Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2020, Az. B 4 AS 12/20 R

4. Senat | REWIS RS 2020, 2588

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Gegenstand

(Grundsicherung für Arbeitsuchende - Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente - abschließende Regelung der Ausnahmetatbestände durch die UnbilligkeitsV - Berücksichtigung besonderer Härten im Rahmen der Ermessensausübung - Unbilligkeitstatbestände - bevorstehende abschlagsfreie Altersrente iS des § 3 UnbilligkeitsV - sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder sonstige Erwerbstätigkeit iS des § 4 UnbilligkeitsV - Pflege des Ehegatten - Aufnahme eines Kindes in Vollzeitpflege - keine Anwendung von § 6 UnbilligkeitsV auf Zeiten vor dessen Inkrafttreten)


Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 26. September 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Umstritten ist die Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters.

2

Die 1953 geborene Klägerin lebt mit ihrem eine Regelaltersrente beziehenden Ehemann zusammen und erhielt nach endgültiger Festsetzung laufend [X.], zuletzt von Februar bis Juli 2016 in wechselnder Höhe von 448,69 Euro bis 622,11 Euro monatlich (Bescheid vom [X.]). Seit März 2016 betreute sie erneut ein Pflegekind (geboren im Juni 2015) in befristeter Vollzeitpflege, wofür sie monatliches Pflegegeld in Höhe von 927,97 Euro erhielt. Eine Regelaltersrente in Höhe von 873,46 Euro monatlich bezieht die Klägerin seit September 2018. Aus dem erst im Berufungsverfahren angeforderten Bescheid der [X.] ([X.]) vom 2.10.2018 ergibt sich, dass seit 2012 bis zum Beginn der Regelaltersrente Beitragszeiten für die Pflege des Ehemanns berücksichtigt wurden.

3

Mit Vollendung ihres 63. Lebensjahres erfüllte die Klägerin ab 1.2.2016 die Voraussetzungen für eine vorzeitige Altersrente (Schreiben der [X.] vom 5.4.2016). Der Beklagte forderte sie auf, diese Altersrente mit Abschlägen bis spätestens [X.] zu beantragen (Schreiben vom 14.4.2016). Nach dem Widerspruch der Klägerin gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung, den der Beklagte zurückwies, beantragte er selbst, gestützt auf § 5 Abs 3 [X.]B II, eine vorzeitige Altersrente und meldete einen Erstattungsanspruch an (Schreiben vom 20.5.2016).

4

Das [X.] hat den Bescheid vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] aufgehoben (Urteil vom [X.]). Der Beklagte habe bei seinen Ermessenserwägungen berücksichtigen müssen, ob die Betreuung und Erziehung von Pflegekindern bei vorzeitiger Verrentung in gleicher Weise und insbesondere unter entsprechenden finanziellen Voraussetzungen habe erbracht werden können.

5

Das L[X.] hat das Urteil des [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]). Die Ausnahmetatbestände der Unbilligkeitsverordnung stünden einer Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht entgegen. Hilfebedürftigkeit im Alter sei nicht zu erwarten. Die Pflichtbeitragszeit wegen Pflege des Ehemannes begründe keine einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Tätigkeit. Das wegen Vollzeitpflege des Kindes gezahlte Pflegegeld sei weder Arbeitsentgelt aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung noch Einkommen aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit. Die Ermessensentscheidung sei rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar habe der Beklagte die Pflichtbeitragszeiten für die Pflege des Ehemannes von Februar 2016 bis August 2018 im rentenrechtlichen Versicherungsverlauf berücksichtigen müssen, weil diese rentensteigernden Zeiten bei Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht mehr erworben werden könnten. Die Klägerin habe die von ihr bereits seit 2012 ausgeübte, nicht erwerbsmäßige Pflege ihres Ehemannes aber weder mitgeteilt noch sei diese aus den Akten ersichtlich. Die Ermessensentscheidung des Beklagten sei daher rechtlich nicht zu beanstanden, obgleich sich durch gerichtliche Sachaufklärung Umstände ergeben hätten, die bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen gewesen wären.

