Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 27.04.2017, Az. 1 BvR 563/17

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2017, 11844

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung des Elternrechts (Art 6 Abs 2 S 1 GG) durch Entziehung der elterlichen Sorge wegen erheblicher Gefährdung des Kindeswohls - Mängel des im fachgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens nicht durchschlagend, wenn das Fachgericht das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung unabhängig davon hinreichend darlegt


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, ohne dass es einer Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedarf.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

I.

1

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen den Entzug der elterlichen Sorge für ihre drei Kinder, die fremduntergebracht sind.

2

1. a) Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines elfjährigen [X.] (geboren 2005), eines achtjährigen [X.] (geboren 2008) und einer fünfjährigen Tochter (geboren 2011), die jeweils einen anderen Vater haben. Für ihre Söhne übte die Beschwerdeführerin die elterliche Sorge aufgrund einer entsprechenden Sorge-erklärung gemeinsam mit dem jeweiligen Vater aus, für ihre Tochter hatte sie die elterliche Sorge zur alleinigen Ausübung inne. Die Kinder wurden geboren, während die Beschwerdeführerin einem Studium in [X.] nachging. Nach der Geburt ihrer Tochter erhielt die Familie erstmals eine ambulante Hilfe in Form einer Familienhilfe. Nach der Trennung vom Vater der Tochter zog die Beschwerdeführerin Mitte 2012 mit den Kindern in den Haushalt ihrer eigenen Eltern in [X.]. Es folgte zunächst eine ambulante, dann stationäre psychiatrische Behandlung der Beschwerdeführerin vom 28. August bis zum Abbruch durch die Beschwerdeführerin am 16. September 2012 wegen einer depressiven Erkrankung. Das Jugendamt am neuen Wohnort wurde tätig, nachdem der ältere [X.] in der Schule starke Verhaltensauffälligkeiten zeigte. Daraufhin erhielt er ambulante Hilfe in Form einer Tagesgruppe, die er täglich besuchen konnte. Ab dem 24. Februar 2014 wurde zusätzlich eine Familienhilfe im Haushalt der Beschwerdeführerin installiert. In ihrem Bericht vom 4. April 2014 fasste die eingesetzte Familienhelferin zusammen, dass sie die Kindesmutter orientierungslos und teilweise verwirrt erlebt habe, ihre Zukunftspläne änderten sich ständig. Den Kindern fehle ein stabiler Rahmen. Eine zielgerichtete Arbeit sei mit der Kindesmutter kaum möglich. Die Erziehungsstile der Kindesmutter ("hilflos-labil") und der Großeltern ("rigide-autoritär") seien extrem unterschiedlich.

3

b) Nachdem das Jugendamt mit Schreiben vom 5. Juni 2014 eine Gefährdungsmeldung an das Amtsgericht abgegeben hatte, da die Beschwerdeführerin die Zusammenarbeit bei unklarer Gefährdungssituation grundlegend verweigere, wurde für die Kinder zunächst ein Verfahrensbeistand bestellt. Die [X.] empfahl in der aus ihrer Sicht kindeswohlgefährdenden Situation die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei gleichzeitiger Unterbringung der Kinder in einer Bereitschaftspflegefamilie.

4

In einer ersten amtsgerichtlichen Anhörung am 17. Juli 2014 erklärte sich die Beschwerdeführerin bereit, eine sozialpädagogische Familienhilfe in ihrem Haushalt anzunehmen. Im August 2014 fasste sie jedoch den Plan, mit ihren Kindern nach [X.] umzuziehen. Gleichzeitig teilte sie dem Gericht mit, dass sie auf die sozialpädagogische Familienhilfe verzichte, denn es werde "an ihr herumgezerrt und auf ihr herumgetrampelt". Nach ihrem Umzug konnte nach Vermittlung durch das Jugendamt am neuen Wohnort ab dem 11. August 2015 eine Familienhelferin eingesetzt werden, um eine neue Arbeitsbeziehung aufzubauen und die Kinder zu schützen.

