Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.12.2015, Az. 4 StR 294/15

4. Strafsenat | REWIS RS 2015, 523

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[X.]:[X.]:[X.]:2015:161215B4STR294.15.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 294/15

vom
16. Dezember
2015
in der Strafsache
gegen

wegen Diebstahls u.a.

-
2
-
Der 4.
Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des [X.] und des Beschwerdeführers am 16.
Dezember 2015 gemäß §
349 Abs.
2 und 4 StPO beschlossen:

1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.]s Siegen vom 9.
März 2015 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen in den Fällen
II.
4. bis 28. und 31. bis 40. der Urteilsgründe bestehen.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere [X.] des [X.] zurück-verwiesen.
3.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Leistungserschleichung in 25
Fällen, wegen Hausfriedensbruchs in acht Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung, sowie wegen Beleidigung und Diebstahl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus [X.]. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensbeanstandung und die 1
-
3
-
Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
I.
Das [X.] hat die folgenden Feststellungen und Wertungen ge-troffen:
Der Angeklagte ist [X.]. 2002 kam er nach [X.]. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, jedoch wurde er wegen einer psychotischen Er-krankung nicht abgeschoben. Der Angeklagte leidet spätestens seit 2007 an einer chronischen paranoiden Psychose. Er hört ständig Stimmen, die er auch als Brennen im Körper empfindet, und hat Gedankeneingebungen, dass er mit Vögeln sprechen kann. Der Angeklagte konsumiert auch seit vielen Jahren

b--Zauber und könne bei einem Aufenthalt in [X.] behoben werden. Er traut sich aber
nicht, nach [X.] zu reisen, weil er befürchtet, nicht wieder in die [X.] einreisen zu dürfen. Seit 2011 war der Angeklagte mehrfach stationär untergebracht. Die ihm im Rahmen von Unterbringungen verabreichten [X.] reichten nicht zur [X.] der Krankheit. Die Einnahme zusätzlicher Medikamente lehnte der Ange-klagte ab. Es besteht eine gesetzliche Betreuung für sämtliche Aufgabenberei-che.
Im Tatzeitraum von November 2013 bis September 2014 nahm der [X.] keine Medikamente. Er zerschlug sein Mobiliar, verlor seine Wohnung und wurde in einem [X.] untergebracht. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln kam er nicht aus. Vermeintliche Zahlungs-2
3
4
-
4
-
ansprüche versuchte er mittels aggressiven Auftretens durchzusetzen. Ein früherer Arbeitgeber, V.

, war insolvent geworden und dem Angeklagten
möglicherweise etwa 1000

g-te V.

massiv, so dass er dem Angeklagten mehrfach kleinere Beträge aus-
zahlte. Der neue Firmeninhaber, M.

A.

, schuldete dem Angeklagten
im Februar 2014 den Lohn für den [X.].
Das [X.] hat folgende Taten
festgestellt:
Der Angeklagte erschien am 18.
Februar 2014 und verlangte vom [X.] lautstark sein Geld. M.

A.

konnte wegen Pfändungen
nicht zahlen und vertröstete den Angeklagten auf den 20.
Februar 2014. Der Angeklagte warf die Möbel im Büro um, drängte M.

A.

in eine Ecke
und schlug ihm mit
der Stirn gegen die Nase (Fall
II.
1. der Urteilsgründe).
M.

A.

wehrte sich mit
einem Faustschlag. Auch am 20.
Februar 2014
erhielt der Angeklagte kein Geld. Er erschien deshalb am 21.
Februar 2014 er-neut und bedrängte den Vorarbeiter R.

A.

, er solle ihm sein Geld zah-
len. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem der Angeklagte mit dem Kopf gegen die Nase des R.

A.

schlug, die zu bluten begann und anschwoll
(Fall
II.
2. der Urteilsgründe). V.

versuchte, die beiden zu trennen. Der An-
geklagte forderte nun Geld von V.

(Fall
II.
3. der Urteilsgründe). Er drängte
ihn zurück, bis V.

stürzte und sich eine Schürfwunde zuzog. Zu einer Zah-
lung kam es nicht, vielmehr erschien die Polizei. Die drei Geschädigten legen heute keinen Wert mehr auf die Strafverfolgung. Das [X.] konnte in die-sen drei Fällen eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen.
Ausgeurteilt sind ferner 25
Fahrten mit Zügen der A.

R.