6

Mit der vom L[X.] zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 12a [X.]B II iVm § 5 Abs 3 [X.]B II. Der Beklagte habe sein Ermessen unzutreffend ausgeübt. Die Erhöhung der Regelaltersrente durch Pflichtbeiträge für die Pflegetätigkeiten sei nicht berücksichtigt worden. Die Pflege sei dem Beklagten bekannt gewesen, weil sie allein deshalb nicht vermittelt worden sei. Zudem sei er verpflichtet gewesen, die Klägerin hinsichtlich ihrer individuellen Lebenssituation zu befragen.

7

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] vom 26. September 2019 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 20. Juni 2017 zurückzuweisen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Das L[X.] sei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ermessensentscheidung zur Aufforderung der Beantragung einer vorzeitigen Rente rechtmäßig sei.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der [X.]lägerin ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Das [X.] hat zutreffend entschieden, dass die Aufforderung zur Rentenantragstellung rechtmäßig ist.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens, in dem der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs 2 [X.]G ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist das Urteil des [X.], mit dem das Urteil des [X.] aufgehoben und die [X.]lage abgewiesen worden ist, sowie der Bescheid vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.], durch den die [X.]lägerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert worden ist.

2. Zutreffende [X.]lageart ist die Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 [X.]G), weil es sich bei der Aufforderung, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, um einen Verwaltungsakt iS des § 31 Satz 1 [X.]B X handelt (vgl B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]2). Für die Anfechtungsklage besteht auch nach Beginn des Bezugs einer abschlagsfreien Regelaltersrente ab dem 1.9.2018 ein Rechtsschutzbedürfnis, weil die angefochtene Aufforderung nicht iS des § 39 Abs 2 [X.]B X erledigt ist. Solange das auf dem Antrag des [X.]n beruhende [X.] zu einer vorzeitigen Altersrente noch nicht abgeschlossen ist, begründet und erhält die angefochtene Aufforderung seine Verfahrensführungsbefugnis für die [X.]lägerin im [X.], in dem eine rückwirkende Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente weiterhin in Betracht kommt (vgl B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]3).

Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Einer echten notwendigen Beiladung der [X.] nach § 75 Abs 2 Alt 1 [X.]G bedurfte es nicht (vgl B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]4).

3. [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] ist formell und materiell rechtmäßig, weil weder die Ausnahmetatbestände für ein Absehen von einer Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente noch Ermessensfehler vorliegen.

a) Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist § 12a iVm § 5 Abs 3 Satz 1 [X.]B II (jeweils idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, [X.]). Nach § 12a Satz 1 [X.]B II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Nach § 12a Satz 2 [X.] [X.]B II besteht keine Verpflichtung, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können die [X.]B II-Leistungsträger nach § 5 Abs 3 Satz 1 [X.]B II den Antrag stellen.

b) Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] bestehen nicht; insbesondere ist die [X.]lägerin zu der Aufforderung, bei der es sich um einen belastenden Verwaltungsakt handelt (vgl B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]2), angehört worden (vgl zum Erfordernis einer Anhörung B[X.] vom [X.] [X.]/15 R - juris Rd[X.]6). § 24 Abs 1 [X.]B X bestimmt, dass einem Beteiligten vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in dessen Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben ist, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Hierzu gehören auch alle Tatsachen, die die Behörde im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigen muss und kann (vgl B[X.] vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - [X.]-5868 § 12 [X.] Rd[X.]5; vgl B[X.] vom 19.10.2011 - [X.] R 9/11 R - [X.]-2600 § 77 [X.]0 Rd[X.]4).

