Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.07.2013, Az. III R 71/11

3. Senat | REWIS RS 2013, 4007

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Gegenstand

Kindergeld für eine deutsche Grenzgängerin - Auflösung einer Anspruchskonkurrenz zwischen deutschem Kindergeldanspruch und ausländischer Familienleistung


Leitsatz

1. NV: Ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet und unterliegt der Steuerpflichtige wegen einer in den Niederlanden als Grenzgänger ausgeübten abhängigen Beschäftigung gemäß Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht den deutschen, sondern den niederländischen Rechtsvorschriften, dann wird dadurch der gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG bestehende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen .

2. NV: Ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet, dann ist eine etwaige Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen .

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die mit ihrer Familie in [X.] lebt, bezog für ihren minderjährigen [X.] fortlaufend [X.] Kindergeld. Im Februar 2009 nahm sie in [X.] eine abhängige Beschäftigung auf. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) nahm dies zum Anlass, die Kindergeldfestsetzung ab April 2009 aufzuheben. Zur Begründung führte sie aus, dass aufgrund der Beschäftigung im Ausland nur noch ein Anspruch auf [X.] Familienleistungen bestehe. Tatsächlich erhielt die Klägerin solche Leistungen ab April 2009, allerdings lediglich in der nach [X.]m Recht vorgesehenen Höhe von 194,99 € pro Quartal.

2

Die Zahlung von [X.] [X.] verweigerte die Familienkasse unter Berufung auf § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das Finanzgericht ([X.]) gab der daraufhin erhobenen Klage statt. Zur Begründung verwies es insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) in der Rechtssache Bosmann [X.]/06 (Slg. 2008, I-3827).

3

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 65 EStG.

4

Die Familienkasse beantragt, das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt, das Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des unter dem Aktenzeichen III R 51/09 beim [X.] anhängigen Revisionsverfahrens anzuordnen.

Entscheidungsgründe

6

II. Die begründete Revision der Familienkasse führt zur Aufhebung des [X.] und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

7

1. Die Familienkasse der [X.] ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] X - Familienkasse eingetreten (s. dazu [X.] vom 3. März 2011 V B 17/10, [X.], 1105, unter II.A.).

8

2. Das [X.] hat angenommen, dass ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf ([X.] nicht an § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG scheitert. Diese rechtliche Folgerung ist nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen und daher fehlerhaft. Erst wenn die Feststellungen im zweiten Rechtsgang nachgeholt sind, wird die Prüfung möglich sein, ob § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangt oder durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften verdrängt wird.

9

Die Klägerin erfüllt, was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Das [X.] ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt, durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der [X.] 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der [X.] 1408/71 ([X.] 574/72) in der durch die [X.] 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die [X.] 647/2005, verdrängt werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die Klägerin überhaupt in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] 1408/71), fällt.

Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316; vom 19. April 2012 [X.]/09, [X.], 150; vom 5. Juli 2012 III R 76/10, [X.], 87) ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der persönliche Geltungsbereich der [X.] 1408/71 eröffnet ist. Hierfür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der [X.] versichert ist (zur Prüfung im Einzelnen s. BFH-Urteile in [X.], 316; in [X.], 150; in [X.], 87).

Fällt eine Person nicht in den persönlichen Geltungsbereich der [X.] 1408/71, dann richtet sich die [X.] nach §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem [X.] Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen.

Das [X.] hat lediglich die Feststellung getroffen, dass die Klägerin in [X.] beschäftigt sei. Dies genügt nicht für die Prüfung, ob der persönliche Geltungsbereich eröffnet wird, weil es hierfür maßgeblich auf den genauen Versichertenstatus ankommt.

3. Sollte sich im zweiten Rechtsgang herausstellen, dass die Klägerin dem persönlichen Geltungsbereich der [X.] 1408/71 unterfällt und sie, was anhand der Senatsrechtsprechung (BFH-Urteile in [X.], 316; in [X.], 150; in [X.], 87) im Einzelnen zu prüfen wäre, außerdem wegen einer abhängigen Beschäftigung in [X.] gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der [X.] 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt, dann wird das [X.] Folgendes zu beachten haben:

a) Obgleich [X.] in diesem Fall im Hinblick auf die Gewährung der Familienleistungen an sich der unzuständige Staat wäre, würde der sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergebende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen sein. Denn die Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der [X.] 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des [X.] Rechts richtet. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11 ([X.] 241, 511).

b) Entgegen der Auffassung der Revision wäre die Festsetzung des ([X.]es nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.

Es könnte hierbei offenbleiben, ob die gegebene [X.] zwischen [X.] und [X.] Familienleistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG oder --wie vom [X.] in der angegriffenen Entscheidung angenommen-- nach der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der [X.] 574/72 aufgelöst wird. Die Anwendung beider Vorschriften würde nämlich zum selben Ergebnis führen.

aa) Nach der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ruht der [X.] Anspruch bis zur Höhe der im [X.] geschuldeten Leistungen. Da mit der Anordnung des anteiligen Ruhens die [X.] beseitigt ist, rechtfertigt es die Norm nicht, den weiter gehenden [X.] Kindergeldanspruch auszuschließen.

bb) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sieht zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Die Auslegung dieser Vorschrift hat jedoch unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts der [X.] auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erfolgen ([X.]-Urteil vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10, [X.] und [X.], Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht --ZESAR-- 2012, 475). Danach darf in einem Fall, in dem in einem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des [X.] beeinträchtigt wäre.

Die vom [X.] in seinem Urteil in [X.], 475 zur Bedeutung des Freizügigkeitsrechts entwickelten Rechtsgrundsätze sind über den dort entschiedenen Fall hinaus jedenfalls auch für solche Wanderarbeitnehmer anzuwenden, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der [X.] 1408/71 unterfallen und als Grenzgänger in einem anderen Mitgliedstaat einer abhängigen Beschäftigung nachgehen. Auch diese [X.] kann von der Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat der [X.] abgehalten werden, wenn sie befürchten müsste, den im [X.] bestehenden höheren Kindergeldanspruch zu verlieren. Es ist nicht ersichtlich, dass Grenzgänger anders zu behandeln sein könnten als [X.] oder entsandte Arbeitnehmer, die Gegenstand des [X.]-Urteils in [X.], 475 waren.

4. [X.] war nicht anzuordnen. Eine solche Anordnung setzt gemäß § 155 [X.]O i.V.m. § 251 der Zivilprozessordnung übereinstimmende Anträge der Beteiligten voraus. Im Streitfall hat lediglich die Klägerin einen Antrag gestellt.

Meta

III R 71/11

18.07.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 27. Oktober 2011, Az: 14 K 42/10 Kg, Urteil

Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71, Art 10 Abs 1 Buchst a EWGV 574/72, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2009, EStG VZ 2009

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.07.2013, Az. III R 71/11 (REWIS RS 2013, 4007)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4007

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