GmbH, bei
denen der Angeklagte den Fahrpreis nicht entrichtet hatte, und sieben Fahrten, 5
6
7
-
5
-
bei denen der Angeklagte die Züge mit Fahrkarte, aber entgegen einem beste-henden Hausverbot benutzt hatte
(Fälle
II.
4. bis 28. und 32. bis 38. der Urteils-gründe), ferner ein Ladendiebstahl im

Markt (Fall
II.
31. der Urteilsgrün-
de), die Beleidigung von zwei Mitarbeiterinnen des

Marktes (Fall
II.
39.
der Urteilsgründe), und ein Hausfriedensbruch
in Tateinheit mit Sachbeschädi-gung im

Markt (Fall
II.
40. der Urteilsgründe). Hinsichtlich zweier Sachbe-
schädigungen im [X.] wurde der Angeklagte wegen Schuld-unfähigkeit freigesprochen (Fälle
II.
29. und II.
30. der Urteilsgründe).
Nicht Gegenstand des Verfahrens ist ein Vorfall vom 8.
Januar 2015. Der Angeklagte traf in der Bahnhofsunterführung die 20-jährige D.

B.

, die
er schon mehrmals vergeblich angesprochen hatte. Er drängte sie gegen die Wand und versuchte, sie
auf den Mund zu küssen. Mit einer Hand hielt er sie fest, mit der anderen fasste er ihr fest an die Brüste und in den [X.]. Die Frau trat um sich und versuchte, den Angeklagten zu beißen, konnte sich aber nicht befreien. Der Angeklagte ließ sie schließlich gehen.
Das [X.] ist aufgrund der bestehenden Psychose bei allen Taten von einer sicher bestehenden erheblichen Verminderung der Steuerungsfähig-keit des Angeklagten ausgegangen. Bei den ersten drei Taten sei seine Erre-gung durch die Zahlungsverweigerung so gesteigert gewesen, dass die [X.] möglicherweise aufgehoben gewesen sei. Die [X.] in den Fällen
II.
29. und 30. der Urteilsgründe seien psychotisch [X.] habe sicher Schuldunfähigkeit vorgelegen. Die Annahme, dass vom Angeklagten infolge seines Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades in Zukunft weite-re Körperverletzungs-
und Nötigungsdelikte zu erwarten seien, stützt die [X.]

dem psychiatrischen Sachverständigen folgend

auf die Taten
II.
1.
8
9
-
6
-
bis 3. der Urteilsgründe und darauf, dass der Angeklagte durch sein Vorgehen gegen die junge Frau in der Bahnhofsunterführung nunmehr eine weitaus höhe-re Gefährlichkeit gezeigt habe.
II.
1.
Der [X.] begegnet durchgreifenden rechtlichen Be-denken. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß §
63 StGB ist eine außerordentlich belastende [X.], die einen besonders gravierenden Eingriff in
die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.] aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die not-wendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen
[X.] zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 30.
Juli 2013

4
StR 275/13, [X.], 36, 37 mwN). Der Tatrichter hat die der [X.] zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so [X.] darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (vgl.
[X.], Beschlüsse vom 29.
April 2014

3
StR 171/14, [X.], 243, 244; vom 30.
Juli 2014

4
StR
183/14, Rn.
5).

10
-
7
-
a)
Das Urteil belegt die Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklag-ten bei den jeweiligen Taten nicht hinreichend. Das Gutachten
des Sachver-ständigen, das das [X.] der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Ange-klagten und der Gefahrenprognose zugrunde gelegt hat, ist nicht nachvollzieh-bar dargestellt. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte an einer chroni-schen paranoiden Schizophrenie (ICD
10: F.
20.0), die Halluzinationen werden nach den Ausführungen des Sachverständigen, der den Angeklagten nicht per-sönlich exploriert hat, von einer Stoffwechselstörung im Gehirn verursacht. [X.] Angabe der Krankheitsursache widerspricht den gängigen Darstellungen in der einschlägigen Literatur, wonach bislang ein allgemein akzeptiertes Erklä-rungsmodell der Erkrankung nicht gefunden werden konnte (vgl. [X.]/[X.], Forensische Psychiatrie, 4.
Aufl.,
S. 178; [X.]/[X.]/Leygraf/[X.], [X.] der Forensischen Psychiatrie, Bd.
2 S.
72
f.). Nähere Erläuterungen, wel-chen Umständen der Sachverständige die Ursache der Erkrankung entnommen hat, enthält das Urteil jedoch nicht.
Die Feststellungen des Urteils zur Ursächlichkeit der Erkrankung des Angeklagten für seine Taten sind teilweise widersprüchlich. Das [X.] hat zu den Taten
II.
29. und 30. festgestellt, dass der Angeklagte die [X.] im Asylbewerberheim begangen habe, weil er sich über Mitbewohner bzw. seinen Betreuer geärgert habe. Nicht ausschließbar habe er aber auch in diesen Fällen versucht, die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu brin-gen. Bei der rechtlichen Würdigung ist das [X.] hingegen mit dem Sachverständigen davon überzeugt, dass die Steuerungsfähigkeit des Ange-klagten sicher aufgehoben war, denn diese selbstschädigenden Handlungen seien psychotisch veranlasst gewesen, um die Stimmen zur Ruhe zu bringen. Diese Taten liegen zwar der Unterbringungsanordnung nicht zu Grunde; es ist aber zu besorgen, dass sich eine Zugrundelegung falscher Tatsachen in Einzel-11
12
-
8
-
fällen möglicherweise auch auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit in den ande-ren Fällen
ausgewirkt haben könnte.
Das [X.] geht bei den Taten zum Nachteil V.

und M.

und R.

