Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.04.2023, Az. 1 StR 477/22

1. Strafsenat | REWIS RS 2023, 2337

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Gegenstand

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Sicherungsverfahren: Erfordernis einer widerspruchsfreien Darlegung zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten


Tenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 12. August 2022 aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird das Verfahren zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet. Die hiergegen mit der Sachrüge geführte Revision des Beschuldigten hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s beging der strafrechtlich bereits mehrfach in Erscheinung getretene Beschuldigte im Zeitraum vom 22. Juni bis 18. November 2021 eine vorsätzliche Körperverletzung (Fall [X.] Nr. 1 der Urteilsgründe), einen tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit Beleidigung (Fall [X.] [X.] der Urteilsgründe), eine vorsätzliche Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und mit Hausfriedensbruch (Fall [X.] Nr. 3 der Urteilsgründe), zwei tatmehrheitliche Sachbeschädigungen (Taten [X.] Nr. 4, Nr. 5 der Urteilsgründe) sowie eine Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen (Fall [X.] Nr. 6 der Urteilsgründe).

3

Zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten hat die [X.], mit sachverständiger Beratung, unter näherer Darlegung im Einzelnen festgestellt, dass der Beschuldigte an einer überdauernden schizoaffektiven Störung, gegenwärtig manisch leide, welche sowohl schizophrene als auch affektive, hier manische Symptome aufweise, ferner an einer psychischen und Verhaltensstörung zum einen durch Cannabinoide, zum anderen durch Alkohol (jeweils schädlicher Gebrauch). Er habe die vorgenannten [X.] jeweils unter dem Vollbild seiner Erkrankung begangen; für ihre Begehung sei er daher strafrechtlich nicht verantwortlich (§ 20 StGB).

4

2. Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

5

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der [X.] aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Daneben muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.] zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (st. Rspr.; [X.], Beschlüsse vom 5. April 2022 – 1 StR 34/22 Rn. 5; vom 27. Januar 2022 – 1 StR 453/21 Rn. 6; vom 22. September 2021 – 1 [X.] Rn. 17 und vom 7. September 2021 – 1 [X.] Rn. 7; je mwN).

6

b) Erforderlich ist danach zunächst eine eindeutige Bewertung des Zustandes des [X.]. Insoweit muss geklärt werden, ob er (noch) die Fähigkeit besitzt, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, und lediglich nicht in der Lage ist, danach zu handeln, oder ob ihm bereits die Fähigkeit fehlt, das Unerlaubte seiner Tat einzusehen. Die Frage der Steuerungsfähigkeit ist erst zu prüfen, wenn der Täter in der Lage ist, das Unrecht seines Tuns einzusehen. Eine infolge krankhafter seelischer Störung reduzierte Einsichtsfähigkeit ist zunächst ohne Belang; sie erlangt erst dann rechtliche Bedeutung – und führt zur Aufhebung der Schuldfähigkeit –, wenn sie tatsächlich das Fehlen der Unrechtseinsicht bei der Begehung der Tat zur Folge hat. Erst an eine solche eindeutige Zustandsbewertung kann sich eine nachprüfbare Erörterung der Gefährlichkeitsprognose anschließen. Bleibt nach den Urteilsgründen zweifelhaft, welche Alternative der Tatrichter annehmen wollte, so ist dem Revisionsgericht eine rechtliche Überprüfung, ob die Voraussetzungen des § 63 StGB zu Recht bejaht worden sind, nicht möglich (st. Rspr.; [X.], Urteil vom 25. Mai 2022 – 2 [X.] Rn. 17; Beschlüsse vom 25. August 2022 – 1 StR 265/22 Rn. 5; vom 5. April 2022 – 1 StR 34/22 Rn. 6; vom 15. Juli 2021 – 1 [X.] Rn. 9; vom 6. Mai 2020 – 4 StR 12/20 Rn. 5; vom 7. November 2018 – 5 StR 449/18 Rn. 7 und vom 27. Oktober 2010 – 2 StR 505/10 Rn. 4; je mwN).

7

c) Diesen Voraussetzungen werden die Feststellungen und Wertungen der [X.] zur Schuldunfähigkeit des Beschuldigten nicht gerecht. Es fehlt an tatsachenfundierten und widerspruchsfreien Darlegungen, in welcher Weise sich das festgestellte Krankheitsbild der schizoaffektiven Störung, gegenwärtig manisch, auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in den konkreten [X.] und damit auf seine Einsichts- oder seine Steuerungsfähigkeit auswirkte.

8

aa) Den Urteilsgründen ist nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob das [X.] von fehlender Einsichtsfähigkeit oder von fehlender Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten ausgeht. Zwar beschließt die [X.] die Feststellungen zum Tatgeschehen mit der klaren Aussage, dass bei allen sechs [X.] „die Fähigkeit des Beschuldigten, das Unrecht seines Tuns einzusehen, […] vollständig aufgehoben“ gewesen sei ([X.]), mithin der Beschuldigte jeweils unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen im Sinne des § 20 [X.]. 1 StGB. Dies steht in Einklang damit, dass bei akuten Schüben einer Schizophrenie – wie sie die Sachverständige (§ 246a Abs. 1 Satz 1 StPO) zu den [X.] [X.] [X.] bis Nr. 6 und, nicht zweifelsfrei (vgl. nachfolgend unter [X.]), eventuell auch zu [X.] Nr. 1 der Urteilsgründe diagnostiziert hat – sowie in der „Endphase“ einer Schizophrenie – die Erkrankung des Beschuldigten besteht seit geraumer Zeit – erfahrungsgemäß in der Regel von einer Schuldunfähigkeit des Betroffenen infolge Aufhebung seiner Einsichtsfähigkeit auszugehen sein wird (vgl. [X.], Beschlüsse vom 21. November 2017 – 2 [X.] Rn. 7 und vom 19. Dezember 2012 – 4 [X.] Rn. 27; jew. mwN).

