Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 09.11.2021, Az. 4 C 5/20

4. Senat | REWIS RS 2021, 1272

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Gegenstand

Bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines sog. Wohnungsbordells im Mischgebiet


Leitsatz

1. An der Beurteilung prostitutiver Betriebe auf der Grundlage der eingeschränkten Typisierungslehre haben weder das Prostitutionsgesetz noch das Prostituiertenschutzgesetz etwas geändert.

2. Das Störpotenzial eines sog. Wohnungsbordells im Mischgebiet nach § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO 1962 lässt sich nicht typisierend erfassen. Es bedarf vielmehr einer Einzelfallprüfung.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 29. Oktober 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die baurechtliche Zulässigkeit einer prostitutiven Einrichtung in der Form eines sog. [X.]s.

2

Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung ehemaliger Wohnräume in "gewerbliche Nutzung (gewerbliche Zimmervermietung, bordellähnlicher Betrieb)". Sie ist Mieterin dreier miteinander verbundener, insgesamt 428 qm großer Wohneinheiten im [X.] eines siebenstöckigen Gebäudes in [X.]. Dort betreibt sie seit 1996 eine prostitutive Einrichtung ([X.]). Das Gebäude war ursprünglich als Wohnhaus genehmigt und weist 28 Wohneinheiten auf. Derzeit wird es jedenfalls im Vorderhaus, in dem sich auch der Betrieb der Klägerin befindet, überwiegend gewerblich oder freiberuflich genutzt. Das Gebäude liegt im Geltungsbereich des mit Verordnung vom 15. September 1964 (GVBl. S. 1045) festgesetzten Bebauungsplans IX-73. Dieser setzt ein Mischgebiet gemäß § 6 [X.] 1962 fest.

3

Den Bauantrag lehnte der Beklagte ab. Die auf Erteilung der Baugenehmigung gerichtete Klage hatte beim Verwaltungsgericht Erfolg. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die begehrte Baugenehmigung. Die Nutzungsänderung sei nicht nach § 6 Abs. 2 Nr. 4 [X.] 1962 im Mischgebiet allgemein zulässig. Zwar sei bei dem Betrieb der Klägerin von einem Gewerbebetrieb auszugehen. Aufgrund einer (begrenzt) typisierenden Betrachtungsweise, die für Bordelle oder - wie hier - bordellartige Betriebe anzustellen sei, könne dem Verwaltungsgericht jedoch nicht darin gefolgt werden, dass der Betrieb der Klägerin das Wohnen nicht wesentlich störe. Solche Betriebe seien vielmehr mit der im Mischgebiet zulässigen Wohnnutzung unverträglich. Denn sie seien regelmäßig mit nach außen wirkenden Begleiterscheinungen in ihrer gerichtsbekannten Ausprägung, der sog. "milieubedingten" Unruhe, verbunden. Ihr belästigender Charakter folge aus dem städtebaulichen Konfliktpotential, welches das Nebeneinander von [X.] Tätigkeit und Wohnen begründe. Die gegen die herkömmliche Differenzierung von Wohnungsprostitution, bordellartigen Betrieben und Bordellen angeführten Argumente überzeugten nicht. Die Unterscheidung sei hinreichend differenziert, um das typische Störpotential [X.] Betriebe sachgerecht zu erfassen. Für den Sonderfall des "[X.]er [X.]s" ergebe sich nichts Anderes. Ferner gäben weder das [X.] noch das [X.] Anlass zu einer abweichenden Einschätzung. Eine atypische Fallgestaltung, die die Beurteilung anhand einer typisierenden Betrachtung ausschlösse, sei ebenfalls nicht gegeben. Die Mischgebietsunverträglichkeit von Bordellen oder bordellartigen Betrieben stehe im Einklang mit Bundesrecht. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB seien nicht gegeben.