A.

(Fälle
II.
1. bis 3. der Urteilsgründe) davon aus, dass diesen

krankheitsbedingten Verwahrlosung des Angeklagten, die die moralische Inte-grität seiner [X.] vermindert gewesen sei. Eine Schuldunfähigkeit sei nicht auszuschlie-ßen. Diese Formulierung des [X.] lässt nicht erkennen, inwiefern ge-rade die Erkrankung des Angeklagten zur Tatbegehung beigetragen und sich auf seine Steuerungsfähigkeit bei der Tatbegehung ausgewirkt hat. Die [X.] verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten bei den [X.], Hausfriedensbrüchen und Diebstählen erklärt das [X.] des-
Verhalten gegenüber Frau B.

-

i-siert gewesen sei. Mit diesen Formulierungen
ist ein symptomatischer Zusam-menhang zwischen der Erkrankung und eine aufgrund der Erkrankung sicher erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei den [X.] und der Tat zum Nachteil der Frau B.

nicht ausreichend dargetan, zumal das [X.]
bei
letzterer keine Feststellungen dazu getroffen hat, inwieweit die Alkoholisierung des Angeklagten enthemmend gewirkt haben und für die Tat ursächlich gewor-den sein könnte und deshalb
eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit auf den Alkohol zurückzuführen sein könnte.
b)
Auch die Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose werden den oben genannten Anforderungen nicht gerecht. Das [X.] folgt dem Sachver-13
14
-
9
-
ständigen darin, dass die Kombination von Psychose und Marihuanakonsum Auswirkungen auf die Gewaltbereitschaft des Angeklagten hatte. Cannabis steigere, wie der Sachverständige ausgeführt habe, die Gewaltbereitschaft um das bis zu Siebenfache. Aufgrund der Einnahme der psychotropen Substanz nehme die Funktionsfähigkeit des Gehirns ab. Ein dahingehendes [X.] habe der Angeklagte nicht entwickelt. Diese Einschätzung entbehrt einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Konkrete Feststellungen zu einer Stei-gerung der Gewaltbereitschaft des Angeklagten aufgrund von Cannabiskonsum hat das [X.] nicht getroffen. Das [X.] hat bei keiner der Taten ausdrücklich festgestellt, dass der Angeklagte sie unter dem Einfluss von [X.] begangen hat. Vielmehr heißt es an anderer Stelle der Urteilsgründe, dass sich der Angeklagte nach dem täglichen Konsum von 2
g Marihuana glücklich fühlte, was mit einer gesteigerten Gewaltbereitschaft nicht ohne [X.] zu vereinbaren ist. Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Angeklagte seit vielen Jahren Cannabis konsumiert, sich eine Steigerung seiner Gefährlichkeit nach Auffassung der [X.] aber erst durch die Tat in der Bahnhofsunter-führung zum Nachteil der Frau B.

gezeigt hat. In dieser Tat sieht das Land-
gericht einen deutlichen Sprung im Ausmaß der Gefährlichkeit des Angeklag-ten. Bei dieser Tat ist aber kein Cannabiskonsum, sondern eine Alkoholisierung des Angeklagten festgestellt. Inwieweit die Alkoholisierung zum Abbau der Hemmungen zur Begehung schwerwiegender Straftaten beigetragen hat, hat die [X.] nicht geprüft.
Die Unterbringungsanordnung bedarf daher einer neuen tatrichterlichen Verhandlung und Entscheidung. Angesichts der besonderen
Sachlage wird die Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen zu erwägen sein.
15
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-
2.
Die Mängel in der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten führen nicht nur zur Aufhebung des [X.]s, sondern auch zur Aufhebung des Freispruchs (§
358 Abs.
2 Satz
2 StPO). Da auch in den [X.] eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten letztlich nicht [X.] ist, hat der Senat auch diese

mit Ausnahme der [X.] Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen

aufgehoben.
Sost-Scheible
Roggenbuck
Franke

Mutzbauer
Quentin
16

Meta

4 StR 294/15

16.12.2015

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.12.2015, Az. 4 StR 294/15 (REWIS RS 2015, 523)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 523

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