Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.10.2010, Az. I R 86/08

1. Senat | REWIS RS 2010, 2504

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Gegenstand

Ermittlung der "Nichtrückkehrtage" i.S. des DBA-Schweiz - Abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist eigenständiger Verwaltungsakt


Leitsatz

1. NV: Dienstreisetage mit Übernachtung im Ansässigkeitsstaat sind Nichtrückkehrtage" i.S. des Art. 15a DBA-Schweiz (Bestätigung des Senatsurteils vom 11. November 2009 I R 15/09, BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602) .

2. NV: Kehrt ein Arbeitnehmer an einem Wochenende nicht an seinen Wohnort zurück, so liegt kein "Nichtrückkehrtag" i.S. des Art. 15a DBA-Schweiz vor, wenn die Arbeit an dem betreffenden Tag nicht ausdrücklich vereinbart worden ist und weder durch einen anderweitigen Freizeitausgleich noch durch ein zusätzliches Entgelt abgegolten wird (ebenfalls Bestätigung des Senatsurteils in BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602) .

3. NV: Ein Tag, an dem ein in Deutschland ansässiger Arbeitnehmer aufgrund einer nichtselbständigen Tätigkeit für einen nicht in der Schweiz ansässigen Arbeitgeber nicht an seinen Wohnsitz zurückkehrt, ist kein "Nichtrückkehrtag" i.S. des Art. 15a DBA-Schweiz .

4. NV: Ein Tag, an dem ein Arbeitnehmer von einer mehrtägigen Dienstreise nach Hause zurückkehrt, ist kein "Nichtrückkehrtag" i.S. des Art. 15a DBA-Schweiz (weitere Bestätigung des Senatsurteils in BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602) .

Tatbestand

1

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) in den Streitjahren (1999 bis 2001) Grenzgänger im Sinne des Abkommens zwischen der [X.] und der [X.]ischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 ([X.] 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) i.d.[X.] vom 17. Oktober 1989 ([X.] 1993, 1888, [X.], 928) --[X.] 1971/[X.] war.

2

Die Kläger sind Eheleute, die in den Streitjahren in [X.] wohnten und zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger war als Geschäftsführer einer [X.] Kapitalgesellschaft ([X.]) tätig und im [X.] Handelsregister als "directeur avec signature individuelle" (Direktor mit individueller Unterschrift) eingetragen.

3

In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre gingen die Kläger davon aus, dass der Arbeitslohn des [X.] nach dem [X.] 1971/1989 nicht der [X.] Besteuerung unterliege und dass der Kläger insbesondere nicht Grenzgänger i.S. des Art. 15a [X.] 1971/1989 gewesen sei. Sie legten dazu von der Arbeitgeberin des [X.] ausgestellte Bescheinigungen vor, ausweislich derer der Kläger an 64 [X.]agen (1999), 65 [X.]agen (2000) und erneut 65 [X.]agen (2001) aus beruflichen Gründen nicht an seinen Wohnort zurückgekehrt war. Zu den aufgeführten "[X.]" zählten 8 [X.]age (1999), erneut 8 [X.]age (2000) und 13 [X.]age (2001), die auf Wochenenden (Samstage und Sonntage) entfielen; dazu wurde im erstinstanzlichen Verfahren ein Schreiben des früheren Präsidenten des Verwaltungsrats der [X.] vorgelegt, nach dem Samstage, Sonntage und Feiertage zu einem späteren Zeitpunkt als freie [X.]age nachgeholt wurden. An 10 [X.]agen (1999), 17 [X.]agen (2000) und 16 [X.]agen (2001) war der Kläger zu einer [X.]ochtergesellschaft der [X.] ([X.]) in die [X.] gereist, ohne an seinen Wohnort zurückzukehren; davon entfielen in 1999 zwei [X.]age sowie in 2000 und in 2001 jeweils fünf [X.]age auf Wochenenden. Schließlich hatten die Kläger für 1999 und 2001 jeweils zwei [X.]age, an denen der Kläger von mehrtägigen Dienstreisen nach [X.] zurückgekehrt war, den "[X.]" zugeordnet.

4

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) setzte gegenüber den Klägern für die Streitjahre Einkommensteuer fest. Er ging hierbei davon aus, dass der Kläger zwar nicht Grenzgänger i.S. des [X.] 1971/1989 gewesen sei; doch unterliege er mit dem [X.]eil seiner Einkünfte, der rechnerisch auf seine [X.]ätigkeit in [X.] und in [X.] unterfiel, der [X.] Besteuerung. Den danach nicht in die Bemessungsgrundlage der Steuer einbezogenen [X.]eil der Einkünfte berücksichtigte das [X.] bei der Bemessung des Steuersatzes. Zudem kürzte es die von den Klägern geltend gemachten Sonderausgaben. Die Klage gegen die auf dieser Basis erlassenen Steuerbescheide hat das Finanzgericht ([X.]) abgewiesen ([X.] Baden-Württemberg, [X.], Urteil vom 28. August 2008  3 [X.]/07).

