Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.09.2021, Az. 1 StR 255/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 2805

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Begründungsfehler bei der Gefährlichkeitsprognose für einen an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie leidenden, ausländischen Angeklagten mit erheblichen Defiziten beim Verständnis der deutschen Sprache im Zusammenhang mit einem tätlichen Angriff auf einen Polizeibeamten


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 18. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten von dem Vorwurf der Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

2

Das [X.] hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

Der Angeklagte leidet - primär - unter einer [X.] Schizophrenie. Daneben bestehen ein Abhängigkeitssyndrom von Cannabis oder synthetischen Cannabinoiden sowie ein schädlicher Gebrauch von verschiedenen Substanzen und eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Dabei kann der [X.] von Cannabis oder synthetischen Cannabinoiden beim Angeklagten nicht ausschließbar zu einer Exazerbation der Symptomatik der [X.] Schizophrenie führen.

4

Am 2. April 2020 gegen 9.30 Uhr hielt sich der Angeklagte in der Fußgängerzone in M.    auf. Er schälte bei einem Mülleimer eine Orange und sprach auf [X.] laut vor sich hin. Der uniformierte Polizeibeamte [X.]  , der als Kontaktbeamter unterwegs war, sprach den Angeklagten an, ob alles in Ordnung sei. Der Angeklagte reagierte aggressiv, gestikulierte und schrie, was der Zeuge wolle. Dann ging er wortlos auf den Zeugen [X.]   zu. Dieser forderte den Angeklagten auf, stehen zu bleiben, und versuchte, ihn mit ausgestreckten Armen von sich fernzuhalten. Dies gelang nicht; vielmehr ging der Angeklagte mit Fäusten und Fußtritten auf den Zeugen los und traf ihn mit den Fäusten mehrfach am Oberkörper. Schließlich packte er den Zeugen an der Uniformjacke, so dass beide zu Boden gingen. Erst mit Hilfe eines unbeteiligten Passanten gelang es, den Angeklagten zu überwältigen und auf dem Boden zu fixieren. Der Zeuge [X.]   erlitt eine Prellung und eine blutende Verletzung am linken Knie, Schürfwunden an der linken Hand sowie eine Verstauchung des rechten Sprunggelenks.

5

Der Angeklagte handelte zur Tatzeit aufgrund eines akut [X.] Syndroms mit starker affektiver Beteiligung im Rahmen der bestehenden [X.] Schizophrenie; seine Steuerungsfähigkeit war infolgedessen aufgehoben. Er ist seit dem 25. Januar 2021 einstweilig untergebracht.

II.

6

1. Der [X.] hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

7

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der [X.] aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Daneben muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.] zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (st. Rspr.; [X.], Beschlüsse vom 2. September 2020 - 1 [X.] Rn. 11; vom 6. August 2020 - 1 [X.] Rn. 10 und vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14 Rn. 14; je mwN).

8

b) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil zur Gefährlichkeitsprognose nicht.

9

aa) Bei der Gefährlichkeitsprognose gemäß § 63 Satz 1 StGB hat das [X.] insbesondere berücksichtigt, dass der Angeklagte bereits mehrfach vorbestraft ist - darunter auch einschlägig mit Aggressionsdelikten - und auf die Eintragungen im Bundeszentralregister unter Nummern 1. und 2. verwiesen. Bei den Feststellungen zur Person hat das [X.] insoweit ausgeführt, dass der Angeklagte durch das [X.] am 6. Februar 2017 wegen Bedrohung und Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen und am 14. September 2017 wegen Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit drei tateinheitlichen Fällen der versuchten Nötigung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung verurteilt wurde.

Nicht verfahrensgegenständliche Taten dürfen bei der Gefährlichkeitsprognose jedoch nur dann berücksichtigt werden, wenn sie ihrerseits in einem Zusammenhang mit der Erkrankung des [X.] stehen (st. Rspr.; [X.], Beschlüsse vom 9. März 2021 - 1 StR 15/21 Rn. 7; vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20 Rn. 20 und vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 371/20 Rn. 18; je mwN). Zu diesem symptomatischen Zusammenhang hat das [X.] keine Feststellungen getroffen. Überdies fehlt es an einer Darstellung der den Verurteilungen durch das [X.] zugrunde liegenden Sachverhalten. Vor diesem Hintergrund ist die Einbeziehung der Vortaten in die Prognose rechtsfehlerhaft.

bb) Rechtlichen Bedenken begegnet zudem die Bewertung des Gewichts der [X.] im Rahmen der Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten. Das [X.] geht davon aus, der Angeklagte sei für die Allgemeinheit gefährlich, da sich die verfahrensgegenständliche Tat - und auch die zukünftig zu erwartenden Taten - gegen eine aus der Sicht des Angeklagten beliebige Person gerichtet habe, die dem Angeklagten zufällig in der Fußgängerzone begegnet sei.

Diese Erwägung schöpft den festgestellten Sachverhalt allerdings nur unzureichend aus. So bleibt außer Betracht, dass es sich bei der Ansprache durch einen uniformierten Polizeibeamten um eine Ausnahmesituation, nicht jedoch um ein alltägliches Geschehen handelte (vgl. auch [X.], Beschluss vom 6. August 2020 - 1 [X.] Rn. 14). Ebenso wird nicht erörtert, dass der Angeklagte nur rudimentär die [X.] versteht ([X.], 30 und 33), was möglicherweise dazu geführt haben könnte, dass er die Situation insgesamt missdeutete.

2. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann daher nicht bestehen bleiben. Auch der Freispruch unterliegt der Aufhebung (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; vgl. [X.], Beschlüsse vom 18. Februar 2021 - 4 [X.] Rn. 15 und vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20 Rn. 22; je mwN). Die Sache bedarf somit neuer Verhandlung und Entscheidung, naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen.

3. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Dabei wird das neue Tatgericht auch die bisherige Entwicklung des Angeklagten in der einstweiligen Unterbringung näher in den Blick zu nehmen und darzustellen haben.

Raum     

        

Jäger     

        

Bellay

        

Hohoff     

        

Leplow     

        

Meta

1 StR 255/21

07.09.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 18. März 2021, Az: 8 KLs 246 Js 131762/20

§ 63 S 1 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO, § 113 StGB, § 223 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.09.2021, Az. 1 StR 255/21 (REWIS RS 2021, 2805)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 2805

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