Bundesfinanzhof, Urteil vom 26.09.2023, Az. IX R 16/22

9. Senat | REWIS RS 2023, 7135

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Gegenstand

(Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 26.09.2023  IX R 9/22: Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis bei vorläufiger Steuerfestsetzung - Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags)


Leitsatz

NV: Für eine Klage gegen den Bescheid über Solidaritätszuschlag für 2020, mit der die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags geltend gemacht wird, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Steuerfestsetzung wegen dieses Punktes vorläufig ist und beim Bundesverfassungsgericht bereits ein einschlägiges Musterverfahren (hier: 2 BvR 1505/20) anhängig ist.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des [X.] vom 12.10.2022 - 2 K 330/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ein Rechtsschutzbedürfnis für ihre Klage gegen die Festsetzung des [X.]s nach dem [X.] 1995 hat und ob das [X.] 1995 in der durch das Gesetz zur Rückführung des [X.]s 1995 vom 10.12.2019 geänderten Fassung ([X.], 2115) ab dem [X.] gegen Verfassungsrecht verstößt.

2

Die Klägerin wird im Streitjahr 2020 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt --[X.]--) setzte mit Bescheid vom [X.] [X.] zur Einkommensteuer 2020 in Höhe von … € fest. Der Bescheid erging gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung ([X.]) vorläufig hinsichtlich des [X.]es 1995.

3

Den gegen den Bescheid vom [X.] erhobenen Einspruch begründete die Klägerin damit, dass die Erhebung des [X.]s ab dem [X.] verfassungswidrig sei. Dies ergebe sich aus dem Urteil des [X.] ([X.]) vom 21.07.2011 - II R 50/09, wonach das [X.] 1995 als zeitlich befristete [X.] mit dem Auslaufen des [X.], also mit Ablauf des Jahres 2019, seine Legitimation verliere. Das [X.] 1995 sei auch insoweit verfassungswidrig, als höhere Einkommen ab 2021 weiter mit dem [X.] belastet würden. Die durch das [X.] 1995 beschränkte Erhebung des [X.]s auf die 10 % der Steuerbürger mit dem höchsten Einkommen sei willkürlich und damit eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Das [X.] 1995 verstoße gegen Art. 106 des Grundgesetzes (GG) sowie die Art. 2, Art. 3 und Art. 14 GG und sei deshalb insgesamt verfassungswidrig. Der Bescheid vom [X.] sei aufzuheben und der [X.] ab 2021 auf 0 € festzusetzen.

4

Das [X.] verwarf mit Einspruchsentscheidung vom 18.01.2022 den Einspruch als unzulässig. Dem Einspruch fehle mit Blick auf den Vorläufigkeitsvermerk das Rechtsschutzbedürfnis, da im Schreiben des [X.] ([X.]) vom 04.01.2021 (BStBl I 2021, 49) klargestellt sei, dass der Vorläufigkeitsvermerk ab dem [X.] auch die Frage umfasse, ob die fortgeltende Erhebung des [X.]s nach dem Auslaufen des [X.] zum 31.12.2019 verfassungsgemäß sei.

