Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 08.02.2011, Az. 10 B 1/11, 10 B 1/11, 10 PKH 1/11

10. Senat | REWIS RS 2011, 9692

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Gegenstand

Abschiebungsverbot; Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung; richterliche Überzeugungsgewissheit bei Wahrscheinlichkeitsaussage


Leitsatz

Mit einer Gefahrenprognose (hier: Ablehnung einer Extremgefahr gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) in verfassungskonformer Anwendung) verfehlt das Berufungsgericht nicht deswegen das von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO geforderte Regelbeweismaß der Überzeugungsgewissheit, weil seine Wahrscheinlichkeitsaussage auch andere Geschehensverläufe nicht auszuschließen vermag.

Gründe

1

Den Klägerinnen, Mutter und Tochter, kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil ihre [X.]eschwerde - wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt - keine Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO). Die [X.]eschwerde, mit der Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) geltend gemacht werden, ist unbegründet.

2

1. Die [X.]eschwerde rügt als Verfahrensmangel die Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das [X.]erufungsgericht habe sich bei seiner Prognose zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit davon gebildet, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr nach [X.] mit Sicherheit mit der Unterstützung von Familienangehörigen oder Nichtregierungsorganisationen rechnen könnten. Genauso verhalte es sich mit den Feststellungen des [X.]erufungsgerichts zu der Frage, ob die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Großraum [X.] alsbald mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer dort verbreiteten Infektionskrankheit (vor allem Malaria) ernsthaft erkranken und infolgedessen sterben oder doch zumindest schwerste Gesundheitsschäden davontragen würden. Die [X.] greifen nicht durch.

3

a) Die Grundsätze der [X.]eweiswürdigung sind revisionsrechtlich nach ständiger Rechtsprechung des [X.] regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. nur [X.]eschlüsse vom 12. Januar 1995 - [X.]VerwG 4 [X.] - [X.] 406.12 § 22 [X.] Nr. 4 S. 4 = NVwZ-RR 1995, 310; vom 2. November 1995 - [X.]VerwG 9 [X.] - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f. = NVwZ-RR 1996, 359 und vom 18. April 2008 - [X.]VerwG 8 [X.] 105.07 - [X.] 2008, 168, jeweils m.w.[X.]). Ein Verfahrensfehler kann aber ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die [X.]eweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet ([X.]eschlüsse vom 25. Juni 2004 - [X.]VerwG 1 [X.] 249.03 - [X.] 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 284 und vom 16. Juni 2003 - [X.]VerwG 7 [X.] 106.02 - [X.] 303 § 279 ZPO Nr. 1 = NVwZ 2003, 1132 <1135>, jeweils m.w.[X.]). Auch das Vorbringen, das Gericht habe den Sachverhalt "aktenwidrig" festgestellt, kann einen Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO betreffen, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein offensichtlicher, keiner weiteren [X.]eweiserhebung bedürftiger "zweifelsfreier" Widerspruch vorliegt ([X.]eschlüsse vom 19. November 1997 - [X.]VerwG 4 [X.] 182.97 - [X.] 406.11 § 153 [X.]auG[X.] Nr. 1 und vom 16. März 1999 - [X.]VerwG 9 [X.] 73.99 - [X.] 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 7). Ein Verfahrensmangel bei der [X.]eweiswürdigung liegt aber nur dann vor, wenn der gerügte Fehler sich hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier [X.]eweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten [X.] verlassen hat. Das kann auch dadurch geschehen, dass die Vorinstanz bei der Tatsachenfeststellung das Regelbeweismaß richterlicher Überzeugungsgewissheit gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verfehlt hat ([X.]eschluss vom 14. Juli 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 7.10 - NVwZ 2011, 55). Ein solcher Fall ist hier aber entgegen der Auffassung der [X.]eschwerde nicht gegeben.

4

b) Das [X.]erufungsgericht ist - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des beschließenden Senats (zuletzt Urteil vom 29. Juni 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 10.09 - NVwZ 2011, 48) - davon ausgegangen, die Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] angeordneten Sperrwirkung im Wege verfassungskonformer Auslegung und Anwendung setze voraus, dass die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver [X.]etrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. [X.]ezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren hat es im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einen erhöhten Maßstab zugrunde gelegt und zudem verlangt, dass sich die geltend gemachten Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (UA S. 9 ff.).

5

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat das [X.]erufungsgericht auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zur allgemeinen Versorgungslage in der [X.] keine individuellen Umstände festgestellt, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass die Klägerinnen mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach ihrer Rückkehr nach [X.] verhungern oder verelenden würden. Im Gegenteil spreche vieles dafür, dass sie Unterstützung durch Verwandte erhielten, erforderlichenfalls aber auch unabhängig davon in der Lage seien, für das Lebensnotwendigste zu sorgen. Diese Annahme hat das [X.]erufungsgericht darauf gestützt, dass jedenfalls eine Nichte der Klägerin zu 1 in [X.] und vier ihrer Geschwister in [X.]razzaville lebten; von ihnen könne die Klägerin zu 1 Hilfe bei ihrer Rückkehr erhalten, wie dies offenbar in der Vergangenheit bereits der Fall gewesen sei. Schließlich erscheine es aufgrund ihrer eigenen Angaben als wahrscheinlich, dass sie und ihre Familie in [X.] vergleichsweise gut situiert gewesen seien und sich mit den dortigen Lebensverhältnissen arrangiert hätten ([X.] f.). Auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Feststellungen zum Gesundheitswesen in der [X.] könne nicht von einer "Extremgefahr" für die Klägerinnen ausgegangen werden. Dass sie nach Rückkehr mangels finanzieller Mittel in einem Slumviertel leben müssten und von der gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen wären, sei wenig wahrscheinlich (UA S. 28).