5

Im Gutachten vom 19. Oktober 2015 kommt die amtsgerichtlich bestellte Sachverständige zu dem Schluss, dass die Erziehungsfähigkeit der Mutter erheblich eingeschränkt sei; sie könne die emotionalen Bedürfnisse der Kinder nur eingeschränkt wahrnehmen und auf sie eingehen. Sie habe Schwierigkeiten, ihren eigenen Hilfebedarf zu sehen und zuzulassen, obwohl deutliche Hinweise [X.], dass sie unter einer "fortdauernden ernsten chronifizierten psychischen Erkrankung" leide, "die mit depressiven Verstimmungen und starken Ängsten und Rückzugstendenzen" einhergehen. Der Verbleib der Kinder im Haushalt der Mutter beziehungsweise im Haushalt der Großeltern sei nur möglich, wenn die Unterstützung durch eine Familienhilfe auch tatsächlich genutzt werde. Andernfalls sei von einer im sozial-emotionalen Bereich angesiedelten chronischen Gefährdung auszugehen, die bei relativ kleinen Veränderungen in eine akute Gefährdung umschlagen könne.

6

Bei einer zweiten amtsgerichtlichen Anhörung am 26. November 2015 erklärte sich die Beschwerdeführerin einverstanden, dass ihre Kinder für maximal sechs Monate in eine geeignete Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen werden, um ein sogenanntes Clearing durchzuführen. Es wurde festgestellt, dass angesichts der Mitwirkung kein Eingriff in die elterliche Sorge erforderlich sei.

7

Nachdem die Beschwerdeführerin den entsprechenden Antrag auf Hilfe zur Erziehung nicht einreichte und auch nicht zum Gesprächstermin mit dem Jugendamt am 21. Januar 2016 erschien, hat das Amtsgericht mit nicht angegriffenem Beschluss vom 27. Januar 2016 im Wege der einstweiligen Anordnung den Kindeseltern vorläufig die elterliche Sorge für den älteren und jüngeren [X.] sowie der Beschwerdeführerin die elterliche Sorge für ihre Tochter entzogen und Amtsvormundschaft eingerichtet; die dagegen gerichtete Beschwerde wurde durch nicht angegriffenen Beschluss des [X.] vom 26. Februar 2016 zurückgewiesen.

8

Am 4. Februar 2016 wurden die beiden Söhne in einer Jugendherberge in [X.] in Obhut genommen, nachdem die Beschwerdeführerin dem Vater des älteren [X.] angekündigt hatte, sich oder den Kindern etwas antun zu wollen, wenn man die Kinder abhole. Die Tochter wurde am 6. Februar 2016 bei der Schwester der Beschwerdeführerin, ebenfalls in [X.], in Obhut genommen. Es folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung um den Umgang der Beschwerdeführerin mit ihren fremduntergebrachten Kindern.

9

Mit angegriffenem Beschluss vom 13. Oktober 2016 entzog das Amtsgericht den Kindeseltern in der Hauptsache die elterliche Sorge für den älteren und jüngeren [X.] sowie der Beschwerdeführerin die elterliche Sorge für ihre Tochter und übertrug sie auf das zuständige Jugendamt als Amtsvormund. Das Wohl der drei Kinder sei nach den Stellungnahmen des [X.] und der [X.], dem persönlichen Eindruck des Gerichts von der Kindesmutter und den Kindern und dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens akut gefährdet. Die Kindesmutter, die nach der Sachverständigen an einer rezidivierenden, mittelgradigen depressiven Störung mit Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung leide und dabei über keinerlei Einsicht in ihre Behandlungsbedürftigkeit verfüge, sei nur eingeschränkt erziehungsfähig. Zuletzt habe sie in der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2015 erklärt, dass sie es nicht für erforderlich halte, sich einer Therapie zu unterziehen. Dort habe sie auch berichtet, die Wohnung aus Angst tagsüber nicht mehr zu verlassen; auch ihr [X.] dürfe nicht im nahegelegenen Supermarkt einkaufen, da ihm dort etwas passieren könne. Die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit der Kindesmutter sei krankheitsbedingt (unverschuldet) eingeschränkt: So berichteten die eingesetzten Familienhelferinnen und die [X.], dass sie emotionale Nähe zu den Kindern nur sehr schwer zulassen könne und für die Kinder aufgrund ihres ambivalenten Verhaltens nur schwer einschätzbar sei. Bei den begleiteten [X.], die vierzehntägig stattfänden, widme sich die Kindesmutter (auch nach Angaben der Söhne) vor allem ihrer Tochter, der ältere [X.] übernehme häufig die Verantwortung und kümmere sich auch um die Schwester, während der jüngere [X.] völlig aus dem Blick der Mutter gerate. Die Kindesmutter sei mangels Vertrauen nicht bereit, mit dem System professioneller Hilfe zusammenzuarbeiten. Darin liege wohl der Grund für die vier Wohnsitzwechsel seit Mitte 2012, wodurch den Kindern jegliche [X.] Kontakte unmöglich gemacht worden seien. Alle Kinder wiesen bereits deutliche Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich auf. Durch das ambivalente Verhalten seien sie sozial orientierungslos. Am deutlichsten zeige sich dies beim älteren [X.], der mittlerweile nach Einschätzung der beiden letzten zuständigen Grundschulen in einer [X.] nicht mehr beschulbar sei.

