Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.05.2020, Az. 4 StR 12/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1851

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Schuldfähigkeitsprüfung hinsichtlich Aufhebung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit; Gefährlichkeitsprognose bei längerer Straffreiheit


Tenor

1. Dem Beschuldigten wird auf seinen Antrag und seine Kosten Wiedereinsetzung in die versäumte [X.] und Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 18. Juli 2019 gewährt.

2. Auf die Revision des Beschuldigten wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist; jedoch bleiben die objektiven Feststellungen zu den [X.] aufrechterhalten.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Beschuldigte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das nach antragsgemäßer Wiedereinsetzung in die versäumte [X.] und Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Revision zulässige Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Die von der Revision erhobene Beanstandung, die dem Sicherungsverfahren zugrundeliegenden [X.] genügten den Anforderungen des § 414 Abs. 2 StPO nicht, weil die von der Staatsanwaltschaft erstrebte Maßregel darin entgegen § 414 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht bezeichnet werde, geht fehl; den [X.] ist hinreichend klar zu entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus erstrebt.

3

2. Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung überwiegend nicht stand.

4

a) Die Feststellungen und Wertungen zur Schuldunfähigkeit des Beschuldigten halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es fehlt an tatsachenfundierten und widerspruchsfreien Darlegungen, in welcher Weise sich das festgestellte Krankheitsbild der schizoaffektiven Psychose auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in den konkreten [X.] und damit auf seine Einsichts- oder seine Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16, [X.], 165, 166).

5

aa) Im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung ist nach ständiger Rechtsprechung des [X.] zwischen der Aufhebung der Einsichtsfähigkeit und der Aufhebung der Steuerungsfähigkeit zu differenzieren; die Frage der Steuerungsfähigkeit ist erst zu prüfen, wenn der Täter in der Lage ist, das Unrecht seines Tuns einzusehen (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - 1 StR 25/20; vom 30. Januar 2019 - 4 [X.]; vom 8. Mai 2018 - 2 StR 72/18; vom 21. November 2017 - 2 StR 375/17). Nur in Ausnahmefällen ist in Betracht zu ziehen, dass krankheitsbedingt neben der Einsichtsfähigkeit auch die Steuerungsfähigkeit aufgehoben ist (vgl. [X.], Urteil vom 18. Januar 2006 - 2 [X.], [X.], 167, 168). Bleibt nach den Urteilsgründen zweifelhaft, welche Alternative das Tatgericht annehmen wollte, gefährdet dies den Bestand des Urteils (vgl. [X.], Beschluss vom 7. März 2017 - 3 StR 521/16, [X.], 201, 202).

6

bb) So liegt es hier. Den Urteilsgründen ist nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob das [X.] von fehlender Einsichtsfähigkeit oder von fehlender Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten ausgeht. Während das Urteil an mehreren Stellen festhält, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten bei Begehung der beiden [X.] - dem im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung erfolgten körperlichen Übergriff auf die Zeugin S.      , den anschließenden Delikten zum Nachteil der herbeigerufenen Polizeibeamten (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Bedrohung) sowie den weiteren Widerstandshandlungen gegenüber den im Fall II.2. der Urteilsgründe herbeigerufenen Polizeibeamten - aufgrund einer schizoaffektiven Psychose aufgehoben war, ist an anderer Stelle ausgeführt, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten krankheitsbedingt aufgehoben war. Auch die Ausführungen des Sachverständigen Dr. R.           sind einerseits dahin wiedergegeben, dass das schizoaffektive Krankheitsbild die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten so beeinträchtigt habe, dass dieser nicht in der Lage gewesen sei, das Unrecht seiner Taten zu erkennen; andererseits wird ausgeführt, dass der Beschuldigte sich nach Auffassung des Sachverständigen aufgrund „krankhafter Wahnideen in Form von verfolgungswahnbedingten Vorstellungen“ jeweils in einen Erregungszustand hineingesteigert habe, der zum Verlust der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Schließlich ist auch im Rahmen der Darlegungen zu den Anordnungsvoraussetzungen des § 63 StGB an einer Stelle ausgeführt, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten sicher aufgehoben gewesen sei, und an anderer Stelle festgehalten, dass die Steuerungsfähigkeit bei Begehung der beiden Anlassdelikte sicher aufgehoben gewesen sei, ohne dass diese jedenfalls nicht ohne Weiteres miteinander in Einklang stehenden Wertungen erläutert würden. Dies lässt besorgen, dass das [X.] die konkreten Auswirkungen des Krankheitsbilds auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in den jeweiligen [X.] nicht - wie von Rechts wegen geboten ‒ hinreichend konkret festgestellt und bewertet hat.

7

b) Auch die Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose begegnen durchgreifenden Bedenken; sie sind lückenhaft.

8

Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] sowie der von ihm begangenen [X.] zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12, [X.], 141, 142). Hieran fehlt es. Das [X.] hat sich mit der prädeliktischen Persönlichkeitsentwicklung und der Krankheitsgeschichte des 52 Jahre alten Beschuldigten nicht auseinandergesetzt. Es hat nicht erkennbar berücksichtigt, dass der spätestens seit 2007 an einer schizoaffektiven Psychose leidende Beschuldigte bisher nur einmal strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, wobei unklar bleibt, ob die [X.] erfolgte Verurteilung zu Geldstrafe eine Tat betrifft, die auf dem festgestellten Krankheitsbild beruht. Die länger währende Straffreiheit wäre jedenfalls dann als ein prognosegünstiger Umstand anzusehen, wenn der Beschuldigte in den vergangenen Jahren in vergleichbaren Lebensverhältnissen wie im Zeitpunkt der beiden [X.] gelebt hätte. Die insoweit zum Vorleben des Beschuldigten getroffenen, lückenhaften Feststellungen, wonach der Beschuldigte sich in den vergangenen Jahren mehrfach wegen bestehender Wahnideen in psychiatrischen Kliniken befunden haben soll, schließen dies jedenfalls nicht aus. Darüber hinaus wäre das [X.] gehalten gewesen, näher auf die Schwere und den bisherigen Verlauf der angenommenen schizoaffektiven Störung einzugehen. Derartige Erkrankungen verlaufen regelmäßig phasenhaft, wobei es zu Zeiträumen einer vollständigen Remission der Krankheitssymptome kommen kann (vgl. [X.], Beschluss vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12, [X.], 141, 143). Es hätte daher näherer Darlegung bedurft, mit welcher Häufigkeit es in der Vergangenheit bei dem Beschuldigten zu Krankheitsphasen gekommen ist und welche prognoserelevanten Schlüsse hieraus zu ziehen sind.

9

3. Diese Erörterungsmängel führen zur Aufhebung des Urteils. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum objektiven Geschehen der [X.] können bestehen bleiben. Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung.

Der Senat sieht Anlass zu dem Hinweis, dass die schriftlichen Urteilsgründe sorgfältig abzufassen sind; die erhebliche Zahl von Schreibversehen und Ungenauigkeiten weckt Zweifel daran, ob diesem Erfordernis vorliegend Rechnung getragen worden ist.

Sost-Scheible     

        

Rin[X.] Roggenbuck ist in den
Ruhestand getreten und daher
gehindert zu unterschreiben.

        

Quentin

                 

Sost-Scheible

                 
        

Bartel     

        

     Rommel     

        

Meta

4 StR 12/20

06.05.2020

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Dortmund, 18. Juli 2019, Az: 32 KLs 46/18

§ 20 StGB, § 63 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.05.2020, Az. 4 StR 12/20 (REWIS RS 2020, 1851)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1851

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