Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.06.2021, Az. 3 StR 156/21

3. Strafsenat | REWIS RS 2021, 4530

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Gegenstand

Strafverfahren: Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts; Protokolle von 7 Jahre zurückliegenden Vernehmungen


Tenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 23. November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Zwei Monate der Strafe hat es wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Ihre auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision gegen das Urteil hat mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg.

I.

2

Nach den von der [X.] getroffenen Feststellungen missbrauchte die Angeklagte im Januar 2013 gemeinsam mit ihrem ehemaligen und inzwischen verstorbenen Ehemann ihre damals vierjährige Tochter, die Nebenklägerin. Der erhobenen Verfahrensrüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:

3

Die sich schweigend verteidigende Angeklagte hatte sich im Frühjahr 2013 in zwei polizeilichen Vernehmungen zur Tat geäußert. Zu ihren damaligen Angaben hörte das [X.] die jeweiligen Vernehmungsbeamtinnen. Dabei hielt es den Zeuginnen die seinerzeit gefertigten Protokolle vor. Die Beamtin der ersten Vernehmung konnte sich laut den Urteilsfeststellungen "nicht mehr im Detail an die Einzelheiten der von ihr durchgeführten Vernehmung erinnern", bestätigte jedoch, darum bemüht gewesen zu sein, die Angaben der Angeklagten wörtlich aufzunehmen. Die [X.] wurden nicht anderweitig als Urkunden in die Hauptverhandlung eingeführt.

4

In dem angefochtenen Urteil hat die [X.] die [X.] wörtlich zitiert. Aus dem ersten Protokoll sind eine Frage und die insgesamt 17 Sätze umfassende Antwort der Angeklagten im Wortlaut übernommen. Das Zitat aus der zweiten polizeilichen Vernehmung erstreckt sich nahezu geschlossen über vier Seiten des Urteils.

5

Das [X.] hat seine Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten maßgeblich auf ihre geständigen Einlassungen bei den damaligen polizeilichen Vernehmungen gestützt. Es hat im Rahmen der Beweiswürdigung den Wortlaut der zitierten Angaben der Angeklagten analysiert und ist auf dieser Grundlage zu dem Schluss gelangt, dass die Schilderung auf einem realen Erleben basierte. Ergänzend hat die [X.] weitere Beweismittel herangezogen.

II.

6

1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Revisionsbegründung gibt hinreichend die den Mangel enthaltenden Tatsachen im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an. Angesichts der sich über mehrere Seiten erstreckenden wörtlichen Wiedergabe der [X.] war ein Vortrag dazu entbehrlich, welche Inhalte genau den Vernehmungsbeamtinnen vorgehalten wurden (vgl. [X.], Urteil vom 9. März 2017 - 3 [X.], [X.], 722, 723).

7

2. Die Rüge ist auch begründet. Die Angeklagte beanstandet zu Recht, dass das [X.] die Feststellungen teilweise nicht anhand der Beweisergebnisse aus der Hauptverhandlung getroffen hat (Verstoß gegen § 261 StPO). Die polizeilichen Aussagen der Angeklagten aus dem [X.] waren im Umfang ihrer Verwertung nicht Gegenstand der Beweisaufnahme. Es ist auszuschließen, dass die [X.] ihre Überzeugung vom wortgetreuen Inhalt der Vernehmungen allein durch Vorhalte gewonnen hat. Hierzu gilt:

8

Die Einführung von Urkunden im Wege des [X.] ist zwar möglich, unterliegt aber Grenzen. Denn [X.] ist in diesen Fällen nicht das vorgehaltene Schriftstück, sondern das, was die [X.] hierzu erklärt. Nur die Aussage wird zum verwertbaren Teil des [X.] (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Beschluss vom 11. April 2012 - 3 [X.], [X.], 212 f.; Urteil vom 21. März 2012 - 1 StR 43/12, [X.], 521, 522 mwN). Bei längeren oder komplexen Urkunden besteht die Gefahr, dass der Zeuge den Sinn der schriftlichen Erklärung auf den mündlichen Vorhalt hin nicht richtig oder nur unvollständig erfasst oder den genauen Wortlaut eines Schriftstücks nicht zuverlässig erinnert. In solchen Fällen muss die Urkunde für eine ordnungsgemäße Einführung gemäß § 249 Abs. 1 StPO verlesen werden ([X.], Beschlüsse vom 25. April 2012 - 4 StR 30/12, juris Rn. 7; vom 30. August 2011 - 2 StR 652/10, [X.]R StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 48 Rn. 8 mwN; vom 5. April 2000 - 5 [X.], [X.]R StPO § 249 Abs. 1 Verlesung, unterbliebene mwN).

9

Angesichts der Länge und Komplexität der aus den Protokollen zitierten Äußerungen der Angeklagten ist auszuschließen, dass die Polizeibeamtinnen deren Richtigkeit in dem im Urteil zitierten Umfang im Wortlaut im Einzelnen erinnern konnten. Die Vernehmungen lagen bereits über sieben Jahre zurück. Hinzu kommt, dass eine Zeugin auf Erinnerungslücken verwies und auf Nachfrage lediglich ihre damalige Sorgfalt bei der Niederschrift bestätigte. Dies genügt für die Einführung von [X.]n mittels Vorhalt nicht (vgl. [X.], Urteil vom 21. März 2012 - 1 StR 43/12, [X.], 521, 522 mwN; Beschluss vom 4. April 2001 - 5 [X.], bei [X.], [X.], 65, 71 mwN).

Das Urteil beruht auf dem [X.] (§ 337 Abs. 1 StPO). Das [X.] hat die Protokolle, deren umfangreiches originalgetreues Zitat es für geboten hielt, seiner Entscheidung zugrunde gelegt und den Wortlaut der damaligen Angaben der Angeklagten für seine Beweiswürdigung herangezogen.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Die strafschärfende Berücksichtigung des Umstands, dass "die Angeklagte der Aufforderung des früheren Mitangeklagten, sich an der Tat in der geschehenen Art und Weise zu beteiligen, letztlich im Tatzeitpunkt keinen nach außen erkennbaren Widerstand entgegensetzte", könnte Bedenken dahin erwecken, dass entgegen § 46 Abs. 2 StGB die Tatbegehung als solche zu ihren Lasten berücksichtigt wird.

Schäfer     

        

Paul     

        

Anstötz

        

Erbguth     

        

Kreicker     

        

Meta

3 StR 156/21

29.06.2021

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Wuppertal, 23. November 2020, Az: 24 KLs 14/16

§ 249 Abs 1 StPO, § 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.06.2021, Az. 3 StR 156/21 (REWIS RS 2021, 4530)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4530

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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