Zwar hat der [X.] die [X.]lägerin nicht bereits vor Erlass der Aufforderung zur Antragstellung zu allen relevanten Umständen angehört, weil er in seinem Schreiben vom 15.3.2016 nur auf eine Verpflichtung zur Beantragung einer vorzeitigen Rente bei dem zuständigen [X.]sträger verweist. Die [X.]lägerin hatte jedoch im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit, ihre Einwände und besondere Einzelfallgesichtspunkte vorzutragen, wodurch eine Heilung des Anhörungsmangels eingetreten ist (§ 41 Abs 1 [X.], Abs 2 [X.]B X). [X.] benennt die Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen von einer Inanspruchnahme zur vorzeitigen Beantragung einer Rente abgesehen wird, die Notwendigkeit einer Abwägung aller Gesichtspunkte und auch das Erfordernis einer Ermessensentscheidung. [X.] ist es, dass der [X.] nicht dargelegt hat, dass entsprechend der ständigen Rechtsprechung des B[X.] relevante Ermessensgesichtspunkte nur solche sein können, die einen atypischen Fall begründen und auf besonderen Härten im Einzelfall beruhen. Er hat jedenfalls deutlich gemacht, dass es sich bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung nicht um eine gebundene Entscheidung handelt. Auch konnte die [X.]lägerin der Begründung des Bescheids entnehmen, dass nach Prüfung der im Einzelnen bezeichneten Ausnahmetatbestände weitere, von ihr ggf vorzutragende Gesichtspunkte im Rahmen einer Ermessensentscheidung einbezogen werden konnten.

c) Die Voraussetzung für eine Verpflichtung zur Rentenantragstellung nach § 12a [X.]B II, dass die Inanspruchnahme von Sozialleistungen eines anderen Trägers zur Verminderung der Hilfebedürftigkeit führt und dies einen Antrag erfordert, der sich nach dem für die vorrangige Sozialleistung geltenden Recht bestimmt, liegt vor. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] war die [X.]lägerin hilfebedürftig (vgl § 7 Abs 1 Satz 1 [X.], § 9 Abs 1 [X.]B II), konnte mit Vollendung ihres 63. Lebensjahres vorzeitig eine Altersrente für langjährig Versicherte (§ 236 [X.]B VI) in Anspruch nehmen und hierdurch ihre Hilfebedürftigkeit beseitigen (§ 7 Abs 4 Satz 1 [X.]B II). Trotz der damit verbundenen dauerhaften Rentenabschläge für jeden [X.]alendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (niedrigerer Zugangsfaktor nach § 77 Abs 2 Satz 1 [X.] a [X.]B VI iVm § 64 [X.]B VI für die gesamte [X.] aufgrund von § 77 Abs 3 Satz 1 [X.]B VI) ist diese Altersrente eine vorrangig geltend zu machende Leistung.

d) Die Ausnahmetatbestände, bei denen Leistungsberechtigte zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht verpflichtet sind, liegen nicht vor.

aa) Durch § 13 Abs 2 [X.]B II wird das [X.] ermächtigt, ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen und für welche Dauer Leistungsberechtigte nach Vollendung des 63. Lebensjahres ausnahmsweise zur Vermeidung von [X.] nicht verpflichtet sind, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung <[X.]> vom 14.4.2008, [X.]) regelt abschließend die Ausnahmetatbestände. Erfasst sind eng umgrenzte Fälle, in denen die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, unbillig wäre (vgl B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]9, 23 f; BT-Drucks 16/7460 S 12). § 1 [X.], wonach Hilfebedürftige nach Vollendung des 63. Lebensjahres nicht verpflichtet sind, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen, wenn die Inanspruchnahme unbillig wäre, enthält keine Regelung zur Unbilligkeit, sondern knüpft an die Verordnungsermächtigung an und stellt die Formulierung des Grundsatzes den einzelnen Unbilligkeitstatbeständen in den §§ 2 bis 5 [X.] voran. Nicht erfassten unzumutbaren Härten kann im Rahmen der Ermessensausübung begegnet werden (B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]4).