4

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Auffassung, dass es sich bei ihrem Betrieb um einen das Wohnen nicht wesentlich störenden Gewerbebetrieb i.S.v. § 6 Abs. 2 Nr. 4 [X.] 1962 handele. Angesichts des Regelungsregimes des [X.]es könne an der typisierenden Einordnung bordellartiger Betriebe nicht festgehalten werden. Wie § 12 Abs. 7 ProstSchG zeige, ständen Baugenehmigung und Betriebserlaubnis nach § 12 ProstSchG nebeneinander. Die funktionsgerechte Nutzung werde aber vom [X.] geregelt. Da der klägerische Betrieb danach das Wohnen nicht wesentlich störe, sei er zulässig. Die Klägerin macht zudem Verfahrensmängel geltend.

5

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision führt zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das angegriffene Urteil verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die tatrichterlichen Feststellungen lassen eine Entscheidung in der Sache nicht zu (§ 144 Abs. 4 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

7

Das Oberverwaltungsgericht ist der Auffassung, das klägerische Vorhaben sei [X.] unzulässig, weil es den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans [X.] widerspreche (§ 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 6 [X.] 1962). Es handele sich um keinen, das Wohnen nicht wesentlich störenden Gewerbebetrieb i.S.v. § 6 Abs. 2 Nr. 4 [X.] 1962. Das ist mit Bundesrecht nicht vereinbar.

8

Nach § 6 Abs. 1 [X.] 1962 dienen Mischgebiete dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Allgemein zulässig sind u.a. sonstige nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe (§ 6 Abs. 2 Nr. 4 [X.] 1962).

9

1. Zutreffend geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass es sich bei dem Betrieb der Klägerin um einen sonstigen Gewerbebetrieb handelt ([X.], Beschlüsse vom 5. Juni 2014 - 4 [X.] 8.14 - [X.] 2014, 574 Rn. 10, vom 2. November 2015 - 4 [X.] - [X.] 406.12 § 8 [X.] Nr. 23 Rn. 4 f. und vom 16. August 2017 - 4 B 18.17 - [X.]). Die Annahme, dieser sei bei typisierender Betrachtung als das Wohnen wesentlich störend einzustufen, steht hingegen mit Bundesrecht nicht im Einklang. Das Oberverwaltungsgericht hat die Reichweite der Typisierung überdehnt, weil es bei der Bestimmung des hierfür maßgeblichen Störpotentials den Begriff der "milieubedingten" Unruhe zu weit gefasst hat.

a) Bei der [X.]en Beurteilung, ob ein Betrieb als im Sinne des § 6 Abs. 2 Nr. 4 [X.] (in allen Fassungen) "das Wohnen wesentlich störender" und damit im Mischgebiet unzulässiger Gewerbebetrieb zu bewerten ist, ist im Ausgangspunkt eine - eingeschränkte - typisierende Betrachtung anzustellen (grundlegend [X.], Urteil vom 3. Februar 1984 - 4 [X.] 54.80 - [X.]E 68, 342 <346 f.>; ferner [X.], Urteil vom 24. September 1992 - 7 [X.] 7.92 - [X.] 406.12 § 15 [X.] Nr. 22). Der Betrieb ist als unzulässig einzustufen, wenn von Betrieben seines Typs bei funktionsgerechter Nutzung üblicherweise für die Umgebung in diesem Sinne unzumutbare Störungen ausgehen können; auf das Maß der konkret hervorgerufenen oder in Aussicht genommenen Störungen kommt es grundsätzlich nicht an ([X.], Urteil vom 13. Juni 1969 - 4 [X.] 21.67 - [X.] 406.11 § 34 BBauG Nr. 23; Beschlüsse vom 22. November 2002 - 4 [X.] - [X.] 406.12 § 6 [X.] Nr. 17 und vom 27. Juni 2018 - 4 [X.] - [X.] 406.12 § 6 [X.] Nr. 19 Rn. 8). Eine typisierende Betrachtungsweise verbietet sich jedoch, wenn der zur Beurteilung stehende Betrieb zu einer Branche gehört, deren übliche Betriebsformen hinsichtlich des Störgrades eine große Bandbreite aufweisen, die von nicht wesentlich störend bis störend oder sogar erheblich belästigend reichen kann. Ist mithin ein Betrieb einer Gruppe von Gewerbebetrieben zuzurechnen, die hinsichtlich ihrer Mischgebietsverträglichkeit zu wesentlichen Störungen führen können, aber nicht zwangsläufig führen müssen, wäre eine abstrahierende Bewertung des konkreten Betriebs nicht sachgerecht. Ob solche Betriebe in einem Mischgebiet zugelassen werden können, hängt dann von ihrer jeweiligen Betriebsstruktur ab. Maßgeblich ist, ob sich die Störwirkungen, die die konkrete Anlage bei funktionsgerechter Nutzung erwarten lässt, innerhalb des Rahmens halten, der durch die Gebietseigenart vorgegeben ist ([X.], Beschluss vom 27. Juni 2018 - 4 [X.] - [X.] 406.12 § 6 [X.] Nr. 19 Rn. 9).