5

Die hiergegen am 21.02.2022 erhobene Klage begründete die Klägerin damit, dass der Vorläufigkeitsvermerk im Bescheid vom [X.] mit demselben Wortlaut seit dem [X.] existiere und ursprünglich auf das beim [X.] ([X.]) anhängig gewordene Verfahren Aktenzeichen 2 BvL 6/14 betreffend den [X.] 2007 zurückzuführen sei. Der Vorläufigkeitsvermerk habe sich daher nicht auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit nach dem Auslaufen des [X.] erstreckt. Das [X.] könne sich auch nicht auf das [X.]-Schreiben vom 04.01.2021 (BStBl I 2021, 49) berufen, da dieses nicht in den angefochtenen Bescheid eingeflossen sei und allenfalls die weisungsgebundenen Finanzbehörden binde. Im Streitfall lägen zudem substantiiert vorgetragene besondere Gründe materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Art vor, die die Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens rechtfertigten. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage sei auch deshalb gegeben, weil der Rechtsweg weder verwehrt noch verkürzt werden dürfe (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Klage stünden weder das beim [X.] anhängige Verfahren 2 BvR 1505/20 noch das beim [X.] anhängige Verfahren IX R 15/20 entgegen, da anderen Steuerpflichtigen dadurch nicht der Zugang zu den Fachgerichten verwehrt werden dürfe, zumal das [X.] noch nicht über den Normenkontrollantrag mit dem Aktenzeichen 2 BvL 6/14 entschieden habe. Das im Streitfall bestehende Rechtsschutzbedürfnis ergebe sich auch aus dem Urteil des Finanzgerichts ([X.]) [X.] vom 16.05.2022 - 10 K 1693/21 (Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2022, 1397). Dort sei darauf hingewiesen worden, dass das [X.] bisher keine Grenze für das Vorliegen einer verfassungswidrigen Aushöhlung der nach Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG vorgesehenen Verteilung der Steuer festgelegt habe. Materiell-rechtlich stützte sich die Klägerin im Klageverfahren auf die bereits im Einspruchsverfahren geltend gemachten Gründe. Die Begründung des [X.] [X.], das die Verfassungsmäßigkeit des [X.]es 1995 auch ab 2020 bejaht habe, sei unzutreffend. Insbesondere ändere ein weiterer finanzieller Mehrbedarf des [X.] und der Länder wegen des [X.] und der Corona-Pandemie nichts daran, dass sich mit Auslaufen des [X.] die Verhältnisse grundlegend im Sinne des [X.]-Urteils vom 21.07.2011 - II R 50/09 geändert hätten. Eine Umwidmung des [X.]es 1995 könne ab dem [X.], also nach 27 Jahren, nicht ohne Gesetzgebungsakt allein aufgrund tagespolitischer Ereignisse angenommen werden.

6

Das [X.] hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 12.10.2022 - 2 K 330/22 (E[X.] 2023, 151) als unzulässig abgewiesen. Sie sei mangels [X.] unzulässig. Die nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [X.] angeordnete Vorläufigkeit erstrecke sich, wenn es nicht ausdrücklich anders formuliert sei, auch auf später anhängig werdende einschlägige Verfahren zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht. Die Vorläufigkeit habe sich demnach materiell-rechtlich bereits auf die Verfassungsmäßigkeit des [X.]s nach dem Auslaufen des [X.] und verfahrensrechtlich auf alle einschlägigen offenen Verfahren vor dem [X.] (2 BvL 6/14, 2 BvR 1421/19, 2 BvR 1505/20) und Revisionsverfahren beim [X.] (IX R 15/20) einschließlich des später anhängig gewordenen Revisionsverfahrens IX R 9/22 erstreckt. Das Rechtsschutzbedürfnis sei wegen des beim [X.] anhängigen [X.] 2 BvR 1505/20 entfallen. Im Unterschied zu der vom [X.] [X.] in seinem Urteil vom 16.05.2022 - 10 K 1693/21 (E[X.] 2022, 1397) vertretenen Rechtsmeinung sei das Musterverfahren nicht von vornherein aussichtslos. Zwar fehle es in diesem Verfahren an der erforderlichen Erschöpfung des Rechtswegs. Jedoch erscheine das Verfahren als Rechtssatzverfassungsbeschwerde im Sinne des Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG, § 90 Abs. 2 Satz 2 des [X.]sgesetzes ([X.]G) nicht von vornherein aussichtslos. Es sei aufgrund der klaren Neuregelungen des [X.]es 1995 keine vorausgehende Klärung einfachrechtlicher Fragen erforderlich. Bereits aufgrund der Anzahl einschlägig betroffener Fälle (im [X.] noch alle einkommensteuerpflichtigen Einkommen) sowie des [X.], den die Frage der Verfassungsmäßigkeit des [X.]es 1995 in der Diskussion unter Rechtsexperten und in der Öffentlichkeit gefunden habe, weise das [X.]-Verfahren 2 BvR 1505/20 allgemeine Bedeutung im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 2 [X.]G auf. Der Klägerin sei das Abwarten des Ausgangs des [X.] mit Blick auf den Zweck und die Schutzwirkung des Vorläufigkeitsvermerks zumutbar. Eine Ausnahme von dem bei Klagen gegen vorläufige Steuerbescheide regelmäßig fehlenden Rechtsschutzbedürfnis liege nicht vor.