bb) Nach § 3 [X.] ist die Inanspruchnahme unbillig, wenn in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch genommen werden kann. [X.] der Frage, ob dem Begriff "in nächster Zukunft" eine feste Obergrenze von vier Monaten entnommen werden kann (vgl B[X.] vom [X.] [X.]/15 R - juris Rd[X.]2; vgl zum [X.] in [X.]Voelzke, jurisP[X.]-[X.]B II, 5. Aufl 2020, § 12a Rd[X.]8), ist die etwa zweieinhalb Jahre umfassende Zeitspanne zwischen dem möglichen Beginn einer abschlagsbehafteten Altersrente und der abschlagsfreien Regelaltersrente ab September 2018 zu lang, um noch die Anforderung einer bevorstehenden abschlagsfreien Altersrente erfüllen zu können.

cc) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 4 [X.] nicht gegeben sind. Hiernach ist die Inanspruchnahme unbillig, solange Hilfebedürftige sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen erzielen (Satz 1). Dies gilt nur, wenn die Beschäftigung oder sonstige Erwerbstätigkeit den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch nimmt (Satz 2). § 4 [X.] ist auf hilfebedürftige Personen zugeschnitten, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausüben und damit zu einem nicht unerheblichen Umfang zur Deckung des eigenen Lebensunterhalts beitragen. Bei den weiter erfassten Personen, die aufgrund einer nicht abhängigen Erwerbstätigkeit nicht sozialversicherungspflichtig sind, muss unbesehen des zeitlichen Erfordernisses das Einkommen so hoch sein, dass es dem monatlichen Bruttoeinkommen eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von mindestens 450,01 Euro (vgl § 8 Abs 1 [X.] [X.]B IV) entspricht ([X.] in [X.]/[X.], [X.]B II, [X.] § 12a Rd[X.]05, Stand September 2015).

Nach den vom [X.] im Berufungsverfahren zur [X.] Absicherung der [X.]lägerin in der gesetzlichen [X.] wegen der Pflege ihres Ehemannes bis zum Beginn der Regelaltersrente getroffenen Feststellungen liegt keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder eine sonstige Erwerbstätigkeit vor. Die Leistungen für Pflegepersonen, vorliegend die Übernahme von [X.]sbeiträgen für die [X.]lägerin nach § 44 [X.]B XI, werden ergänzend zum Pflegegeld nach § 37 [X.]B XI geleistet. Sie setzen voraus, dass die Pflege nicht erwerbsmäßig erbracht wird. Nach ihrem objektiven Erscheinungsbild darf die Pflege nicht "als Erwerb" oder "wie ein Erwerb" betrieben werden, indem durch die Pflege als selbstständige Erwerbstätigkeit ein Arbeitseinkommen erzielt oder die Pflege als Hauptpflicht in einem entgeltlichen Beschäftigungsverhältnis verrichtet wird (vgl B[X.] vom 31.1.2002 - [X.] RJ 7/01 R - [X.] 3-2600 § 44 [X.]6 Rd[X.]6 ff; Behrend in [X.]Voelzke, jurisP[X.]-[X.]B XI, 2. Aufl 2017, § 44 Rd[X.]7). [X.]larstellend bestimmt § 3 Satz 2 Halbsatz 1 [X.]B VI, dass Pflegepersonen, die für ihre Tätigkeit von dem oder den Pflegebedürftigen ein Arbeitsentgelt erhalten, das den Umfang der jeweiligen Pflegetätigkeit entsprechende Pflegegeld iS des § 37 [X.]B XI nicht übersteigt, als nicht erwerbsmäßig tätig gelten. Verträge der Pflegekasse zur Sicherstellung der häuslichen Pflege mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen sind nach § 77 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 [X.]B XI von vornherein unzulässig. Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass es sich vorliegend nicht um erwerbsmäßige Pflege handelt.