b) Eine typisierende Betrachtung kann auch das Störpotential prostitutiver Betriebe in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen sachgerecht erfassen. Sie deckt aber nicht das gesamte Spektrum solcher Einrichtungen ab.

aa) So wird angenommen, dass - hier nach den tatsächlichen Feststellungen des [X.] allerdings nicht entscheidungserheblich - die sogenannte [X.] gesondert zu betrachten (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Juni 1995 - 4 B 137.95 - [X.] 406.12 § 4 [X.] Nr. 9) und typischerweise als mischgebietsverträglich einzuordnen sei (siehe etwa [X.], Beschluss vom 9. August 1996 - 8 S 1987/96 - NVwZ 1997, 601; Urteil vom 13. Februar 1998 - 5 S 2570/96 - NVwZ-RR 1998, 550; [X.], Beschlüsse vom 19. Mai 1999 - 26 ZB 99.770 - UPR 1999, 395 und vom 10. Juni 2010 - 1 ZB 09.1971 - juris Rn. 23). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Prostituierte in der Wohnung, in der sie dauerhaft wohnt, der Prostitution nachgeht. Diese gewerbliche Nutzung der Räumlichkeiten ist in der Regel von außen nicht wahrnehmbar und hat keine erheblichen negativen Auswirkungen auf die benachbarte Wohnnutzung (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 17. Dezember 2014 - 6 [X.] 28.13 - [X.] 402.41 [X.] Rn. 21; [X.], Urteil vom 24. Juli 2002 - 5 S 149/01 - [X.] 2003, 496; [X.], Beschluss vom 16. September 2013 - 8 A 10560/13 - juris Rn. 12).

bb) Zu sonstigen Prostitutionseinrichtungen, denen der prägende Bezug zur Wohnung der Prostituierten fehlt, und die Bordelle sowie bordellartige Betriebe in unterschiedlicher Gestalt umfassen, hat der [X.] entschieden, dass es sich um das Wohnen wesentlich störende Betriebe handelt. Zur Begründung hat er maßgeblich auf die von einem solchen Betrieb ausgehenden Nachteile und Belästigungen, insbesondere auf den Lärm des Zu- und [X.] und sonstige "milieubedingte" Unruhe abgestellt ([X.], Urteil vom 25. November 1983 - 4 [X.] 21.83 - [X.]E 68, 213 <216>; siehe auch Urteil vom 12. September 2013 - 4 [X.] 8.12 - [X.]E 147, 379 Rn. 14). Eine typisierende Betrachtung kann danach nur soweit reichen, als es um Betriebe geht, die insbesondere solche beeinträchtigenden Auswirkungen auf ihre Umgebung hervorrufen können, die dem städtebaulich zu verstehenden Begriff der "milieubedingten" Unruhe zuzuordnen sind. Dieser ist allein auf Störungen ausgerichtet, aus denen Konflikte zu anderen Nutzungsarten, insbesondere zur Wohnnutzung, entstehen können und die durch räumliche Trennung und Gliederung widerstreitender Nutzungsarten, nämlich der Verweisung in eine andere Gebietskategorie der [X.], gelöst werden können ([X.], Urteil vom 25. November 1983 - 4 [X.] 21.83 - a.a.[X.]).