9

In der Beweiswürdigung führt die [X.] zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten aber einleitend aus, dass dieser zumindest bei Begehung der Taten [X.] Nr. 3 bis Nr. 6 der Urteilsgründe „zwar in der Lage [war], das Unrecht seiner Tat einzusehen, jedoch nicht nach dieser Einsicht zu handeln, § 20 StGB“; seine Steuerungsfähigkeit sei sicher ausgeschlossen ([X.]). Damit geht sie insoweit nunmehr von einer Schuldunfähigkeit des Betroffenen im Sinne des § 20 [X.]. 2 StGB aus. Zu den [X.] [X.] Nr. 1, [X.] der Urteilsgründe enthält sie sich einer Festlegung zu einem etwaigen Ausschluss der Schuldfähigkeit durch Aufhebung der Einsichtsfähigkeit, indem sie ausführt: „Bei der Begehung der Taten [X.] Nr. 1 und [X.] war bei jeweils nicht ausschließbar [X.] (§ 20 StGB), seine Steuerungsfähigkeit sicher erheblich eingeschränkt, § 21 StGB“ ([X.]).

Mit letzterem wiederum nicht in Einklang zu bringen sind die sich anschließenden Ausführungen der [X.] zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten bezogen auf die einzelnen [X.]. Betreffend die Tat [X.] Nr. 1 der Urteilsgründe könne die Sachverständige „eine aufgehobene Steuerungsfähigkeit aus gutachterlicher Sicht nicht ausschließen. Dass seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert (§ 21 StGB) gewesen sei, könne sie sicher positiv feststellen“ ([X.] 123). Danach steht insoweit nunmehr gleichfalls eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Betroffenen nach § 20 [X.]. 2 StGB in Rede. Zu der vorrangig zu klärenden Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten verhalten die Urteilsgründe sich in diesem Zusammenhang nicht.

Die durch die fehlende Differenzierung zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit einerseits sowie deren jeweiliger erheblicher Einschränkung, nicht ausschließbarer Aufhebung oder festzustellender Aufhebung andererseits entstandenen Unklarheiten vermag die abschließende Bewertung der [X.], „[n]ach allem liegen die Voraussetzungen des § 20 StGB hinsichtlich aller Taten ([X.] Nr. 1 bis Nr. 6) vor“ ([X.] 130), nicht zu beheben. Eine Auseinandersetzung mit dem vorstehenden Erfahrungssatz, wonach akute Schübe einer Schizophrenie in der Regel die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigen, lassen die Urteilsgründe vermissen.

[X.]) Zudem erscheint zur [X.] [X.] Nr. 1 der Urteilsgründe zumindest zweifelhaft, ob das Urteil die Relevanz der diagnostizierten schizoaffektiven Störung für die konkrete Tatbegehung ausreichend belegt. Diese darf nach der Rechtsprechung des [X.] grundsätzlich nicht offenbleiben.

(1) Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Betroffenen in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann daher – von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen – nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen. Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können ([X.], Beschluss vom 21. November 2017 – 2 [X.] Rn. 10 mwN).

(2) Auf eine solche spezifisch tatbezogene Auseinandersetzung kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn – wie hier – bei dem Beschuldigten eine schizoaffektive Störung diagnostiziert worden ist. Diese Diagnose führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer – generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden – Schuldunfähigkeit (vgl. [X.], Beschluss vom 21. November 2017 – 2 [X.] Rn. 11 mwN). Ist hingegen ausreichend belegt, dass der Betroffene sich bei Begehung der jeweiligen [X.] in einem akuten Schub der Krankheit befand, ist nach dem Vorgesagten regelmäßig von einer Aufhebung seines Einsichts- und damit Schuldfähigkeit im Sinne des § 20 [X.]. 1 StGB auszugehen.

(3) Die [X.] hat, sachverständig beraten, zu den [X.] [X.] [X.] bis Nr. 6 der Urteilsgründe für sich genommen rechtsfehlerfrei dargelegt, dass der Beschuldigte zu den jeweiligen [X.] einen akuten Krankheitsschub erfuhr. Anders verhält es sich hinsichtlich der [X.] [X.] Nr. 1 der Urteilsgründe. Belegt ist insoweit allein eine kognitive Desorganisation des Beschuldigten. Ob aus dieser schon für sich genommen auf einen akuten Krankheitsschub des Beschuldigten auch am 22. Juni 2021 zu schließen ist, worauf die auf dasselbe Störungsbild Bezug nehmenden Ausführungen zur [X.] [X.] Nr. 6 hindeuten könnten, entzieht sich mangels Erläuterung der Überprüfung durch den Senat.

d) Die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten als Grundlage für die Anordnung nach § 63 StGB bedarf daher – gegebenenfalls unter Beiziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen – insgesamt neuer Prüfung durch den Tatrichter.

3. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind von den aufgezeigten [X.] nicht betroffen und bleiben daher aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO).

Jäger     

  

Bellay     

  

Wimmer

  

Allgayer     

  

Munk     

  

Meta

1 StR 477/22

04.04.2023

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Stuttgart, 12. August 2022, Az: 17 KLs 103 Js 116789/21

§ 20 Alt 1 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO, § 413 StPO, §§ 413ff StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.04.2023, Az. 1 StR 477/22 (REWIS RS 2023, 2337)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2337

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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