c) Das [X.] wies die Beschwerde der Beschwerdeführerin und des Vaters des älteren [X.] nach Anhörung mit angegriffenem Beschluss vom 23. Januar 2017 zurück. Das Wohl der Kinder sei im mütterlichen Haushalt gefährdet. Nach wie vor sei ungeklärt, ob die basale Versorgung durch die Mutter sichergestellt sei, da diese stets im Haushalt der Großeltern stattgefunden habe. In der mündlichen Anhörung sei deutlich geworden, dass die Beschwerdeführerin zwar zwischenzeitlich einen eigenen Hausstand gehabt habe, die Kinder dort aber weder betreut noch versorgt worden seien. Jedenfalls habe die Beschwerdeführerin den Schul- und Kindergartenbesuch sowie die Versorgung mit entsprechenden Materialien nicht sicherstellen können. Die Kindesmutter beziehe die Kinder in ihre Ängste und ihr Bedürfnis nach Abgrenzung zur Außenwelt ein und gebe den Kindern das Gefühl, Dritte seien ursächlich für ihr eigenes Versagen. So habe sie beispielsweise am 21. Mai 2014 in das Hausaufgabenheft des älteren [X.] geschrieben: "[…] Ich finde es richtig schlimm, dass du so eine scheußliche Schule besuchen musst […]". Die Kinder dürften mit der Begründung, dass sie nur bei der Mutter sein wollten, weder im Fußballverein sein noch Freundschaften pflegen, was die Söhne nunmehr nach der Inobhutnahme begeistert wahrnehmen würden. Aktuell stürze die Haltung der Mutter die Kinder in Loyalitätskonflikte, wenn sie im Rahmen der Umgänge versuche, die Kinder in ihrer jetzigen Lebenswelt negativ zu beeinflussen. Eine emotionale Verlässlichkeit könne die Mutter ihren Kindern nicht bieten. So übe sie seit Mitte Dezember 2016 keinen Umgang mit ihren Kindern mehr aus, weil sie der Aufforderung der Einrichtung, Termine für getrennte Umgänge abzustimmen, nicht nachkomme. Der ältere [X.] habe sich bei der Anhörung enttäuscht gezeigt, dass seine Eltern ihn nicht besuchten. Die Mutter erscheine auch fortgesetzt nicht zu den [X.] und verhindere so eine Einbindung in die Lebenswelt der Kinder. Sie sei auch nicht in der Lage gewesen, die Kinder vor dem autoritären Erziehungsstil der Großeltern zu schützen. Der ältere [X.] habe in seiner gerichtlichen Anhörung wiederholt geschildert, geschlagen worden zu sein. Nach Wahrnehmung der beteiligten Fachkräfte habe die Mutter den Kindern sogar mit den Großeltern gedroht, als sie selbst nicht hinreichend erzieherisch auf die Kinder habe einwirken können. Die Sachverständige habe nachvollziehbar ausgeführt, dass die Kindesmutter zumindest an einer Depression leide. Die psychischen Auffälligkeiten seien auch in der Anhörung vor dem [X.] deutlich zu Tage getreten: Die Beschwerdeführerin habe sich zunächst gar nicht äußern wollen, dann jedoch die anderen Beteiligten ständig unterbrochen, sie der Lüge bezichtigt und betont, dass sie und ihre Kinder mit niemandem etwas zu tun haben wollten. Im Rahmen der Kindesanhörung habe das Gericht die Kinder als schwer belastet wahrgenommen. Der ältere [X.], der sich verantwortlich fühle, alles falsch gemacht zu haben, habe sich gar nicht kindlich verhalten, sondern sei vielmehr darauf bedacht gewesen, seinen Befindlichkeiten keinen Ausdruck zu verleihen. Er und sein jüngerer Bruder suchten nach Aufmerksamkeit durch Verletzung von Regeln, wobei sie seit der Inobhutnahme bereits große Fortschritte im [X.]n Bereich gemacht hätten. Der ältere [X.] könne voraussichtlich von der Förder- in die [X.] wechseln. Auch das Verhalten der Tochter sei auffällig: Anlässlich des Hausbesuchs der (bislang für die Tochter unbekannten) [X.] sei sie in deren Auto geklettert und nur unter Anwendung körperlichen Zwangs bereit gewesen, zur Kindesmutter zurückzugehen. In der [X.] habe sie sich in stereotype Bewegungsabläufe zurückgezogen, beim Essen und jeden Abend vor dem Einschlafen frage sie angstvoll um Erlaubnis, nachts [X.] verlassen zu dürfen. Alle Kinder hätten in der Anhörung (teils auch ungefragt) angegeben, zurück zur Mutter zu wollen. Die Tochter habe ergänzt, dass die Mutter aber nicht mehr mit ihr schimpfen solle, wenn sie nachts wach werde.

2. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als "Elternrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder".

Aus verfassungsrechtlicher Sicht sei die Nachhaltigkeit eines elterlichen Versagens Voraussetzung für den Entzug der elterlichen Sorge. Das Amtsgericht habe sich bei seinen Feststellungen darauf beschränkt, sich auf das Sachverständigengutachten vom 19. Oktober 2015 zu beziehen, ohne dies selbst kritisch zu überprüfen. Das Gutachten sei unbrauchbar, da es an diversen formellen wie inhaltlichen Mängeln leide.

Im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung sei es den Gerichten von Verfassungs wegen auferlegt, vor Einrichtung einer Amtsvormundschaft zu prüfen, ob nahe Angehörige oder sonstige Bezugspersonen als Vormund in Betracht kommen. Hier sei beispielsweise an die Eltern der Beschwerdeführerin, die Großeltern der Kinder, zu denken.

Ferner lasse sowohl die Entscheidung des Amtsgerichts als auch die des [X.] die gebotene Abwägung zwischen den Folgen eines weiteren Verbleibs im mütterlichen Haushalt und den Folgen einer Fremdunterbringung vermissen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] nicht gegeben sind.

Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann (vgl. [X.] 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen beziehungsweise aufrechterhalten werden darf (vgl. [X.] 60, 79 <89>). Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreiche, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. [X.] 60, 79 <91>; 72, 122 <137 f.>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Eine solche Gefährdung des Kindes kann nur angenommen werden, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, juris, Rn. 23, m.w.N.).

Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegt wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung, die sich nicht darauf beschränkt, ob die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruhen (vgl. [X.] 18, 85 <93>), sondern die auch auf einzelne Auslegungsfehler (vgl. [X.] 60, 79 <91>) sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (vgl. [X.] 136, 382 <391 Rn. 28>) erstreckt ist.

Dabei führt es nicht ohne Weiteres zur Verfassungswidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, wenn ein Sachverständigengutachten für sich genommen keine verlässliche Grundlage für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung bietet, soweit die Entscheidung die Mängel thematisiert, die fachliche Qualifikation des Sachverständigen näher klärt und nachvollziehbar darlegt, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar sind und zur Entscheidungsfindung beitragen können. Selbst bei völliger Unverwertbarkeit einer sachverständigen Begutachtung hält eine Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle stand, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Eltern rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung aus den Entscheidungsgründen auch ohne Einbeziehung der sachverständigen Aussagen hinreichend nachvollziehbar ergibt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, juris, Rn. 35 f.).

