hätten vertreten werden können (Senatsbeschluss vom 7. Juni 2016 [X.], juris; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 51 [X.]O Rz 24; Schoenfeld in [X.], [X.]O § 51 Rz 27; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 51 Rz 11; s. auch BFH-Urteil in [X.] 161, 8, [X.] 1990, 787 zur Ausschließung eines [X.]s, der zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung Finanzamtsvorsteher war).

2. In Bezug auf R liegt eine solche Konstellation hier vor. Ausweislich der dem Senat aus den Verfahren I R 40/14 sowie [X.] bekannten Angaben des [X.] war R vom 1. Oktober 2010 bis 30. September 2013 Sachgebietsleiterin und zugleich Stellvertreterin desjenigen [X.], der die [X.] des [X.] geleitet hat, in welcher im Mai 2011 auch über den Einspruch der hiesigen Kläger entschieden worden ist. Sie war außerdem aufgrund einer Generalvollmacht des Vorstehers des [X.] vom 22. August 2012 ermächtigt worden, das [X.] in allen stattfindenden Terminen beim [X.] zu vertreten und alle Erklärungen für und gegen das [X.] abzugeben. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob R seinerzeit tatsächlich mit der Streitsache befasst gewesen ist (Senatsbeschluss vom 7. Juni 2016 [X.], juris).

3. Da die Ausschließung unverzichtbar und in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist, steht der Aufhebung und Zurückverweisung nicht entgegen, dass die Beteiligten die Besetzung des [X.] weder vor dem [X.] noch im Rahmen des Revisionsverfahrens gerügt haben.

4. Das [X.] wird im zweiten Rechtsgang Gelegenheit haben, seine Annahme zu überprüfen, derzufolge die Kläger den angefochtenen Bescheid hinsichtlich der zu Grunde zu legenden Nichtrückkehrtage mit Blick auf die Verfügung der [X.] vom 3. Mai 2010 als konkludente Billigkeitsmaßnahme des [X.] verstehen konnten. Dabei wird das [X.] insbesondere zu berücksichtigen haben, dass es sich bei dieser Verfügung um eine verwaltungsinterne Verschlusssache ("nur für den Dienstgebrauch") gehandelt hat und kein Anhalt dafür besteht, dass die Kläger zum Zeitpunkt des Zugangs des Bescheids Kenntnis von dieser Verfügung gehabt haben.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

I R 14/15

07.09.2016

Bundesfinanzhof 1. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 18. September 2014, Az: 3 K 1837/14, Urteil

§ 163 AO, § 51 Abs 1 S 1 FGO, § 41 Nr 4 ZPO, § 126 Abs 3 S 1 Nr 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.09.2016, Az. I R 14/15 (REWIS RS 2016, 5838)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5838

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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