Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.09.2016, Az. 1 C 21/15

1. Senat | REWIS RS 2016, 4911

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Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die nachträgliche Einbeziehung ihrer Enkelin in den ihr im Februar 1993 erteilten Aufnahmebescheid.

2

Die 1937 geborene Klägerin reiste 1993 nach [X.] ein und erhielt im [X.] eine Spätaussiedlerbescheinigung.

3

Der 1965 geborene [X.] der Klägerin sowie dessen Ehefrau und die beiden Kinder hatten 1994 ebenfalls einen Antrag auf Aufnahme als Spätaussiedler gestellt, den das [X.] abgelehnt hatte. [X.] reiste der [X.] der Klägerin gemeinsam mit seiner Familie mit einem Besuchsvisum nach [X.] ein. Er betrieb neben dem vertriebenenrechtlichen Verfahren erfolglos staatsangehörigkeitsrechtliche und ein asylrechtliches Verfahren.

4

Anfang des Jahres 2004 wurde der [X.] der Klägerin gemeinsam mit seiner Familie nach Kirgisistan abgeschoben.

5

Am 8. Juni 2011 beantragte die Klägerin die nachträgliche Einbeziehung ihres [X.]es, seiner Ehefrau und deren beider Kinder in den ihr erteilten Aufnahmebescheid. Diesen Antrag lehnte das [X.] mit Bescheid vom 13. November 2012 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine nachträgliche Einbeziehung nicht in Betracht komme, da die einzubeziehenden Personen nicht seit der Ausreise des antragstellenden [X.] ununterbrochen Wohnsitz im [X.] gehabt hätten, sondern sich vom 20. September 1999 bis Anfang 2004 in [X.] aufgehalten hätten.

6

Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage der Klägerin wies das Verwaltungsgericht ab.

7

In der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht hat die Klägerin die Berufung zurückgenommen, soweit sie die nachträgliche Einbeziehung ihres [X.]es, dessen Ehefrau und deren [X.]es in den Aufnahmebescheid begehrt hatte.

8

Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 16. September 2015 das Urteil des [X.] geändert und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, die Enkelin der Klägerin in den ihr erteilten Aufnahmebescheid vom 25. Februar 1993 einzubeziehen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Enkelin der Klägerin sei ein "im [X.] verbliebener Abkömmling" im Sinne des § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.]. Dem stehe nicht entgegen, dass diese sich von September 1999 bis Anfang 2004 in [X.] aufgehalten habe. Der Wortlaut dieser Tatbestandsvoraussetzung schließe einen vorübergehenden Aufenthalt in [X.] nicht aus. Das "Verbleiben im [X.]" erfordere nicht notwendigerweise Kontinuität, sondern könne auch auf den Zeitpunkt des Trennens oder Verlassens abstellen. Das Tatbestandsmerkmal beschreibe die Trennungssituation, die dadurch gekennzeichnet sei, dass der antragstellende Spätaussiedler in [X.] lebe, während die einzubeziehende Person zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Einbeziehungsantrag ihren Wohnsitz im [X.] haben müsse. Aus dem Wort "verblieben" ergebe sich demgegenüber nicht, dass ein früherer vorübergehender Aufenthalt außerhalb des [X.]es den Anspruch entfallen lasse. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich kein Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber die Fallgestaltung eines vorübergehenden Aufenthalts in [X.] gesehen habe oder als anspruchsschädlich habe berücksichtigt wissen wollen. Das Normverständnis des Senats werde insbesondere durch die teleologische Auslegung bestätigt. Es sei die Absicht des Gesetzgebers gewesen, die Familienzusammenführung in möglichst vielen Fällen zuzulassen und so dauerhafte Trennungen der Familien der Spätaussiedler zu vermeiden. Eine solche Familientrennung liege unabhängig davon vor, ob der jetzt im [X.] lebende Familienangehörige sich zwischenzeitlich vorübergehend in [X.] aufgehalten habe. Die sonstigen Voraussetzungen für eine nachträgliche Einbeziehung seien gegeben.

