Bundesfinanzhof, Beschluss vom 16.05.2023, Az. VIII B 98/22

8. Senat | REWIS RS 2023, 2895

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Gegenstand

Zum Verlust des Rügerechts bei Verfahrensfehlern


Leitsatz

NV: Unterlässt es der Kläger in der mündlichen Verhandlung, die mangelnde Durchführung der in der mündlichen Verhandlung beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens in Form einer Wissensprüfung nochmals zu rügen, hat dies keinen Verlust des Rügerechts zur Folge, wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem FG seinen Beweisantrag unmittelbar vor der Stellung seines Sachantrags gestellt hat, die Beteiligten danach nicht mehr weiter zur Sache verhandelt haben und der Kläger auch nicht aufgrund sonstiger Umstände erkennen konnte, dass das FG von der beantragten Beweiserhebung absehen werde.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 22.02.2022 - 8 K 2903/17 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war im Streitjahr 2013 als Unternehmensberater tätig. Er wandte sich gegen die Qualifizierung seiner Einkünfte als solche aus Gewerbebetrieb (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des [X.] --EStG--), da er als beratender Betriebswirt Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG) erzielt habe. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren wies das Finanzgericht ([X.]) die Klage ab.

2

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger einen Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) dergestalt geltend, dass das [X.] die beantragte Durchführung einer Wissensprüfung unterlassen habe.

Gründe

3

[X.] Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O in Gestalt einer unterlassenen Beweisaufnahme durch das [X.] vor, der zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das [X.] führt (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

4

1. Die Verfahrensrüge ist in zulässiger Form erhoben worden. In der Beschwerdebegründung wurden die Voraussetzungen für einen Verfahrensmangel, hier die Verletzung der Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O, in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O genügenden Form dargelegt. Hat das [X.] --wie im [X.] selbst im Urteil begründet, weshalb es von der Erhebung beantragter Beweise abgesehen hat, genügt hierfür bereits die --erfolgte-- schlichte Rüge der Nichtbefolgung des Beweisantritts (vgl. Beschlüsse des [X.] --BFH-- vom 03.04.2007 - VIII B 60/06, [X.], 1341, unter 2. [Rz 7]; vom 14.08.2000 - VII B 87/00, [X.] 2001, 147, unter 1. [Rz 4], m.w.N.). Da die Stellung des Beweisantrags aus dem Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] ersichtlich ist, erübrigen sich auch weitere Ausführungen des [X.] dazu, dass die Nichterhebung des angebotenen Beweises in der mündlichen Verhandlung gerügt worden oder weshalb eine solche Rüge nicht möglich gewesen ist (vgl. [X.] vom 30.12.2002 - XI B 58/02, [X.] 2003, 787, unter 1. [Rz 3]; vom 19.01.2007 - IV B 51/05, [X.], 1089, unter 1. [Rz 3]).

5

2. Das [X.] hat seine Aufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) verletzt, indem es die vom Kläger beantragte [X.] nicht vorgenommen hat.

6

a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O hat das [X.] den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (Untersuchungsgrundsatz). Es ist dabei zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 [X.]O), darf aber im Regelfall auf die von einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (vgl. BFH-Urteil vom 18.04.2007 - XI R 34/06, [X.], 1495, unter [X.] [Rz 15], m.w.N.).