7

Mit ihrer Revision bringt die Klägerin vor, eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [X.] vorläufige Steuerfestsetzung mache eine Klage nicht unzulässig, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art geltend gemacht würden. Sie teile nicht die Auffassung, wonach das beim [X.] anhängige Verfahren 2 BvR 1505/20 erfolgversprechend sei. Das [X.] verkürze den Rechtsweg. Im [X.]-Verfahren 2 BvR 1505/20 fehle es an der Rechtswegerschöpfung. Das Verfahren sei politisch motiviert. Die Jahresfrist nach § 93 Abs. 3 [X.]G sei nicht eingehalten. Das [X.] 1995 sei 2019 nicht neu gefasst worden. Für 2020 sei "alles beim Alten" geblieben und es gelte die zuletzt im [X.] bekannt gemachte Fassung. Der Ausnahmefall, wonach eine Verfassungsbeschwerde ohne Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden könne, weil sie von allgemeiner Bedeutung sei oder dem Beschwerdeführer ein schwerer oder unabwendbarer Nachteil entstehe, liege nicht vor. Aus der langen Laufzeit von Verfahren zum [X.] beim [X.] könne nicht auf das Vorliegen allgemeiner Bedeutung geschlossen werden. Auch eine umfangreiche wissenschaftliche Diskussion begründe keine allgemeine Bedeutung, zumal die Fragen seit mehr als zehn Jahren erörtert würden und nicht neu seien. In der Sache halte sie daran fest, dass der [X.] nicht mit Art. 106, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar sei. Mit dem Auslaufen des [X.] sei die Rechtfertigung für die [X.] entfallen. Ohne gesetzliche Grundlage könne der [X.] nicht umgewidmet werden. Der [X.] dürfe zu keiner versteckten Erhöhung der Einkommensteuer führen und das in Art. 106 GG verankerte Gefüge der Finanzverfassung aushebeln. Auch die Beschränkung des [X.]s auf die Steuerbürger mit höherem Einkommen sei willkürlich und verfassungswidrig. Entgegen der Ansicht des [X.] im Urteil vom 17.01.2023 - IX R 15/20 ([X.]E 279, 403, [X.] 2023, 351) seien finanzielle Mehrbedarfe 30 Jahre nach der [X.] keine wiedervereinigungsbedingten Mehrausgaben, sondern der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen [X.]länder geschuldet. Der [X.] decke damit keinen vorübergehenden aufgabenbezogenen Mehrbedarf mehr ab. Vielmehr sei der [X.] ein langfristiges Finanzierungsinstrument geworden und sei damit nichts anderes als eine zusätzlich erhobene Einkommensteuer.

8

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des [X.] München vom 12.10.2022 - 2 K 330/22, den Bescheid über die Festsetzung des [X.]s 2020 vom [X.] und die Einspruchsentscheidung vom 18.01.2022 aufzuheben.

9

Das [X.] beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuzuweisen.

Der Klägerin fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Das [X.]-Musterverfahren 2 BvR 1505/20 sei nicht von vornherein als aussichtslos anzusehen. Es stellten sich in dem Musterverfahren keine aufklärungsbedürftigen Tatsachenfragen. Aufgrund der Anzahl der betroffenen Fälle und der Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des [X.]s unter Fachleuten und in der Öffentlichkeit liege eine allgemeine Bedeutung im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 2 [X.]G vor. Es sei zumutbar, den Ausgang des [X.]-Verfahrens 2 BvR 1505/20 abzuwarten. Das Verfahren umfasse alle Punkte der Klagebegründung der Klägerin.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zurückzuweisen. Die Entscheidung des [X.] ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das [X.] hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen.

1. Für die Klage fehlt wegen des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [X.] das Rechtsschutzbedürfnis. Die Klage war daher wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung von Beginn an unzulässig.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Steuerbescheid in dem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, diese Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim [X.] anhängig ist (vgl. u.a. [X.]-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, [X.]E 180, 217, [X.] 1996, 506, unter [X.]; [X.]-Urteil vom 16.02.2005 - VI R 37/01, [X.]/NV 2005, 1323, unter [X.] und [X.]-Beschluss vom 30.11.2007 - III B 26/07, [X.]/NV 2008, 374, unter [X.], jeweils m.w.N.). Liegen diese Voraussetzungen vor, muss ein Steuerpflichtiger im Allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden. Eine weitere verfassungsrechtliche Klärung in eigener Sache kann der Steuerpflichtige gegebenenfalls später durch Rechtsbehelfe gegen die vom [X.] nach § 165 Abs. 2 Satz 2 [X.] zu treffende Entscheidung herbeiführen, wenn ihm nach Ausgang des [X.] die Streitfrage nicht ausreichend beantwortet erscheint ([X.]-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, [X.]E 180, 217, [X.] 1996, 506, unter [X.]).

