Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.05.2020, Az. 1 StR 128/20

1. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1825

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an die Gefahrenprognose


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 17. Dezember 2019 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und ihn im Übrigen freigesprochen. Die gegen seine Unterbringung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s litt der Angeklagte spätestens seit 2015 ([X.]) unter paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie. Er begegnete am 19. August 2018 den ihm unbekannten Zeugen [X.]und [X.]in einer U-Bahn-Station in [X.]. Der Angeklagte nahm infolge seiner wahnhaften Verfolgungsängste zwei Steine aus dem Gleisbett auf, um diese jeweils gegen den Kopf der beiden Passanten zu schleudern. Er verfolgte die flüchtenden Zeugen und warf die Steine auf dem Vorplatz zur U-Bahn-Haltestelle. Der in [X.] geworfene Stein verfehlte deren Kopf nur um wenige Zentimeter. Der Angeklagte hatte keine weiteren Wurfgeschosse und erkannte, dass sein Plan gescheitert war. Von zufällig vorbeikommenden Polizeibeamten wurde der brüllende Angeklagte, mit dem keine Kommunikation möglich war, festgenommen. Er war wegen der [X.] Schizophrenie in seiner Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich eingeschränkt ([X.] 19).

3

2. Die Unterbringungsentscheidung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Gefahrenprognose ist nicht tragfähig begründet.

4

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass vom Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.] zu stellen und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten vom Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt ([X.], Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12 Rn. 27; [X.], Beschlüsse vom 5. Februar 2020 - 2 [X.] Rn. 5; vom 27. Juni 2019 - 1 [X.] Rn. 4 und vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 Rn. 6). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; [X.], Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 Rn. 15; vom 11. Oktober 2018 - 4 [X.] Rn. 17 und vom 26. Juli 2018 - 3 [X.] Rn. 12).

5

b) Daran gemessen erweisen sich die Erwägungen, mit denen das [X.] seine Gefahrenprognose begründet hat, als lückenhaft.

6

aa) Zum einen hätte sich die [X.] mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte trotz seiner psychischen Erkrankung seit 2015 während eines nennenswerten Zeitraums, nämlich bis zur Tat am 19. August 2018, keine Straftat beging. Denn solches ist regelmäßig ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten und daher zu erörtern (st. Rspr.; [X.], Beschlüsse vom 5. Februar 2020 - 2 [X.] Rn. 7; vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19 Rn. 5; vom 7. Mai 2019 - 4 [X.] Rn. 6; vom 23. August 2017 - 2 StR 278/17 Rn. 18 und vom 4. Juli 2012 - 4 [X.] Rn. 11; Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 [X.] Rn. 9 und vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99 Rn. 5, [X.]R StGB § 63 Gefährlichkeit 27).

7

bb) Zum anderen begegnet durchgreifenden Bedenken, dass das [X.] die - im äußeren Geschehensablauf vergleichbare - Vortat vom 22. Mai 2014 herangezogen hat. Davon, dass auch diese Tat von der psychiatrischen Erkrankung beeinflusst war, hat sich das [X.] nicht überzeugt. Auch länger zurückliegenden Taten kann aber grundsätzlich nur dann eine indizielle Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose zukommen, wenn sie in einem inneren Zusammenhang zur festgestellten Erkrankung gestanden haben und deren Ursache nicht in anderen, nicht krankheitsbedingten Umständen zu finden ist ([X.], Beschlüsse vom 13. Oktober 2016 - 1 [X.] Rn. 19; vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 Rn. 9; vom 15. Juli 2015 - 4 StR 277/15 Rn. 10 und vom 4. Juli 2012 - 4 [X.] Rn. 12; Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11 Rn. 14). Warum die Tat vom 22. Mai 2014 dennoch für die krankheitsbedingt fortbestehende Gefährlichkeit des Angeklagten sprechen soll, hat das [X.] nicht nachvollziehbar begründet.

8

c) Die Feststellungen sind von dem [X.] nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.

Raum     

        

Bellay     

        

Hohoff

        

Leplow     

        

Pernice     

   

Meta

1 StR 128/20

13.05.2020

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Stuttgart, 17. Dezember 2019, Az: 4 Js 118853/17 - 5 KLs

§ 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.05.2020, Az. 1 StR 128/20 (REWIS RS 2020, 1825)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1825

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