Solche Störungen setzen voraus, dass der prostitutive Betrieb nach außen - in welcher Form auch immer - in Erscheinung tritt, wie z.B. durch Werbung im Umfeld des Betriebs oder auch eine entsprechende (Fassaden-)Gestaltung (Aufschriften, auffällige Werbung). Hierdurch hebt sich die Einrichtung von der umgebenden Nutzung ab und ist so dem Prostitutionsgewerbe ohne weiteres zuzuordnen. Eine deutlich in Erscheinung tretende prostitutive Einrichtung löst zusätzlichen, gebietsfremden (Publikums-)Verkehr aus, weil hierdurch vor allem Laufkundschaft angesprochen und zum Besuch des Betriebs angeregt wird. Das bringt Unruhe (Immissionen, insbesondere Lärm) in das Mischgebiet, beeinträchtigt damit die [X.] und wirkt sich negativ auf das [X.] Umfeld (§ 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB) und die Wohnbedürfnisse, insbesondere von Familien mit Kindern aus (vgl. § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB). Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass nicht nur die Kunden, sondern auch die Prostituierten die Betriebsstätte aufsuchen und wieder verlassen müssen, weil in Bordellen oder bordellähnlichen Betrieben im Unterschied zu solchen der [X.] nicht gewohnt wird und dort zudem immer mehrere Prostituierte tätig sind. Hinzu kommt, dass solche Betriebe regelmäßig auch in den Nachtstunden geöffnet sind. Schließlich kann mit nach außen in Erscheinung tretenden Bordellen oder bordellartigen Betrieben ein sog. Trading-down-Effekt einhergehen (siehe hierzu etwa [X.], Urteil vom 15. Dezember 1994 - 4 [X.] 13.93 - [X.] 406.11 § 34 BauGB Nr. 172 S. 25; Beschluss vom 21. Dezember 1992 - 4 B 182.92 - [X.] 406.12 § 1 [X.] Nr. 15 jeweils zu Vergnügungsstätten). Die sichtbare Existenz eines Bordells oder bordellähnlichen Betriebs kann auch Auswirkungen auf den [X.] im betroffenen Gebiet haben (§ 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB). Ferner sind negative Folgen für die Bewohnerstrukturen denkbar, weil Bewohner sich durch einen solchen ohne weiteres wahrnehmbaren Betrieb veranlasst sehen können, das Gebiet zu verlassen (vgl. § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB). Das gilt umso mehr, wenn die Prostituierten oder andere Bedienstete vor dem Betrieb für den Besuch der Einrichtung "werben".

Ausgehend von einem so verstandenen Begriff der "milieubedingten" Unruhe kann der im Rahmen des § 6 Abs. 2 Nr. 4 [X.] 1962 anzustellenden typisierenden Betrachtungsweise nur ein Betrieb zugrunde gelegt werden, der nach außen als solcher in Erscheinung tritt und/oder in den Nachtstunden (ab 22.00 Uhr) betrieben wird.