Bei verfassungsrechtlichen Streitfragen fehlt das Rechtsschutzbedürfnis erst, wenn das Musterverfahren bereits beim [X.] anhängig ist. Andernfalls wäre unsicher, ob es überhaupt zu einer Klärung der Rechtsfrage durch das [X.] kommen wird (vgl. [X.]-Urteil vom 06.10.1995 - III R 52/90, [X.]E 178, 559, [X.] 1996, 20, unter [X.]). Klage- und Musterverfahren müssen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleichgelagert sein. In dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche möglicherweise sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Klage- und Musterverfahren müssen zudem dieselben Vorschriften, nicht aber notwendig das gleiche Streitjahr, betreffen (vgl. [X.]-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, [X.]E 180, 217, [X.] 1996, 506, unter [X.], m.w.N.). Notwendig ist allein, dass sich das Klageverfahren durch die Entscheidung in dem bereits anhängigen verfassungsrechtlichen Musterverfahren "sicher" erledigen lässt (vgl. [X.]-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, [X.]E 180, 217, [X.] 1996, 506, unter II.2.; [X.], [X.]-Steuerberater 2021, 25, 27).

Voraussetzung nach der oben genannten Rechtsprechung ist, dass das Musterverfahren nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Die Anforderungen für die Annahme eines nicht von vornherein aussichtslosen [X.], das beim [X.] anhängig ist, dürfen nicht überspannt werden (vgl. [X.]/[X.], Abgabenordnung, 4. Aufl., § 165 Rz 25). Die in dem Musterverfahren geltend gemachten Argumente dürfen nicht so wenig Gewicht haben, dass dem Verfahren von vornherein eine Erfolgsaussicht abzusprechen ist (vgl. [X.]-Beschluss vom 07.02.1992 - III B 24, 25/91, [X.]E 166, 418, [X.] 1992, 408, unter 3.d). Insbesondere kommt es nach dem Wortlaut des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [X.] nicht darauf an, ob und in welchem Umfang das Musterverfahren letztlich Erfolg haben wird.

Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden, die es rechtfertigen, trotz Anhängigkeit des [X.] Rechtsschutz gegen den im Streitpunkt für vorläufig erklärten Bescheid zu gewähren (vgl. [X.]-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, [X.]E 180, 217, [X.] 1996, 506, unter [X.]; [X.]-Urteil vom 16.02.2005 - VI R 37/01, [X.]/NV 2005, 1323, unter [X.] und [X.]-Beschluss vom 30.11.2007 - III B 26/07, [X.]/NV 2008, 374, unter [X.]). Ein Rechtsschutzbedürfnis kann bei vorläufiger Steuerfestsetzung unter anderem bestehen, wenn der Steuerpflichtige aus berechtigtem Interesse ein weiteres Verfahren einleiten will, weil er zum Beispiel bisher in den Musterverfahren nicht geltend gemachte Gründe substantiiert vorträgt und diese an das [X.] oder den Gerichtshof der Europäischen Union herantragen möchte (vgl. [X.]-Urteile vom 30.09.2010 - III R 39/08, [X.]E 231, 7, [X.] 2011, 11, Rz 50 und vom 16.02.2011 - X R 10/10, Rz 11). Dem Steuerpflichtigen darf dann nicht die Möglichkeit abgeschnitten werden, die verfassungsrechtlichen Bedenken in einem eigenen Verfahren zu verfolgen ([X.] in Tipke/[X.], § 165 [X.] Rz 18; [X.], [X.] Steuer-Zeitung [X.] 1996, 1, 4).

b) Daran gemessen fehlte der Klägerin von Beginn des Klageverfahrens an das Rechtsschutzbedürfnis für ihr Begehren. Es ist der Klägerin zuzumuten, aufgrund des bestehenden Vorläufigkeitsvermerks den Ausgang des beim [X.] anhängigen Verfahrens 2 BvR 1505/20 abzuwarten.

