Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.08.2016, Az. 2 StR 195/16

2. Strafsenat | REWIS RS 2016, 7247

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Gegenstand

Strafverfahren wegen versuchten Totschlags: Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose des Tatrichters bei Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen einer Wahnerkrankung


Tenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 22. Februar 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagte freigesprochen und ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision der Angeklagten mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

[X.]

2

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Die Angeklagte leidet unter einer [X.] Schizophrenie. Nach der Eheschließung mit     D.     und der Errichtung eines Wohnhauses in    C.    zog sie sich zurück und hielt sich fast nur noch im Haus auf. Zunehmend erzählte sie darüber, dass sie von ihrem früheren Freund misshandelt worden sei. Sie dehnte ihre Berichte über Misshandlungen auch auf Familienangehörige aus. Schließlich entwickelte sie die Vorstellung, ihr Ehemann sei mit einer anderen [X.] Frau verheiratet. Alle Personen in ihrem Umfeld hätten sich gegen sie verschworen, weil [X.], der über viel Geld verfüge, diese bezahle, damit sie einen Racheplan gegen sie verfolgten. Nachdem die Angeklagte das Ansinnen ihres Ehemanns, einen Therapeuten aufzusuchen, abgelehnt hatte, beschloss er, sich von ihr zu trennen. Am Abend des 20. August 2015 verlangte die Angeklagte von ihrem Ehemann, dass er ihr Tabletten besorge, damit sie sich töten könne. Er ging jedoch nicht darauf ein.

4

Am nächsten Morgen fuhr     D.     zur Arbeit, bat aber seine Eltern, sich um die Angeklagte zu kümmern. Als die Angeklagte zunächst allein im Haus war, zerschlug sie Fenster und einen Spiegel. Danach rief sie ihren Ehemann an und erklärte, er sei bestimmt böse, weil sie die Fenster eingeschlagen habe.     D.     nahm dies jedoch nicht ernst. Gegen 13.15 Uhr erschienen die Schwiegereltern der Angeklagten, [X.]    und [X.]Di.     , als die Angeklagte vor der Haustür saß. Sie hatte ihre Sachen in [X.] verpackt und im Flur abgestellt; sie erklärte, sie habe „alles kaputt gemacht“. Nachdem die Schwiegereltern den von ihr angerichteten Sachschaden besichtigt hatten, riefen sie     D.     an, der sie darum bat, die Polizei zu rufen. Bei Eintreffen von Polizeibeamten, die den Vorgang aufnahmen, baten die Schwiegereltern darum, die Angeklagte in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen. Die Beamten lehnten dies ab, weil sich die Angeklagte zu dieser Zeit ruhig verhielt und scheinbar keinen Anlass für eine Unterbringung bot. Nachdem die Beamten das Haus verlassen hatten, lief die Angeklagte nervös herum und sagte immer wieder: „Das ist mein Haus“.

5

Als     D.     eintraf, befürchtete die Angeklagte, von ihm ins Gefängnis gebracht zu werden. Er versuchte sie zu beruhigen. Sie wich ihm aus und lief von der Küche ins Wohnzimmer, von dort in den Flur.     D.     folgte ihr. Sie nahm aus einer Tasche ein Küchenmesser und versetzte ihrem Ehemann einen Stich in die Brust. Als er sich umdrehte, stach sie ihn auch in den Rücken.     D.     konnte die Angeklagte kurz darauf im Wohnzimmer auf eine Couch drücken und festhalten. Sein Vater [X.]Di.     beteiligte sich daran. Die Angeklagte schlug und trat jedoch heftig um sich. Dabei versetzte sie [X.]Di.    einen Messerstich in den Oberschenkel, bevor es [X.]    Di.    gelang, ihr das Messer zu entwinden.

6

2. Das [X.] hat angenommen, die Angeklagte habe bei der Ausführung der Messerstiche gegen ihren Ehemann mit natürlichem Tötungsvorsatz gehandelt, „was aus der Gedankenwelt und der Art der Stichführung folgt“. Die Angeklagte sei dabei zumindest nicht ausschließbar unfähig gewesen, das Unrecht der Tat einzusehen. Gleiches gelte für eine nach Ansicht des [X.]s tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung zum Nachteil von [X.]Di.    .