c) Das Oberverwaltungsgericht ist demgegenüber von einem unzutreffenden Verständnis der "milieubedingten" Unruhe ausgegangen und hat deshalb den Kreis der von einer typisierenden Betrachtung erfassten Betriebe zu weit gezogen. Es hat darauf abgestellt, dass bei Bordellen oder bordellähnlichen Betrieben mit milieutypischen Begleiterscheinungen wie Belästigungen durch alkoholisierte oder unzufriedene Kunden, organisierte Kriminalität, Menschen- und Drogenhandel, ausbeutender Zuhälterei, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verstößen gegen das Waffenrecht und Gewaltkriminalität bis hin zu Tötungsdelikten zu rechnen sei. Hierbei handelt es sich jedoch - auch in Ansehung des [X.]surteils vom 25. Januar 2007 - 4 [X.] 1.06 - ([X.]E 128, 118) – nicht um städtebauliche Belange. Solchen Gefahren, die in keinem Baugebiet hingenommen werden können, ist vielmehr mit ordnungsrechtlichen Mitteln zu begegnen. Darauf hat der [X.] bereits im Urteil vom 25. November 1983 - 4 [X.] 21.83 - ([X.]E 68, 213 <216 f.>) hingewiesen. Das Oberverwaltungsgericht lässt zudem unberücksichtigt, dass dem Bauplanungsrecht keine sozial-ethischen (Moral-)Vorstellungen zugrunde liegen (Stühler, [X.], 1013 <1033>; derselb. [X.] 2018, 335 <336>) und es auch nicht seine Aufgabe ist, rechtswidriges Verhalten zu sanktionieren ([X.], Urteil vom 12. Dezember 2013 - 4 [X.] 15.12 - [X.] 406.11 § 35 BauGB Nr. 394 Rn. 9).

2. An der Beurteilung prostitutiver Betriebe auf der Grundlage der eingeschränkten Typisierungslehre haben weder das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten ([X.] - [X.]) vom 20. Dezember 2001 ([X.] I S. 3983) noch das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen ([X.] - ProstSchG) vom 21. Oktober 2016 ([X.] I S. 2372) etwas geändert.

Das [X.] regelt ausschließlich vergütungs- und sozialversicherungsrechtliche Fragen und hat folglich auf das Bauplanungsrecht keinen Einfluss. Auch das [X.] hat den [X.]en Rahmen nicht verändert, wenn der Begriff der "milieubedingten" Unruhe - wie geboten - auf seinen städtebaulichen Gehalt zurückgeführt wird (vgl. auch [X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/[X.], BauGB, Stand Mai 2021, § 6a [X.] Rn. 39 m.w.N.; Fickert/Fieseler, [X.], 13. Aufl. 2019, § 4a Rn. 23.74). Der Gesetzgeber verfolgt damit andere als städtebauliche Ziele (vgl. [X.]. 18/8556 [X.]). Das bringt bereits § 12 Abs. 7 ProstSchG zum Ausdruck, wonach Erlaubnis- oder Anzeigepflichten nach anderen Vorschriften, wie etwa des Baurechts, unberührt bleiben. Die Erlaubnis nach § 12 ProstSchG besitzt keine Konzentrationswirkung (Fickert/Fieseler, a.a.[X.], § 4 Rn. 9.621). Auch aus § 14 Abs. 2 Nr. 5 ProstSchG folgt nichts Abweichendes. Die dort erwähnte "örtliche Lage" erfasst zwar auch [X.]e Erwägungen. Die Gesetzesbegründung belegt indessen, dass § 14 Abs. 2 Nr. 5 ProstSchG dem § 4 Abs. 1 Nr. 3 [X.] nachgebildet ist ([X.]. 18/8556 [X.] mit Verweis auf [X.], Urteil vom 17. Oktober 1989 - 1 [X.] 18.87 -). Daher sind die zum Verhältnis von Gaststättengenehmigung und Baugenehmigung entwickelten Grundsätze auf das Verhältnis von Baugenehmigung und Erlaubnis nach § 12 ProstSchG übertragbar (vgl. [X.], Beschluss vom 30. März 2021 - 22 ZB 20.1972 - BayVBl 2021, 411 Rn. 13). Dem entsprechend gilt auch hier der Vorrang der Entscheidung der sachnäheren Behörde ([X.], Urteile vom 17. Oktober 1989 - 1 [X.] 18.87 - [X.]E 84, 11 S. 13 f. und vom 4. Oktober 1988 - 1 [X.] 72.86 - [X.]E 80, 259 <261 f.>). Die Prüfung der mit dem bestimmungsgemäßen Betrieb eines Prostitutionsgewerbes in einer konkreten baulichen Umgebung verbundenen Störungen fällt auch weiterhin in die originäre Zuständigkeit der Baugenehmigungsbehörde. Diese entscheidet hierüber allein nach baurechtlichen Maßstäben und mit bindender Wirkung für die für den Vollzug des [X.]es zuständige Behörde. Das [X.] vollzieht die baurechtliche Prüfung nach, hat hierauf aber keinen Einfluss. Auch mittelbar ergeben sich keine Folgen aus dem [X.] für das Bauplanungsrecht. Die Bekämpfung der vom Oberverwaltungsgericht benannten strafrechtlich relevanten Begleiterscheinungen der Prostitution gehört zwar zu den Zielen des [X.]es (vgl. [X.]. 18/8556 [X.]). Wie ausgeführt, werden damit aber keine städtebaulichen Belange angesprochen. Der Gesetzgeber bringt mit dem [X.] vielmehr seine Erwartung zum Ausdruck, den beschriebenen Begleiterscheinungen durch die Neuregelung wirksam begegnen zu können (vgl. [X.]. 18/8556 S. 2).