Im Zeitpunkt der Klageerhebung war vor dem [X.] hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 das Verfahren 2 BvR 1505/20 anhängig. Dieses Verfahren war unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 [X.]. Art. 106 GG, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingeleitet worden. Die Klägerin beruft sich in ihrem Klageverfahren auf dieselben verfassungsrechtlichen Vorschriften wie in dem [X.]-Verfahren 2 BvR 1505/20. Auch sind dieselben Normen des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 streitig.

Die Klägerin hat im Klageverfahren keinen zusätzlichen Gesichtspunkt geltend gemacht, der im [X.]-Verfahren 2 BvR 1505/20 keine Rolle spielt. Ungeachtet der Frage, ob die Begründung der Klägerin sich mit Blick auf die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 als erfolgversprechend darstellt, hatte sie sich in ihrer Klage auf keinen weiteren Gesichtspunkt berufen, für den das anhängige Verfahren beim [X.] nicht vorgreiflich ist.

Welche Erfolgsaussichten das beim [X.] anhängige (Muster-)Verfahren 2 BvR 1505/20 hat, muss der erkennende Senat nicht entscheiden. Das Verfahren erscheint --trotz der möglicherweise fehlenden Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 [X.]G)-- jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos und damit als Musterverfahren im Rahmen eines Vorläufigkeitsvermerks ungeeignet (vgl. zur Aufnahme in den Vorläufigkeitskatalog das BMF-Schreiben vom 15.01.2018, [X.], 2 [X.]. BMF-Schreiben vom 04.01.2021, BStBl I 2021, 49). Insbesondere besitzen die in der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Gründe, warum die Verfassungsbeschwerde trotz fehlender Rechtswegerschöpfung zulässig sein soll, nicht so wenig Gewicht, dass dem Verfahren von vornherein jede Erfolgsaussicht abzusprechen wäre.

Dieses Ergebnis verletzt auch nicht das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) für das Begehren der Klägerin. Die Klägerin erleidet auch dann keine unzumutbaren Rechtsnachteile, wenn die materiell-rechtliche Frage in dem [X.]-Musterverfahren 2 BvR 1505/20 nicht geklärt werden sollte. Die Klägerin kann nach Erledigung des [X.] gemäß § 165 Abs. 2 Satz 4 [X.] beantragen, dass die Festsetzung des Solidaritätszuschlags für endgültig erklärt wird, und gegen die dann auch insoweit endgültige Festsetzung Einspruch einlegen und gegebenenfalls anschließend Klage erheben zur weiteren verfassungsrechtlichen Klärung, ohne dass dem § 351 Abs. 1 [X.] entgegensteht (vgl. [X.]-Urteil vom 30.09.2010 - III R 39/08, [X.]E 231, 7, [X.] 2011, 11, Rz 51; [X.] in Tipke/[X.], § 165 [X.] Rz 54; [X.]/[X.], [X.], 16. Aufl., § 165 Rz 32 und 85; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 165 [X.] Rz 155; [X.], [X.], 1, 3). Erklärt das [X.] die vorläufige Festsetzung des Solidaritätszuschlags für endgültig oder entfällt der Vorläufigkeitsvermerk in einem geänderten Bescheid, sind ebenfalls Einspruch und gegebenenfalls Klage möglich. Die dadurch entstehende zeitliche Verzögerung ist hinzunehmen (vgl. [X.]-Beschluss vom 09.08.1994 - X B 26/94, [X.]E 174, 498, [X.] 1994, 803, unter II.2.d; kritisch mit Blick auf die langen Verfahrensdauern beim [X.] Steinhauff, Steuerrecht kurzgefasst 2011, 139, 141).

2. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX R 16/22

26.09.2023

Bundesfinanzhof 9. Senat

Urteil

vorgehend FG München, 12. Oktober 2022, Az: 2 K 330/22, Gerichtsbescheid

Art 3 Abs 1 GG, Art 106 Abs 1 Nr 6 GG, § 165 Abs 1 S 2 Nr 3 AO, § 1 Abs 1 SolZG 1995, § 3 SolZG 1995, § 4 SolZG 1995

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 26.09.2023, Az. IX R 16/22 (REWIS RS 2023, 7135)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 7135


Verfahrensgang

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Az. 2 K 330/22

FG München, 2 K 330/22, 12.10.2022.


Az. IX R 16/22

Bundesfinanzhof, IX R 16/22, 26.09.2023.


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