Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.03.2018, Az. B 8 SO 52/17 B

8. Senat | REWIS RS 2018, 13020

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen § 123 SGG - Verpflichtung des Vorsitzenden zur Hinwirkung auf die Stellung sachdienlicher Anträge - nicht anwaltlich vertretener Kläger - Gebot des fairen Verfahrens)


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 17. Mai 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen nach dem [X.] - ([X.]).

2

Der 1940 geborene Kläger bezieht neben seiner Rente (zuletzt 1225,45 [X.]) ergänzend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem [X.]. Bei der Bedarfsberechnung berücksichtigte der Beklagte ua einen Beitrag zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung des [X.] in Höhe des sog Basistarifs (monatlich 363,18 [X.]). Nachdem die private Krankenversicherung dem Beklagten mitgeteilt hatte, dass der Kläger schon seit Jahren keine Beiträge mehr zahle, änderte der Beklagte den Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen ab 1.1.2016 ab und verfügte die Zahlung eines monatlichen Betrags von 192,13 [X.] an die private Krankenversicherung (Bescheid vom 16.12.2015; Widerspruchsbescheid vom 6.1.2016).

3

Mit seiner am 1.2.2016 vor dem Sozialgericht ([X.]) [X.] erhobenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Bescheide gewandt und zudem beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ihm "sofort und nach dem Gesetz aus meiner von den Beklagten verschuldeten Notlage zu helfen". Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 5.10.2016 ist als Antrag des [X.] protokolliert worden, "den Beklagten zu verurteilen, ihm sofort aus der vom Beklagten verschuldeten Notlage zu helfen". Das [X.] hat die Klage als unzulässig mit der Begründung abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 7.10.2016), es fehle an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Klage; denn der Kläger habe die Gewährung einer einmaligen Beihilfe zur Behebung einer finanziellen Notlage bislang in dieser Form nicht beim Beklagten beantragt. Die Berufung hat das [X.] (L[X.]) mit der Begründung zurückgewiesen, das [X.] habe die Klage zutreffend mit der Begründung abgewiesen, sie sei wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig. Denn der Kläger verfolge auch mit seiner Klage im Verfahren [X.] SO 116/16, die am 30.6.2016 erhoben worden sei, das gleiche Begehren. Der erstmalig im Erörterungstermin am 5.10.2016 gestellte Leistungsantrag sei damit wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig (Urteil vom 17.5.2017).

4

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des L[X.] und macht Verfahrensfehler geltend. Das [X.] wie das L[X.] hätten den Streitgegenstand verkannt und gegen seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verstoßen, dass sie seinen Antrag, gerichtet auf die Anfechtung der Bescheide, ignoriert hätten. Er habe nie diesen Antrag zurücknehmen wollen; es verbiete sich auch eine Umdeutung seines Klagebegehrens, denn der ihm vom [X.] in den Mund gelegte Antrag sei nicht in seinem Interesse gewesen. Zudem sei zu Unrecht ein Prozessurteil anstelle eines Urteils in der Sache erlassen worden. Denn anders als es das L[X.] meine, sei das vorliegende Verfahren mit dem Antrag, ihm aus seiner Notlage zu helfen, zeitlich vor dem Verfahren [X.] SO 116/16 anhängig gemacht worden, so dass diesem Verfahren Vorrang einzuräumen gewesen sei.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist zulässig und genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ([X.]G) iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G.

6

Der gerügte Verfahrensfehler (Verletzung von § 123 [X.]G) liegt vor. Nach § 123 [X.]G entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2 [X.]G; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 123 Rd[X.]; [X.] aaO, § 112 RdNr 8). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa B[X.]E 63, 93, 94 = [X.] 2200 § 205 [X.]; B[X.] Urteil vom 8.12.2010 - B 6 [X.]/09 R). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur B[X.] Urteil vom [X.] - B 11 AL 23/02 R - juris Rd[X.]1; B[X.] Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.]). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa B[X.] [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 16). Der Grundsatz, dass im Zweifel von einem umfassenden [X.] ausgegangen werden muss, ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen; im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (B[X.]E 74, 77, 79 = [X.] 3-4100 § 104 [X.]; B[X.] [X.] 4-2600 § 43 [X.] Rd[X.]2; B[X.] [X.] 4-1500 § 92 [X.] RdNr 16).

7

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben konnte das [X.] bei verständiger Würdigung das Begehren des nicht anwaltlich vertretenen [X.] nicht so verstehen, dass dieser die Anfechtungsklage gegen die ihn belastenden Bescheide zurücknehmen und nur noch ein Klagebegehren verfolgen wollte, dem es nach Ansicht des [X.] bereits an der Zulässigkeit fehlt. Der Kläger hat mit seiner Klage neben den Leistungen zur "Behebung einer Notlage" (Leistungsantrag) erkennbar weiterhin die Auszahlung der Leistungen zur Deckung der Kosten für die private Krankenversicherung auf sein Konto angestrebt ([X.]). Ein irgendwie geartetes Interesse des [X.], den [X.] nicht, dafür aber einen unzulässigen Leistungsantrag weiter zu verfolgen, bestand nicht. Es verstößt gegen das Gebot des fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 Grundgesetz ) und gegen § 106 Abs 1 Satz 1 [X.]G, wenn ein Gericht bei einem nicht anwaltlich vertretenen Kläger darauf hinwirkt, dass ausschließlich ein nach der Rechtsansicht des Gerichts unzulässiges und damit erkennbar nicht sachdienliches Klagebegehren weiter verfolgt wird. Das umfassende [X.] des [X.] hätte nur dann durch den vom [X.] vorgeschlagenen Antrag beschränkt werden dürfen, wenn der Wille des nicht vertretenen [X.] zur Begrenzung des Streitgegenstands bzw der teilweisen Klagerücknahme klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen wäre. Hieran fehlt es. Insbesondere dem Protokoll des Erörterungstermins vom 5.10.2016 ist nichts zu entnehmen, was einen derartigen Schluss zuließe. Der Berufungsschriftsatz des [X.], der das Verhalten des [X.] als "unsozial" bezeichnet, weil aus den Akten und seinen Anträgen eindeutig hervorgehe, was er erstrebe, was aber vom Gericht nicht gewürdigt worden sei, macht vielmehr das Gegenteil deutlich.

8

Dieser Verfahrensfehler hat sich vor dem L[X.] fortgesetzt. Das L[X.] hätte zur Korrektur des Verfahrensfehlers (dazu B[X.] Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - juris RdNr 11) in der mündlichen Verhandlung das wahre Klagebegehren des [X.] - das sich allerdings schon in seinem Berufungsschriftsatz deutlich manifestiert hat - ermitteln und ihm die Möglichkeit einräumen müssen, seinen Antrag nunmehr richtigzustellen, bzw ggf die Sache wegen des Verfahrensfehlers an das [X.] zurückverweisen müssen.

9

Angesichts dessen kann eine Entscheidung über die vom Kläger außerdem erhobenen [X.] dahingestellt bleiben. Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen, weil für eine abschließende Entscheidung in der Sache Tatsachenfeststellungen notwendig sind.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 52/17 B

01.03.2018

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Darmstadt, 7. Oktober 2016, Az: S 28 SO 18/16, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 123 SGG, § 106 Abs 1 SGG, § 133 BGB, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.03.2018, Az. B 8 SO 52/17 B (REWIS RS 2018, 13020)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 13020

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