Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10.03.2011, Az. VI B 147/10

6. Senat | REWIS RS 2011, 8754

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Gegenstand

Wirkungsloser Verzicht auf mündliche Verhandlung - Auslegung und Wirkung der Verzichtserklärung


Leitsatz

Ein vom Kläger erklärter Verzicht auf mündliche Verhandlung wird wirkungslos, wenn das FG gleichwohl eine mündliche Verhandlung anberaumt. Das FG darf danach nur dann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, wenn die Beteiligten erneut darauf verzichten .

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wenden sich mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] ([X.]) vom 12. Oktober 2010  3 [X.]/10. Das [X.] hat in dem Verfahren die Klage, mit der die Kläger den Abzug von Unterhaltszahlungen in Höhe von 1.100 € nach § 33a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes begehrten, ohne mündliche Verhandlung abgewiesen.

2

Dem Urteil vorangehend hatten die anwaltlich vertretenen Kläger (mit Schriftsatz vom 11. Mai 2010) und der Beklagte und Beschwerdegegner --das Finanzamt ([X.])-- (mit Schriftsatz vom 10. Juni 2010) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Gleichwohl hat das [X.] mit Verfügung vom 29. September 2010 einen Termin zur mündlichen Verhandlung für den 20. Oktober 2010 anberaumt. Mit Schriftsatz vom 30. September 2010 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Kläger wegen seines länger geplanten Jahresurlaubs die Verlegung der mündlichen Verhandlung. Mit Schreiben vom 11. Oktober 2010 teilte das [X.] den Beteiligten mit, dass der Termin aufgehoben worden und die Ladung zu dem aufgehobenen Termin damit gegenstandlos sei.

3

Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision machen die Kläger im Wesentlichen geltend, dass das [X.] ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Die Voraussetzungen des § 90 Abs. 1 und Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) hätten nicht vorgelegen, so dass das [X.] den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt habe. Das [X.] hat hierzu keine Stellungnahme abgegeben.

Entscheidungsgründe

4

II. [X.] ist zulässig und nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

5

1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 und Nr. 4 [X.]O dar.

6

a) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ([X.]) ist ein Verfahrensmangel im Sinne der vorgenannten Vorschrift u.a. dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine Entscheidung des [X.] ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 2 [X.]O nicht gegeben sind (vgl. [X.]-Urteile vom 4. November 1992 [X.], [X.]/NV 1993, 372; vom 5. Juli 1995 [X.], [X.]E 178, 301, [X.] 1995, 842, und vom 31. August 2010 VIII R 36/08, [X.]E 231, 1, [X.], 126; jeweils m.w.N.). Das Fehlen dieser Voraussetzungen haben die Kläger im Streitfall zu Recht geltend gemacht.

7

Denn das [X.] konnte im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht mehr von einem Verzicht der Kläger auf mündliche Verhandlung auf der Grundlage ihres vorbehaltlos erklärten Einverständnisses vom 11. Mai 2010 ausgehen.

8

Dieses Einverständnis hatte nämlich durch die Anberaumung der mündlichen Verhandlung seine prozessrechtliche Wirkung verloren. Eine Verzichtserklärung wird wirkungslos, wenn das Gericht selbst den Beteiligten gegenüber zum Ausdruck bringt, dass es eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung allein durch den früher erklärten Verzicht nicht mehr für hinreichend legitimiert ansieht. So verbraucht sich der erklärte Verzicht durch eine erneute Anfrage des Gerichts und deren Ablehnung durch die Beteiligten ([X.]-Urteil vom 29. April 1999 [X.], [X.]/NV 1999, 1480) ebenso wie durch einen sich an einen früheren Verzicht anschließenden [X.] ([X.]-Urteil vom 5. März 1986 [X.], [X.]/NV 1987, 651) oder durch die Anberaumung eines Erörterungstermins unter Anordnung des persönlichen Erscheinens der Beteiligten ([X.]-Urteil in [X.]E 231, 1, [X.], 126).