5

Mit ihrer vom [X.] zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Sie beantragen, das Urteil des [X.] und die angefochtenen Steuerbescheide aufzuheben. Das [X.]-Urteil betrifft zusätzlich ein weiteres Streitjahr; ihre zunächst auch insoweit eingelegte Revision haben die Kläger inzwischen zurückgenommen.

6

Das [X.] hatte zunächst beantragt, die Revision zurückzuweisen. Nunmehr beantragt es, den Rechtsstreit zwecks weiterer Feststellungen an das [X.] zurückzuverweisen.

7

Das [X.] ist gemäß § 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) dem Revisionsverfahren beigetreten. Es unterstützt in der Sache die Rechtsauffassung des [X.], hat aber keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils soweit es die Streitjahre 1999 bis 2001 betrifft und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O). Die von diesem getroffenen Feststellungen lassen keine abschließende Beurteilung des Streitfalls zu.

9

1. Der Kläger hatte nach den Feststellungen des [X.] in den Streitjahren nur in [X.] einen Wohnsitz. Er war deshalb unbeschränkt steuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes) und aus abkommensrechtlicher Sicht in [X.] ansässig (Art. 4 Abs. 1 [X.] 1971/1989). Ferner hat das [X.] festgestellt, dass der Kläger für einen in [X.] ansässigen Arbeitgeber [X.] tätig war und dafür Vergütungen erhalten hat. Darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

2. Nach Art. 15a Abs. 1 Satz 1 [X.] 1971/1989 können Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbständiger Arbeit bezieht, in dem [X.] besteuert werden, in dem dieser ansässig ist. Dabei ist Grenzgänger jede in einem [X.] ansässige Person, die in dem anderen [X.] ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 1 [X.] 1971/1989). Kehrt diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, entfällt die Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn die Person bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 2 [X.] 1971/1989).

3. Die Kläger haben die Zahl der [X.] des Klägers für alle Streitjahre mit jeweils mehr als 60 angegeben. Das [X.] ist dem nicht gefolgt, da es angenommen hat, dass [X.] mit Übernachtung im Ansässigkeitsstaat keine [X.] seien. Das widerspricht indessen der neueren Rechtsprechung des Senats (Senatsurteil vom 11. November 2009 [X.], [X.], 419, [X.], 602), an der dieser festhält. Die betreffenden [X.] sind daher im Streitfall als [X.] zu zählen.

4. Das [X.] hat jedoch weiter festgestellt, dass der Kläger im Rahmen seiner Dienstreisen verschiedentlich an Wochenenden nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist. In einem solchen Fall liegt kein Nichtrückkehrtag i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 [X.] 1971/1989 vor, wenn die Arbeit an dem betreffenden [X.]ag nicht ausdrücklich vereinbart ist und der Arbeitnehmer für die an diesem [X.]ag geleistete Arbeit weder einen anderweitigen Freizeitausgleich noch ein zusätzliches Entgelt erhält (Senatsurteil in [X.], 419, [X.], 602). Ob Letzteres im Streitfall geschehen ist, hat das [X.] --von seinem Rechtsstandpunkt aus [X.] nicht aufgeklärt. In seinem Urteil wird zwar ein Schreiben des früheren Präsidenten des Verwaltungsrats der [X.] erwähnt, ausweislich dessen ein Freizeitausgleich gewährt worden ist; konkrete Feststellungen dazu hat das [X.] aber nicht getroffen. Vermindert man indessen die von den Klägern angegebene Zahl der [X.] um die Zahl der [X.]age mit auswärtigen Aufenthalten an Wochenenden, so ergeben sich für alle Streitjahre weniger als 60 [X.]; der Kläger ist dann jeweils Grenzgänger i.S. des Art. 15a Abs. 1 Satz 1 [X.] 1971/1989.