2. Danach sind die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Die Fachgerichte gehen fehlerfrei davon aus, dass die Kinder bei Verbleib im mütterlichen Haushalt einer anhaltenden erheblichen Gefährdung in Form einer Störung im sozial-emotionalen Bereich ausgesetzt wären. Diese Einschätzung gründet sich auf die Feststellungen der Sachverständigen, die Einschätzung der Fachkräfte (Jugendamt, Familienhilfe, [X.]) und auf die eigenen Wahrnehmungen der Gerichte.

aa) Soweit die Beschwerdeführerin rügt, dass die Entscheidungen auf einem unverwertbaren Sachverständigengutachten basierten und deshalb verfassungswidrig seien, verkennt sie bereits die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Verwertung von Sachverständigengutachten (oben 1. Rn. 19). Zwar merkt die Beschwerdeführerin zu Recht an, dass die angegriffenen Entscheidungen auf die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens Bezug nehmen. Dies beschränkt sich jedoch auf die Ausführungen zur psychischen Erkrankung der Beschwerdeführerin. Aus den Entscheidungsgründen lässt sich insbesondere nicht ersehen, dass sich die Fachgerichte - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - an das Ergebnis des Sachverständigengutachtens gebunden fühlten. Das [X.] weist vielmehr selbst darauf hin, dass das Sachverständigengutachten den Anforderungen, welche an ein psychiatrisches Gutachten zu stellen sind, nicht vollständig entspreche. Dass die Beschwerdeführerin an einer depressiven Erkrankung leide, sei von der Sachverständigen jedoch dargelegt und begründet. Die Diagnose werde mit Aussagen und Gesprächen mit der Beschwerdeführerin sowie einem mit ihr durchgeführten Interviewverfahren belegt. Angesichts des von verschiedenen Fachkräften bereits seit mehreren Jahren beobachteten Isolationsverhaltens der Beschwerdeführerin und ihres Verhaltens im Rahmen der gerichtlichen Anhörung könne das [X.] diese Einschätzung nachvollziehen und halte sie für verwertbar. Die Verwertbarkeit scheitert auch nicht etwa an einer mangelnden Qualifikation der Sachverständigen. Das [X.] legt nachvollziehbar dar, dass die Sachverständige, die ihren Lebenslauf vorgelegt hat, als Ärztin für Psychiatrie mit einer Ausbildung als systemische Familientherapeutin und mit Erfahrungen im forensischen Bereich den Anforderungen des neu gefassten § 163 Abs.1 FamFG entspreche.

bb) Im Übrigen stützen die Fachgerichte ihre Entscheidung auf eine vom Sachverständigengutachten unabhängige Begründung. Sie legen ausführlich dar, auf welche Ereignisse und Entwicklungen ihre Einschätzung zum Kindeswohl im Einzelnen basiert. Dabei trennt das [X.] zwischen den Anhaltspunkten für eine Schädigung beziehungsweise Gefährdung des Wohls bei jedem einzelnen der drei Kinder und den Hinweisen darauf, dass die Ursachen hierfür (unverschuldet) in der Lebenssituation und den Verhaltensweisen der Beschwerdeführerin zu finden sind.

Bei dem älteren [X.] geht das [X.] nachvollziehbar davon aus, dass er in seiner Entwicklung bereits Schaden erlitten habe. Diesen Schluss zieht das [X.] insbesondere aus der Rückmeldung der Schule über lang anhaltend starke Verhaltensauffälligkeiten, die einen Wechsel auf eine Förderschule erforderlich machten. Auch die Berichte der eingesetzten Familienhelfer, der [X.] und des Vertreters des [X.] zu provozierenden Regelverstößen sowie die eigene Wahrnehmung des Gerichts aus der Kindesanhörung, während der der ältere [X.] sich nicht kindlich verhalten, sondern sich auffällig belastet und in der Rolle des Verantwortlichen gezeigt habe, vermögen diese Einschätzung zu stützen. Bei den jüngeren Kindern geht das [X.] auf nachvollziehbare Weise von einer Gefährdung des Kindeswohls aus. Der jüngere [X.], der während seiner gerichtlichen Anhörung ebenfalls schwer belastet gewirkt habe, falle wie sein älterer Bruder durch provozierende Regelverstöße auf. Für die Tochter stützt das [X.] seine Einschätzung insbesondere auf den Bericht der [X.], nach dem die Tochter anlässlich des ersten Hausbesuchs in der Familie nicht bereit war, den Pkw der [X.], in den sie selbst geklettert war, freiwillig zu verlassen, um zu ihrer Familie zurückzukehren. Auch die Verhaltensweisen der Tochter in der [X.], wo sie durch stereotype Bewegungsabläufe und angstvolle Fragen, ob sie essen oder nachts [X.] verlassen dürfe, aufgefallen sei, lässt in der Zusammenschau mit weiteren Aspekten nachvollziehbar auf eine Kindeswohlgefährdung schließen.