Auch der erneuten Aufnahme eines [X.]indes in Vollzeitpflege ab März 2016 liegt weder eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, für die von vornherein keine Anhaltspunkte bestehen, noch eine sonstige Erwerbstätigkeit iS des § 4 [X.] zugrunde, aus der ein entsprechend hohes Einkommen erzielt wurde. Die durch Bescheid des Jugendamtes vom [X.] bewilligten "Leistungen zum Unterhalt des [X.]indes oder Jugendlichen nach § 39 [X.]B VIII" umfassen die [X.]osten für den Sachaufwand sowie die Pflege und Erziehung des [X.]indes oder des Jugendlichen (§ 39 Abs 1 Satz 2 [X.]B VIII). Auch bei dem [X.] handelt es sich um eine staatliche Leistung für den notwendigen Unterhalt des Pflegekindes, nicht jedoch um Einkommen der Pflegeperson (B[X.] vom [X.] [X.]2/06 R - [X.]-4200 § 11 [X.] Rd[X.]9). Nach den Feststellungen des [X.] lag eine Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege (§ 33 [X.]B VII) mit Aufnahme in den eigenen Haushalt zugrunde. Anders als bei erzieherischer Arbeit in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten Wohnform nach § 34 [X.]B VIII wird die Erziehungstätigkeit bei einer Vollzeitpflege iS des § 33 [X.]B VIII regelmäßig nicht professionell und erwerbsmäßig betrieben (vgl B[X.] vom [X.] - B 4 [X.]/09 R - juris Rd[X.]9 f). Hierfür liegen auch sonst keine Anhaltspunkte vor, weil die [X.]lägerin im maßgebenden Zeitraum nur ein [X.]ind betreut hat (vgl B[X.] vom [X.] [X.]2/06 R - [X.]-4200 § 11 [X.] Rd[X.]0 f zur nicht professionellen Betreuung bei nur zwei Pflegekindern; vgl auch [X.] vom 10.12.2019 - [X.]/19 zur steuerrechtlichen Annahme eines erwerbsmäßigen Bezugs von Pflegegeld erst bei gleichzeitiger Aufnahme von mehr als sechs [X.]indern in den Haushalt der Pflegeperson).

[X.]) Der Ausnahmetatbestand des § 6 (Hilfebedürftigkeit im Alter) in der durch die Erste Verordnung zur Änderung der Unbilligkeitsverordnung vom 4.10.2016 ([X.] 2210) ab 1.1.2017 geänderten Fassung, der ausdrücklich regelt, dass die Inanspruchnahme zur vorzeitigen Rentenantragstellung unbillig ist, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten [X.]apitel des [X.]B XII werden würden (Satz 1), findet keine Anwendung. Bei einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 [X.]G ist maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage derjenige der letzten Behördenentscheidung (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 54 Rd[X.]3 mwN), hier also des Erlasses des Widerspruchsbescheids im Juni 2016. Für eine Rückwirkung des Ausnahmetatbestandes des § 6 [X.] auf Zeiten vor dessen Inkrafttreten fehlt es an einer ausdrücklichen Bestimmung. Ausweislich der Begründung des [X.] sollte mit der Rechtsänderung zum 1.1.2017 auf die Urteile des B[X.] vom 19.8.2015 ([X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.]) und [X.] ([X.] [X.]/15 R - NZ[X.]016, 831) reagiert werden. Dabei hat der Verordnungsgeber zugrunde gelegt, dass eine etwaige künftige Hilfebedürftigkeit der Leistungsberechtigten bei Bezug der vorgezogenen Altersrente keinen bei der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs 3 [X.]B II atypischen Fall begründe und dies als "ungünstig" angesehen (vgl Begründung des [X.] vom 19.9.2016, [X.] f; www.bmas.de/Service/Gesetze/Unbilligkeitsverordnung.html; zur eingeschränkten Bedeutung dieser Materialien: B[X.] vom 9.8.2018 - [X.] [X.]/18 R - [X.]-4200 § 12a [X.] Rd[X.]2). Trotz dieser Einschätzung wurde davon abgesehen, der neuen Rechtslage eine Rückwirkung, etwa für noch nicht bestandskräftige Aufforderungsbescheide, beizumessen (vgl Sächsisches [X.] vom 17.10.2019 - L 3 AS 330/17 - RdNr 50; vgl zum sog [X.] ausführlich B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/15 R - [X.]-4200 § 11 [X.] Rd[X.]4 f; B[X.] Urteil vom 12.5.2011 - [X.] AL 24/10 R - [X.]-1300 § 107 [X.] Rd[X.]2).