5. Ferner ergibt sich aus den Feststellungen des [X.], dass der Kläger in den Streitjahren Dienstreisen zu [X.] in die [X.] durchgeführt und in diesem Zusammenhang ebenfalls [X.] angesetzt hat. Nach der neueren Rechtsprechung des Senats sind indessen [X.]age, an denen der Arbeitnehmer auf Grund einer anderweitigen selbständigen [X.]ätigkeit nicht an seinen Wohnsitz zurückkehrt, keine [X.] (Senatsurteil in [X.], 419, [X.], 602). Dasselbe muss für [X.]age gelten, an denen der Arbeitnehmer nicht auf Grund seines Arbeitsverhältnisses mit seinem [X.] Arbeitgeber, sondern auf Grund eines anderweitigen Anstellungsverhältnisses außerhalb seines Wohnorts übernachtet. Deshalb können im Streitfall die betreffenden [X.]age nur dann als [X.] gezählt werden, wenn der Kläger die Reisen in die [X.] in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer der [X.] --und nicht z.B. als Organ der [X.]-- unternommen hat. Dazu hat das [X.] ebenfalls keine Feststellungen getroffen.

6. Schließlich ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil, dass die Kläger für die Streitjahre 1999 und 2001 jeweils zwei [X.]age als [X.] angegeben haben, an denen der Kläger zum Abschluss einer mehrtägigen Dienstreise nach [X.] zurückgekehrt ist. Diese [X.]age sind indessen keine [X.] i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 [X.] 1971/1989 (Senatsurteil in [X.], 419, [X.], 602).

7. [X.] man nur die zuletzt genannten [X.]age aus den von den Klägern benannten [X.]n aus, so verbleiben für alle Streitjahre mehr als 60 [X.]. Vermindert man aber die Zahl der von den Klägern benannten [X.] außerdem entweder um die Zahl der [X.]age mit auswärtigen Übernachtungen an Wochenenden oder um die Zahl der [X.]age mit Dienstreisen zu [X.], so beläuft sich für alle Streitjahre die Zahl der [X.] auf weniger als 60; der Kläger ist dann jeweils Grenzgänger i.S. des Art. 15a Abs. 1 Satz 1 [X.] 1971/1989. Angesichts dessen sind, was die Fragen zum Ausgleich von [X.] und zum Hintergrund der Dienstreisen zu [X.] angeht, weitere Feststellungen notwendig. Diese können im Revisionsverfahren nicht getroffen werden, weshalb die Sache an das [X.] zurückverwiesen werden muss.

8. Sofern das [X.] im zweiten Rechtsgang feststellt, dass der Kläger in einzelnen oder in allen Streitjahren nicht Grenzgänger i.S. des Art. 15a Abs. 1 Satz 1 [X.] 1971/1989 war, wird es der Klage möglicherweise teilweise oder vollständig stattgeben müssen. Denn es hat festgestellt, dass der Kläger zu dem in Art. 15 Abs. 4 Satz 1 [X.] 1971/1989 aufgeführten Personenkreis zählte, und dieser Feststellung sind die Finanzbehörden nicht entgegengetreten. Deshalb dürften, sofern das [X.] nicht noch abweichende Feststellungen zu diesem Punkt trifft, die vom Kläger bezogenen Vergütungen unter der weiteren Voraussetzung der Besteuerung in [X.] (Art. 15 Abs. 4 Satz 2 [X.] 1971/1989) nicht in die Bemessungsgrundlage der [X.] Steuer einbezogen werden (Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d [X.] 1971/1989). Der Senat verweist dazu auf seine einschlägige Rechtsprechung (Senatsurteile vom 25. Oktober 2006 [X.], [X.], 237, [X.], 778; vom 11. November 2009 [X.]/08, [X.], 402, [X.], 781), an der er ebenfalls festhält.

9. Die am Verfahren beteiligten Finanzbehörden haben ausgeführt, dass im Streitfall unter Umständen eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen (§ 163 der Abgabenordnung) in Betracht komme. Dazu wird klarstellend darauf hingewiesen, dass eine solche Billigkeitsmaßnahme nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ([X.]) rechtlich ein von der Steuerfestsetzung zu unterscheidender eigenständiger Verwaltungsakt ist ([X.]-Urteile vom 21. September 2000 IV R 54/99, [X.]E 193, 301, BStBl II 2001, 178; vom 16. März 2004 [X.], [X.]E 205, 270, [X.], 927; [X.]-Beschluss vom 18. Dezember 2007 [X.], [X.]/NV 2008, 564) und deshalb nicht unmittelbar in diesem Rechtsstreit erstritten werden könnte.

Meta

I R 86/08

12.10.2010

Bundesfinanzhof 1. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 28. August 2008, Az: 3 K 119/07, Urteil

Art 15 Abs 4 DBA CHE, Art 15a DBA CHE, Art 24 Abs 1 Nr 1 S 1 Buchst d DBA CHE, § 163 AO, § 118 S 1 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.10.2010, Az. I R 86/08 (REWIS RS 2010, 2504)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 2504

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