9

Diese einschränkende Auslegung der Verzichtserklärung und die Beschränkung ihrer Wirkung bis zur nächsten eine Sachentscheidung vorbereitenden Entscheidung des [X.] --wie hier der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung-- ist aufgrund der besonderen Interessenlage der Beteiligten geboten (vgl. [X.]-Urteile vom 9. August 1996 VI R 37/96, [X.]E 181, 115, [X.] 1997, 77, und in [X.]E 231, 1, [X.], 126). Denn der Verzicht hat für die Beteiligten weitreichende Folgen, weil er als Prozesshandlung nach der Rechtsprechung des [X.] nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar ist (vgl. [X.]-Urteile vom 20. Juni 1967 II 73/63, [X.]E 90, 82, [X.]I 1967, 794; vom 26. November 1970 IV R 131/69, [X.]E 101, 61, [X.] 1971, 241; vom 4. April 1974 [X.], [X.]E 112, 316, [X.] 1974, 532; [X.]-Beschluss vom 7. Februar 1990 III R 101/87, [X.]/NV 1991, 402; für eine Zulässigkeit des Widerrufs bei wesentlicher Änderung der Prozesslage: [X.]-Urteil vom 6. April 1990 [X.]/89, [X.]E 160, 405, [X.] 1990, 744).

Danach ist die Einverständnis- oder Verzichtserklärung nur auf die nächste Sachentscheidung durch den Spruchkörper zu beziehen (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 181, 115, [X.] 1997, 77; vgl. [X.]/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl., § 128 Rz 60; [X.]/Riese in [X.]/[X.]/[X.], VwGO § 101 Rz 11; [X.], [X.] 1996, 190, 191). Für das weiter gehende Verfahren ist dann zum Schutz der Prozessbeteiligten entweder ein weiterer Verzicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung einzuholen oder eine mündliche Verhandlung anzuberaumen (vgl. [X.]-Beschluss vom 10. März 2005 [X.]/03, [X.]/NV 2005, 1068, m.w.N.; anderer Ansicht --kein Verbrauch des [X.] in [X.]/[X.]/ [X.], § 90 [X.]O Rz 64; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 90 [X.]O Rz 11 ff.; Gräber/[X.], Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 90 Rz 15).

Ist eine Verzichtserklärung nach den vorstehenden Maßstäben wirkungslos geworden, ist eine gleichwohl ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung als verfahrensfehlerhaft i.S. des § 119 Nr. 4 [X.]O aufzuheben ([X.]-Urteil in [X.]E 231, 1, [X.], 126, m.w.N.).

b) Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass im Streitfall die Voraussetzungen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 94a [X.]O nicht vorgelegen haben. Nach Satz 2 dieser Vorschrift muss auch in den Fällen, in denen der Streitwert bei einer auf Geldleistung gerichteten Klage 500 € nicht übersteigt, auf Antrag eines Beteiligten mündlich verhandelt werden. Der Antrag kann sowohl ausdrücklich als auch konkludent gestellt werden ([X.]-Urteil vom 22. September 1999 [X.], [X.]E 190, 17, [X.] 2000, 32, m.w.N.). Hat ein Beteiligter --wie hier die Kläger-- die Verlegung einer mündlichen Verhandlung beantragt, ist dies zugleich ein konkludenter Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (zu einem anderen Zeitpunkt).

2. Aufgrund des Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen. Der Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 4 [X.]O davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Eine Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat verwehrt (s. [X.]-Urteile vom 5. November 1991 [X.], [X.]E 166, 415, [X.] 1992, 425; vom 9. Januar 1997 [X.], [X.]/NV 1997, 507; vom 18. Februar 1999 [X.]-129/97, [X.]/NV 1999, 1464). Im Hinblick darauf kann der Senat dahinstehen lassen, ob die angefochtene Entscheidung im Übrigen verfahrensfehlerfrei ist.

Meta

VI B 147/10

10.03.2011

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 12. Oktober 2010, Az: 3 K 323/10, Urteil

§ 90 FGO, § 94a FGO, § 119 Nr 3 FGO, § 119 Nr 4 FGO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10.03.2011, Az. VI B 147/10 (REWIS RS 2011, 8754)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 8754

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