6

c) Die [X.]eschwerde hält dem entgegen, das [X.]erufungsgericht bringe mit diesen Ausführungen nur die Möglichkeit zum Ausdruck, dass es sich so wie von ihm beschrieben verhalten könne; möglich sei aber auch der gegenteilige Sachverhalt. Die darauf gestützte Rüge der Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist unbegründet.

7

d) Die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] verlangt die Erstellung einer Gefahrenprognose. Dazu zieht der Tatrichter auf der [X.]asis von Erkenntnissen, die er aus Vergangenheit und Gegenwart gewonnen hat, zukunftsorientierte Schlussfolgerungen. Diese Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse - im Unterschied zu Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart - typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine [X.] möglich. Dieser [X.]efund ändert jedoch nichts daran, dass der Tatrichter sich gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugungsgewissheit von der Richtigkeit sowohl der Prognosebasis als auch der zu treffenden Prognose zu verschaffen hat.

8

Hinsichtlich der vergangenen und gegenwärtigen Prognosegrundlagen gilt der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren [X.]eweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen darf, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (Urteil vom 16. April 1985 - [X.]VerwG 9 [X.] 109.84 - [X.]VerwGE 71, 180 <181> zu den Grundlagen der asylrechtlichen Verfolgungsprognose mit Verweis auf [X.]GHZ 53, 245 <256>). Im Hinblick auf die - verfahrensfehlerfrei gewonnene - zukunftsbezogene Prognose selbst kann ein "voller [X.]eweis" nicht erbracht werden. Insoweit reicht - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] im Regelfall die beachtliche - und bei verfassungskonformer Anwendung der Vorschriften zur Durchbrechung der Sperrwirkung des Satzes 3 eine erhöhte - Wahrscheinlichkeit des angenommenen zukünftigen Geschehensverlaufs aus. Davon muss das Gericht voll überzeugt sein (Urteil vom 16. April 1985 a.a.O. S. 182).

9

e) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, hat das [X.]erufungsgericht § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht verletzt. Nach seinen Feststellungen zu den [X.]edingungen bei der Rückkehr können "... die Klägerinnen zur Überzeugung des Senats auf familiären Rückhalt im [X.] bauen ..." ([X.]). Hinsichtlich der dafür erheblichen tatsächlichen Grundlagen, der Anwesenheit von Familienmitgliedern im Heimatland, hat es sich nicht mit der Möglichkeit begnügt, dass es sich so verhalten könnte, sondern ist auf der Grundlage des Sachvortrags der Klägerinnen positiv davon ausgegangen. Lediglich missverständlich erscheint in diesem Zusammenhang die Aussage des [X.]erufungsgerichts: "Darüber hinaus erscheint es angesichts ihrer Angaben vor dem [X.]undesamt wahrscheinlich, dass sie und ihre Familie in [X.] vergleichsweise gut situiert waren ..." ([X.]); denn auch diese Hilfsfeststellung baut vollständig auf dem Vortrag der Klägerin zu 1 auf und wird vom [X.]erufungsgericht der Sache nach nicht in Zweifel gezogen. Mit der getroffenen Gefahrenprognose, die auf diesen tatsächlichen Grundlagen aufbaut, verfehlt das [X.]erufungsgericht nicht deswegen das Regelbeweismaß der Überzeugungsgewissheit, weil die von ihm getroffene [X.] auch andere Geschehensverläufe nicht auszuschließen vermag. Das gilt in gleicher Weise für das Risiko einer Malariaerkrankung und die Möglichkeit einer [X.]ehandlung in der [X.].

2. Die Revision zum [X.]undesverwaltungsgericht kann - von Sonderregelungen wie § 127 Nr. 1 [X.]RRG abgesehen - nur aufgrund der in § 132 Abs. 2 VwGO abschließend genannten Gründe zugelassen werden; die von der [X.]eschwerde erhobene "allgemeine Sachrüge" ist insoweit unbehelflich.

Meta

10 B 1/11, 10 B 1/11, 10 PKH 1/11

08.02.2011

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: PKH

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 28. Oktober 2010, Az: 4 A 1010/06.A, Urteil

§ 60 Abs 7 S 1 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 S 3 AufenthG 2004, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 08.02.2011, Az. 10 B 1/11, 10 B 1/11, 10 PKH 1/11 (REWIS RS 2011, 9692)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9692

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