7

Die im Wege eines Sachverständigengutachtens vorzunehmende [X.] ist ein ergänzendes Beweismittel, das dem Steuerpflichtigen, der behauptet, als Autodidakt eine einem beratenden Betriebswirt ähnliche Tätigkeit auszuüben, ermöglichen soll, die von der BFH-Rechtsprechung geforderte Breite und Tiefe seiner Vorbildung nachzuweisen (vgl. BFH-Urteil vom 20.10.2016 - VIII R 2/14, [X.], 556, [X.], 882). Macht der Steuerpflichtige im Prozess geltend, er habe die erforderlichen Kenntnisse, muss er Tatsachen dazu vortragen, wie er die Kenntnisse erworben hat und inwieweit er diese in der Praxis einsetzt. Stehen diese Tatsachen nicht bereits zur Überzeugung des Gerichts fest, muss das [X.] aufgrund seiner Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 [X.]O) den vom Kläger gestellten Anträgen zur Erhebung von Beweisen entsprechen, die geeignet erscheinen, den erforderlichen Nachweis der Kenntnisse zu erbringen ([X.] vom 29.05.2009 - VIII B 205/08, juris, unter [X.] f. [Rz 13 f.]). Zum Nachweis der erforderlichen Kenntnisse kann auch die Vornahme einer [X.] gehören, wenn sich aus den vorgetragenen Tatsachen zum Erwerb und Einsatz der Kenntnisse bereits erkennen lässt, dass der Kläger über hinreichende Kenntnisse verfügen könnte. Dabei dürfen die [X.] nicht überspannt werden (BFH-Urteil vom 16.12.2008 - VIII R 27/07, [X.], 898, unter [X.] [Rz 26], m.w.N.).

8

b) Im Streitfall lagen die Voraussetzungen für die Durchführung einer [X.] vor. Das [X.] durfte daher von der Beweiserhebung nicht absehen. Es hat die Anforderungen an die Voraussetzungen einer beantragten [X.] im konkreten Fall überspannt.

9

Die Ausführungen des [X.] in seiner Klagebegründung beim [X.] zu seinem Ausbildungs- und Berufsweg sowie seine Erläuterungen zu seinem theoretischen und praktischen Wissenserwerb auf den für die Tätigkeit eines beratenden [X.] relevanten Fachgebieten (vgl. [X.]. 29 ff. der [X.]-Akte) gehen über die pauschale Behauptung, er habe die erforderlichen Fachkenntnisse (hierzu BFH-Urteil vom 18.04.2007 - XI R 34/06, [X.], 1495, unter [X.] [Rz 19]), deutlich hinaus. Nur unsubstantiiertes [X.] zum Erwerb und zum Vorhandensein von Wissen versperrt den Zugang zur [X.] (BFH-Urteil vom 07.03.2013 - III B 134/12, [X.] 2013, 930, Rz 20). Die Ausführungen des [X.] bezeichnen dagegen dezidiert Tätigkeitsinhalte, Tätigkeitszeiträume und Auftraggeber. Der Kläger war zudem grundsätzlich nicht gehalten, zu jedem der vielen Einzelfächer mit ihren jeweiligen Unterdisziplinen, die in einem Vergleichsstudiengang belegt werden müssen, Arbeitsproben oder Bescheinigungen über besuchte [X.] vorzulegen, um seiner Darlegungspflicht (Möglichkeit des Vorhandenseins von Wissen) zu genügen und zur Examinierung zugelassen zu werden (vgl. [X.] in [X.] 2013, 930, Rz 20). Das [X.] durfte daher im konkreten Fall, ohne sich auf ein Sachverständigengutachten über die betriebswirtschaftliche Einordnung der Darlegungen des Wissenserwerbs und der eingereichten Unterlagen stützen zu können, nicht davon ausgehen, dass das [X.] hinreichenden Wissens nicht möglich erscheine und daher von der beantragten Beweiserhebung nicht absehen.

c) Das angefochtene [X.]-Urteil kann auch auf dem Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O beruhen. Die unterbliebene Beweiserhebung war für die zu treffende Sachentscheidung erheblich, denn es ist nicht auszuschließen, dass das [X.] hinsichtlich der Frage, ob der Kläger im Streitjahr eine einem beratenden Betriebswirt ähnliche Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ausgeübt hat, nach der Durchführung einer [X.] zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

3. Entgegen der Auffassung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt) hat der Kläger sein Recht zur Rüge des [X.] nicht gemäß § 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) verloren.