9

Die Beklagte macht mit der Revision insbesondere geltend, das Tatbestandsmerkmal "im [X.] verblieben" sei nach grammatischer, historischer und systematischer Auslegung dahin zu verstehen, dass ein ununterbrochener Aufenthalt des Familienangehörigen im [X.] erforderlich sei. In Fällen wie dem vorliegenden sei nicht die Aussiedlung des [X.], sondern die Rückkehr des [X.] in das Herkunftsgebiet Ursache für die Familientrennung. Die vom Oberverwaltungsgericht vorgenommene teleologische Auslegung des § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.] beruhe auf einem falschen Verständnis der Rechtsnorm. Diese diene allein der Bereinigung einer sich aus der Aussiedlung des [X.] ergebenden dauerhaften Familientrennung. Eine solche entstehe nur dann, wenn der Spätaussiedler unter Zurücklassung seiner Familienangehörigen nach [X.] aussiedle. Verlasse der nicht einbezogene Familienangehörige mit dem Spätaussiedler oder nach diesem das [X.] mit dem Ziel des dauerhaften Aufenthalts in [X.] und kehre später in das Herkunftsgebiet zurück, handele es sich hierbei nicht um eine aussiedlungsbedingte Trennung.

Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil.

Der Vertreter des [X.] beteiligt sich am Verfahren und schließt sich im Wesentlichen der Beklagten an.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die Enkelin der Klägerin sei im Sinne von § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.] "im [X.] verblieben", ist mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf nachträgliche Einbeziehung ihrer Enkelin in den ihr erteilten Aufnahmebescheid nach § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.]. Da sich die Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO), ist das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung zurückzuweisen.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des von der Klägerin mit der Verpflichtungsklage verfolgen Anspruchs auf nachträgliche Einbeziehung ihrer Enkelin in den ihr erteilten Aufnahmebescheid ist § 27 [X.] ([X.]) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 ([X.]), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. September 2013 ([X.] 3554). Die nachfolgende Änderung des [X.]es durch das Gesetz zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner (LPartRBerG) vom 20. November 2015 ([X.] 2010) hat diese Regelung unverändert gelassen.

1. Nach § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.] kann abweichend von § 27 Abs. 2 Satz 1 [X.] der im [X.] verbliebene Ehegatte oder Abkömmling eines [X.], der seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes hat, nachträglich nach Satz 1 in den Aufnahmebescheid des [X.] einbezogen werden, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage sind hier nicht erfüllt. Die Enkelin der Klägerin ist kein "im [X.] verbliebener" Abkömmling der Klägerin im Sinne dieser Bestimmung, weil sie sich nach der Aussiedlung der Klägerin nicht ununterbrochen im [X.] aufgehalten hat.

Wie der Senat mit Urteil vom heutigen Tag im Parallelverfahren 1 C 19.15 entschieden hat, kann ein Familienangehöriger nur dann nachträglich in den Aufnahmebescheid eines [X.] einbezogen werden, wenn er seinen Wohnsitz seit dessen Aussiedlung ununterbrochen im [X.] hatte. Die Formulierung "der im [X.] verbliebene" legt nach dem Sprachgebrauch eher ein Verständnis nahe, wonach die genannte Voraussetzung mehr als ein nur punktuelles Zurückbleiben des [X.] im [X.] im Zeitpunkt der Aussiedlung der Bezugsperson umfasst, dieser vielmehr im gesamten Zeitraum zwischen der Aussiedlung der Bezugsperson und der Entscheidung über die nachträgliche Einbeziehung seinen Wohnsitz im [X.] gehabt haben muss. Auch dem systematischen Vergleich mit dem für den [X.]tatus vorausgesetzten Erfordernis eines ununterbrochenen Wohnsitzes im [X.] seit bestimmten Stichtagen (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 3 [X.]: "seit dem ... ") und der in diesem Zusammenhang geregelten Wohnsitzfiktion des § 27 Abs. 1 Satz 3 [X.] lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass ein zwischenzeitlicher - über einen Besuchsaufenthalt hinausgehender - Aufenthalt des Familienangehörigen im [X.] bei der Anwendung des § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.] generell unschädlich ist. Die Entstehungsgeschichte der Regelung über die nachträgliche Einbeziehung von Ehegatten und Abkömmlingen vermag die Auslegung des Berufungsgerichts ebenfalls nicht zu stützen. Sie deutet im Gegenteil eher darauf hin, dass der Gesetzgeber von der Vorstellung eines kontinuierlichen Verbleibens im [X.] ausgegangen ist; jedenfalls finden sich keine positiven Anhaltspunkte dafür, dass insbesondere der Ablehnung der Änderungsanträge der Opposition und des [X.] auf Streichung der Worte "im [X.] verbliebene" bzw. deren Ergänzung um die Worte "oder bereits ausgereist" ([X.]. 17/7215 sowie [X.]. 57/2/11) seinerzeit eine nach dem Wortlaut nicht naheliegende und nach der Systematik eher auszuschließende Auslegung zugrunde gelegen haben könnte. Die Annahme, eine vorübergehende Wohnsitzverlegung in das [X.] stehe einem Anspruch auf nachträgliche Einbeziehung nicht entgegen, lässt sich vor diesem Hintergrund auch nicht mit teleologischen Erwägungen begründen. Insbesondere rechtfertigt das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, die Einheit von Spätaussiedlerfamilien in möglichst vielen Fällen wieder herzustellen, für sich genommen nicht die Annahme, eine vorübergehende Aufgabe des Wohnsitzes im [X.] schließe die nachträgliche Einbeziehung nicht aus. Denn dieses Ziel wird bereits durch die zeitliche Entkopplung der Einbeziehung von der Aussiedlung des [X.] in Verbindung mit dem Wegfall des [X.] erreicht. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf die Ausführungen im Parallelverfahren verwiesen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - Rn. 12 ff.).

Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, die Enkelin der Klägerin nachträglich in den ihr erteilten Aufnahmebescheid einzubeziehen. Diese ist nicht im Sinne des § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.] "im [X.] verblieben", weil sie sich vom 20. September 1999 bis Anfang 2004 in [X.] aufgehalten hatte. Damit hatte sie ihren Wohnsitz in [X.] vorübergehend aufgegeben.

2. Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Voraussetzungen der allenfalls noch als weitere Anspruchsgrundlage für die begehrte Einbeziehung in Betracht kommenden Regelungen des § 27 Abs. 1 Satz 2 Halbs.2 [X.] liegen nicht vor. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 [X.] kann abweichend von § 27 Abs. 1 Satz 1 [X.] Personen, die sich ohne Aufnahmebescheid im Geltungsbereich des Gesetzes aufhalten, ein Aufnahmebescheid erteilt werden, oder es kann die Eintragung nach Abs. 2 Satz 1 nachgeholt werden, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würde und die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die Nachholung der Eintragung nach Abs. 2 ist ebenfalls auf eine Einbeziehung von Abkömmlingen oder Ehegatten in den Aufnahmebescheid eines [X.] und damit auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet.

Der Senat kann offenlassen, ob sich der Anwendungsbereich dieser Regelung nach Schaffung einer Rechtsgrundlage für die nachträgliche Einbeziehung von Angehörigen nunmehr auf die Fallgestaltung beschränkt, dass sich der Familienangehörige schon in [X.] aufhält. Die Nachholung der Einbeziehung nach dieser Regelung bleibt jedenfalls an die Voraussetzung des § 27 Abs. 2 Satz 1 [X.] gebunden, dass es sich um eine Einbeziehung zum Zweck der gemeinsamen Aussiedlung handeln muss. Ungeachtet der Frage, wie diese Voraussetzung in Grenzfällen zu definieren ist, kann von einer Einbeziehung zum Zwecke der gemeinsamen Aussiedlung jedenfalls keine Rede mehr sein, wenn diese - wie hier - erst nach vollständigem Abschluss der Aussiedlung des [X.] und ohne jeden noch erkennbaren zeitlichen Zusammenhang mit dieser beantragt wird. In diesen Fällen ist eine nachträgliche Einbeziehung allein auf der Grundlage von § 27 Abs. 2 Satz 3 [X.] möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - Rn. 31).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Meta

1 C 21/15

27.09.2016

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 16. September 2015, Az: 11 A 1747/14, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.09.2016, Az. 1 C 21/15 (REWIS RS 2016, 4911)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 4911

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