e) Bei der Aufforderung zur Beantragung der vorzeitigen Rente durch Bescheid vom 14.4.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom [X.] hat der [X.] sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.

aa) Soweit der Behörde - wie vorliegend - Ermessen eingeräumt wurde, bestimmt sie innerhalb der gesetzlichen Grenzen und dem Zweck der Ermächtigung (§ 39 [X.]B I) die Rechtsfolge. Die Ermessensausübung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu überprüfen (§ 39 Abs 1 [X.]B I, § 54 Abs 2 Satz 2 [X.]G), ob Ermessen überhaupt ausgeübt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (B[X.] vom [X.] [X.]/15 R - juris Rd[X.]4). Zu berücksichtigen ist daher, dass dem Leistungsträger durch § 5 Abs 3 Satz 1 [X.]B II hinsichtlich des "Ob" einer Aufforderung Ermessen eingeräumt ist, das seinen Ausgangspunkt in der gesetzlichen Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a [X.]B II zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen hat. Der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente geht die tatbestandliche Prüfung voraus, dass die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht unbillig ist. Relevante Ermessensgesichtspunkte können von vornherein nur solche sein, die einen atypischen Fall begründen, in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Antragstellung abzusehen ist. Dabei dürfen nur besondere Härten im Einzelfall in Betracht kommen, die keinen Unbilligkeitstatbestand im Sinne der [X.] begründen, die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aber aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen lassen (B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]7 ff). Aus der nach § 35 Abs 1 Satz 3 [X.]B X obligatorischen Begründung der Ermessensentscheidung muss erkennbar sein, dass der Leistungsträger diesen Ermessenspielraum erkannt und genutzt hat, dass sämtliche, aber auch ausschließlich die nach dem Zweck des § 5 Abs 3 Satz 1 [X.]B II iVm § 12a Satz 1 [X.]B II relevanten Gesichtspunkte in tatsächlicher Hinsicht ermittelt und berücksichtigt worden sind ([X.] in [X.]/[X.], [X.]B II, [X.] § 12a Rd[X.]10, Stand September 2015; [X.] in LP[X.]-[X.]B II, 6. Aufl 2017, § 12a RdNr 6).

bb) Den angegriffenen Bescheiden ist zu entnehmen, dass der [X.] das aufgrund der Verpflichtung der [X.]lägerin, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, eröffnete Ermessen hinsichtlich des "Ob" einer Aufforderung erkannt und im Ergebnis fehlerfrei ausgeübt hat. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist ein Ermessens- bzw Abwägungsdefizit nicht darin zu sehen, dass er den Wegfall der rentensteigernden Wirkung der Pflegezeiten des Ehemannes mit der Bewilligung einer vorzeitigen Rente nicht in seine Ermessenserwägungen einbezogen hat.

Bei dem Verlust einer mit der Pflege von Angehörigen einhergehenden rentenrechtlichen Absicherung handelt es sich nicht um die im Rahmen der Ermessensentscheidung allein zu berücksichtigende besondere Härte im Einzelfall. Vielmehr liegt ein gesellschaftlich häufiger Lebenssachverhalt zugrunde, der grundsätzlich vom Gesetzgeber in der Unbilligkeitsverordnung mit einem weiteren Ausnahmetatbestand erfasst werden könnte. Dies ist unterblieben. Ungeachtet dessen soll mit der Verpflichtung zur Inanspruchnahme von vorzeitigen Renten der Nachrang der existenzsichernden und steuerfinanzierten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.]B II aktuell und unmittelbar durchgesetzt werden. Demgegenüber dient die Berücksichtigung der rentensteigernden Wirkung der [X.] zunächst den zukünftigen Interessen des Leistungsberechtigten an einer besseren rentenrechtlichen Absicherung. Die Anerkennung des hohen Einsatzes der Pflegepersonen und die Schließung der in der Erwerbsbiographie eintretenden Lücken in der [X.] hat nicht zur Folge, dass diese gesetzgeberischen Wertungen zwingend auch in das steuerfinanzierte Existenzsicherungssystem nach dem [X.]B II mit [X.] zu übernehmen sind. Allerdings können rentensteigernde Pflegezeiten seit der Neufassung der Unbilligkeitsverordnung ab 1.1.2017 eine mittelbare Bedeutung im Zusammenhang mit dem Ausnahmetatbestand des § 6 [X.] (Hilfebedürftigkeit im Alter), also einer späteren Abhängigkeit von steuerfinanzierten Leistungen, erlangen.