a) Ein Verfahrensmangel kann nicht mehr erfolgreich geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können und --ausdrücklich oder stillschweigend-- verzichtet haben (§ 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 295 ZPO). Zu diesen verzichtbaren Mängeln gehört auch das Übergehen eines Beweisantrags. Das [X.] geht bereits durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren, und zwar unabhängig von einem Verzichtswillen (ständige Rechtsprechung, z.B. [X.] vom 08.10.2003 - VII B 51/03, [X.] 2004, 217, unter [X.] [Rz 5]). Der Verfahrensmangel muss in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt werden, in der der [X.] erschienen ist. Die "nächste" mündliche Verhandlung kann --wie im vorliegenden [X.] auch die sich unmittelbar an den Verfahrensfehler anschließende Verhandlung sein ([X.] vom 28.06.2007 - VI B 112/06, [X.], 1654, unter 2.c [Rz 9]; BFH-Urteil vom 15.07.1997 - VIII R 56/93, [X.], 518, BSt[X.] II 1998, 152, unter [X.]3.c bb [Rz 67]).

b) Ausweislich des [X.] hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens in Form einer [X.] gestellt und so zum Ausdruck gebracht, die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens durch das [X.] sei verfahrensfehlerhaft ([X.] vom 11.02.2021 - VIII B 30/20, [X.] 2021, 789, Rz 6; vom [X.], [X.], 168, BSt[X.] II 2006, 709, unter [X.]2.a [Rz 19]). Dass der Kläger in unmittelbarem [X.] an den Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung einen Sachantrag gestellt hat, ändert hieran nichts. Ausweislich des [X.] hat er in der mündlichen Verhandlung die Nichterhebung des Beweises zwar nicht nochmals ausdrücklich gerügt. Dies kann nach der Rechtsprechung aber nur dann einen Verlust des [X.]s zur Folge haben, wenn zu erkennen war, dass das Gericht die beantragte Vernehmung nicht durchführen werde ([X.] vom [X.], [X.] 2005, 1843, m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Im Streitfall bestand die Besonderheit, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung seinen Beweisantrag unmittelbar vor und damit in engem zeitlichen Zusammenhang mit seinem Sachantrag gestellt hat. Danach haben die Beteiligten nicht mehr weiter zur Sache verhandelt. Bei einer solchen Sachlage kann das Verhalten des [X.] jedenfalls dann nicht als Rügeverzicht gewertet werden, wenn dieser nicht damit rechnen musste, dass das [X.] dem Beweisantrag nicht entsprechen werde. Der Kläger hat hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Durchführung einer Beweiserhebung als erforderlich ansehe. Besondere Umstände, aufgrund derer er in Betracht ziehen musste, das [X.] werde eine notwendige Beweiserhebung unterlassen ([X.] vom 07.11.2011 - III B 53/10, [X.] 2012, 422, Rz 26), lagen hier nicht vor. Ausweislich des [X.] wies die Vorsitzende in unmittelbarem [X.] an die Stellung des Beweisantrags lediglich darauf hin, dass sich als "Voraussetzung für eine [X.] aus den vorgelegten Unterlagen ergeben müsse, dass das Vorliegen des Wissens wahrscheinlich sei". Aus diesem Hinweis auf die abstrakten Voraussetzungen für die Durchführung einer [X.] musste und konnte der Kläger keine eindeutigen Schlüsse darauf ziehen, dass das [X.] seinem Beweisantrag nicht folgen werde.

4. Der Senat hält es für geboten, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

5. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]O abgesehen.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VIII B 98/22

16.05.2023

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend FG Köln, 22. Februar 2022, Az: 8 K 2903/17, Urteil

§ 295 ZPO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 155 FGO, § 15 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2009, § 18 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 76 Abs 1 S 1 FGO, § 160 ZPO, EStG VZ 2013

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 16.05.2023, Az. VIII B 98/22 (REWIS RS 2023, 2895)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2895

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