Die Einschätzung des [X.], dass die Ursachen für die aufgezeigten Kindeswohlgefährdungen bei der Beschwerdeführerin liegen, die für sich selbst ausdrücklich keine therapeutische Behandlung wünscht, ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Das [X.] führt an, dass sich die Beschwerdeführerin unter Einbeziehung ihrer Kinder sozial isoliert habe, ihr Verhalten bei der Zukunftsplanung für die ganze Familie sei ambivalent gewesen, sie habe keine emotionale Nähe zu den Kindern aufgebaut, in ihrem Erziehungsverhalten sei sie schwankend instabil und mit organisatorischen Belangen wie der Sicherstellung einer Krankenversicherung für sich und die Kinder oder mit der Planung der [X.] überfordert. Das [X.] folgert, dass die Beschwerdeführerin nicht in der Lage gewesen sei, ihren Kindern insbesondere in emotionaler Hinsicht Verlässlichkeit zu bieten. Dieser [X.] ist nachvollziehbar - auch vor dem Hintergrund, dass sich die Kinder seit der Inobhutnahme positiv entwickelt haben, wie das [X.] unter Bezugnahme auf Äußerungen der Fachkräfte feststellt.

b) Die angegriffenen Entscheidungen genügen auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die mit der Entziehung der elterlichen Sorge einhergehende Fremdunterbringung ist geeignet, die Gefährdung für die Kinder abzuwenden. Da sich alle Kinder während der [X.] trotz fortbestehenden Hilfebedarfs stabilisieren konnten, muss davon ausgegangen werden, dass eine sekundäre Kindeswohlgefährdung durch die Trennung der Kinder von der Beschwerdeführerin nicht droht.

Die Fachgerichte gingen darüber hinaus zu Recht davon aus, dass die Maßnahme auch erforderlich ist. In der Vergangenheit wurden über einen langen Zeitraum hinweg erfolglos zahlreiche ambulante Hilfen als mildere Mittel eingesetzt; an der ablehnenden inneren Haltung der Beschwerdeführerin hat sich bis zum Entscheidungszeitpunkt nichts geändert. Das [X.] hat ausführlich geprüft, ob eine Sorgerechtsübertragung auf die jeweiligen Väter mit dem Ziel, dass die Kinder dort leben, als milderes Mittel im Vergleich zur Einrichtung einer Amtsvormundschaft in Betracht kommt, ist jedoch fehlerfrei zu dem Schluss gekommen, dass dies bei keinem der Kinder eine kindeswohlgerechte und gleichermaßen geeignete Option sei. Auch die Großeltern seien - nachvollziehbar - nicht als Vormund geeignet, da die Kinder, die faktisch über lange Zeit in deren Haushalt lebten, emotional vernachlässigt worden seien. Es ist weiterhin ungeklärt, ob die Kinder dort auch - wie der ältere [X.] mehrfach berichtet - geschlagen wurden. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Sorgerechtsübertragung auf die genannten Angehörigen, mit der sich der Lebensmittelpunkt der Kinder zum jeweiligen Vormund verschieben würde, als ungeeignet im Sinne des Kindeswohls.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 563/17

27.04.2017

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 23. Januar 2017, Az: 11 UF 150/16, Beschluss

Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 1666a Abs 1 S 1 BGB, § 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 3 Nr 6 BGB, § 163 Abs 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 27.04.2017, Az. 1 BvR 563/17 (REWIS RS 2017, 11844)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 11844

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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