Auf die vom [X.] thematisierte Frage, ob erst im Gerichtsverfahren bekannt gewordene Umstände ein Ermessensdefizit begründen können, kommt es daher nicht an. Indes sieht der Senat keine Veranlassung von den Rechtsprechungsgrundsätzen zu Umfang und Grenzen der Amtsermittlungspflicht auch bezogen auf relevante Ermessensgesichtspunkte abzuweichen (vgl B. [X.], NZ[X.]020, 319; B[X.] vom 30.10.2013 - [X.] R 14/11 R - [X.]-1300 § 45 [X.]5 Rd[X.]1).

Das [X.] hat auch erwogen, ob der [X.] in seine Ermessenserwägungen die Höhe der zu erwartenden vorzeitigen Altersrente hätte einbeziehen müssen. Dies hat es zu Recht verneint, weil im maßgebenden Prüfungszeitpunkt der angefochtenen Aufforderung zur Rentenantragstellung (Juni 2016) keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der aktuelle monatliche Bedarf der [X.]lägerin unter Berücksichtigung der Abschläge bei einer vorzeitigen Altersrente nicht hätte gedeckt werden können. Eine künftige, nur prognostisch zu beurteilende Hilfebedürftigkeit der [X.]lägerin nach Erreichen der Regelaltersrente war nicht in die Ermessenserwägungen einzubeziehen (siehe [X.]) [X.]). Vor dieser gesetzgeberischen Neuregelung dieses nicht nur als Härte im Einzelfall anzusehenden [X.] war nicht im Rahmen der Ermessensentscheidung auf eine etwaige künftige Hilfebedürftigkeit abzustellen (vgl B[X.] vom 19.8.2015 - [X.] [X.]/15 R - B[X.]E 119, 271 = [X.]-4200 § 12a [X.], Rd[X.]2).

Die [X.]ostenentscheidung beruht auf § 193 [X.]G.

Meta

B 4 AS 12/20 R

24.06.2020

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Berlin, 20. Juni 2017, Az: S 203 AS 10329/16, Urteil

§ 5 Abs 3 S 1 SGB 2, § 12a S 1 SGB 2, § 1 UnbilligkeitsV, § 3 UnbilligkeitsV, § 4 UnbilligkeitsV, § 6 S 1 UnbilligkeitsV, § 37 SGB 11, § 44 SGB 11, § 77 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB 11, § 3 S 2 Halbs 1 SGB 6, § 33 SGB 8, § 39 Abs 1 S 2 SGB 8, § 39 SGB 1, § 35 Abs 1 S 3 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2020, Az. B 4 AS 12/20 R (REWIS RS 2020, 2588)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2588

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Grundsicherung für Arbeitsuchende - vorrangige Sozialleistungen - Pflicht zur Beantragung vorzeitiger Altersrente mit Rentenabschlägen - …


B 4 AS 60/21 R (Bundessozialgericht)

(Grundsicherung für Arbeitsuchende - vorrangige Sozialleistungen - Pflicht zur Beantragung vorzeitiger Altersrente - unbillige Härte …


L 11 AS 721/16 B ER (LSG München)

Aufforderung zur Rentenantragstellung


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