3. Unter Anwendung vorstehender Rechtssätze lässt sich danach der klägerische Betrieb nicht typisierend erfassen. Nach den Feststellungen des [X.] (§ 137 Abs. 2 VwGO) weicht er vom vertypten Erscheinungsbild eines Bordells bzw. bordellähnlichen Betriebs deutlich ab. Im Unterschied zum "typischen Betrieb" nutzt der klägerische Betrieb keine Außenwerbung; er ist von außen nicht als prostitutiver Betrieb wahrnehmbar. Das Betriebskonzept zielt auf Diskretion und Anonymität; Kontakt zu Kunden erfolgt nur über E-Mail und/oder Telefon, so dass Laufkundschaft ausgeschlossen bleibt. Die Zahl der Kunden ist geringer als bei großen Bordellen oder Laufhäusern. Erwartet werden bis zu 30 Besucher pro Tag, und damit eher weniger als in einer Arzt- oder Massagepraxis, die sich ebenfalls in dem Gebäude befinden. Der Betrieb schließt um 20.00 Uhr; dort wird nicht übernachtet. Damit entfallen nächtliche (nach 22.00 Uhr) dem Betrieb zurechenbare (Ruhe-)Störungen. Hieraus folgt, dass das Störpotential nicht im Wege der Typisierung bestimmt werden kann. Es ist vielmehr eine Einzelfallprüfung erforderlich, die den Betrieb am Maßstab des zur Genehmigung gestellten Bau- und Betriebskonzepts auf seine Vereinbarkeit mit der im Mischgebiet ebenfalls zulässigen Wohnnutzung in den Blick nimmt.

Diese Prüfung kann der [X.] nicht selbst vornehmen, weil das Oberverwaltungsgericht - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - hierzu keine Feststellungen getroffen hat. Das zwingt zur Zurückverweisung. Das Oberverwaltungsgericht wird zu prüfen haben, ob der Betrieb, der eine Nähe zur [X.] aufweist, insgesamt wohnähnlich in Erscheinung tritt und dem Gebäude, in dem er sich befindet, nicht das Gepräge gibt. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass er am Standort bereits seit 1996 betrieben wird. Ob dies bisher beanstandungsfrei erfolgte, bedarf ebenfalls der Aufklärung, weil sich hieraus Rückschlüsse auf seine Vereinbarkeit mit der Wohnnutzung ziehen lassen.

Mit der Zurückverweisung kommt es auf die Verfahrensrügen nicht mehr an.

Meta

4 C 5/20

09.11.2021

Bundesverwaltungsgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 29. Oktober 2019, Az: OVG 2 B 2.18, Urteil

§ 1 Abs 6 Nr 2 BauGB, § 1 Abs 6 Nr 3 BauGB, § 30 Abs 1 BauGB, § 6 Abs 1 BauNVO 1962, § 6 Abs 2 Nr 4 BauNVO 1962

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 09.11.2021, Az. 4 C 5/20 (REWIS RS 2021, 1272)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1272

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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