7

3. Das [X.] hat die Voraussetzungen für eine Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB bejaht. Sie habe im Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit eine erhebliche Straftat begangen. Die Gesamtwürdigung aller Umstände ergebe, dass künftig erhebliche rechtswidrige Taten von ihr zu erwarten seien und sie deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Aus dem Vorliegen der Wahnerkrankung ergebe sich ein erhöhtes Risiko für Gewaltdelikte. Dieses Risiko sei bei [X.] drei- bis zehnmal so hoch wie bei psychisch gesunden Menschen. Der Angeklagten fehle die Krankheitseinsicht. Sie habe außerhalb eines psychiatrischen Krankenhauses keine „Compliance“. Ein [X.] Empfangsraum sei nicht vorhanden, nachdem sich der Ehemann von ihr distanziert habe. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Gewaltdelikte sei mittelgradig bis hoch.

I[X.]

8

1. Die in der [X.] erklärte Beschränkung der Revision auf die [X.] mit Ausnahme der Feststellungen zur rechtswidrigen Tat ist unwirksam, weil sowohl die Unterbringung nach § 63 StGB als auch der auf § 20 StGB gründende Freispruch von den Feststellungen zur [X.] abhängen. Deshalb besteht zwischen beiden Entscheidungen aus sachlich-rechtlichen Gründen ein untrennbarer Zusammenhang (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Mai 2013 - 2 StR 29/13, [X.], 54).

9

2. Das Rechtsmittel der Angeklagten ist mit der Sachrüge begründet.

a) Die Urteilsgründe zur subjektiven Tatseite sind lückenhaft.

Das [X.] hat nicht näher erläutert, inwieweit sich die Wahnvorstellungen der Angeklagten aus ihrer „Gedankenwelt“ auf ihren Tötungsvorsatz und die Einsicht in das Unrecht des Angriffs auf das Leben ihres Ehemanns ausgewirkt haben. Offen bleibt in den Urteilsgründen ferner, ob die Angeklagte bei dem Versuch, sich gegen das Festhalten durch Schläge und Tritte zu wehren, auch einen zumindest natürlichen Vorsatz zu einer - nach Ansicht des [X.]s tateinheitlich begangenen - gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zum Nachteil von [X.]Di.    gehabt oder insoweit fahrlässig gehandelt hat.

b) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet auch die Annahme des [X.]s, es sei künftig mit erheblichen rechtswidrigen Taten der Angeklagten zu rechnen.

Die unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme. Sie darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.]en aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter oder die Täterin werde infolge des fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit, des [X.] und der [X.] zu entwickeln. Dem tragen die Urteilsgründe des [X.]s nicht ausreichend Rechnung.

Der Hinweis des [X.]s auf ein allgemein erhöhtes Risiko von Gewaltdelikten durch Personen, die unter einer Wahnerkrankung leiden, ist für sich genommen zutreffend, er wird aber dem Einzelfall nicht gerecht. Die Tatsache fehlender Krankheitseinsicht der Angeklagten und mangelnder Unterstützung außerhalb eines psychiatrischen Krankenhauses lässt selbst im Hinblick auf ihre gefährlichen Handlungen bei der [X.] ebenfalls noch nicht den Schluss zu, sie werde künftig ähnliche rechtswidrige Taten begehen. Bei der Prognose muss nämlich in der Gesamtschau die konkrete Situation der Angeklagten zur Zeit der [X.] berücksichtigt werden. Der Ehemann hatte ihr seinen Trennungswunsch offenbart; sie sollte das in seinem Alleineigentum stehende Haus, auf das sie nach ihrer Vorstellung auch Anrechte besaß, verlassen und hatte ihre Sachen gepackt. Die Schwiegereltern hatten auf Bitte des Ehemanns die Polizei gerufen, und alle hatten sich damit aus der Sicht der Angeklagten gegen sie gewandt. Sie hatte Angst von der Polizei festgenommen und in eine Justizvollzugsanstalt verbracht zu werden. Sie war danach ohne Unterstützung. Nachdem inzwischen die Trennung der Eheleute vollzogen ist, bleibt im Rahmen der Zukunftsprognose zu erwägen, ob auch unter den veränderten Umständen mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades weitere Gewalthandlungen der Angeklagten gegen dieselben oder andere Personen zu erwarten sind. Bei der Prognoseentscheidung ist schließlich zu berücksichtigen, dass trotz länger andauernder Erkrankung der Angeklagten vor und nach der [X.] von ihr keine rechtswidrigen Taten begangen wurden.

3. Der neue Tatrichter wird § 63 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 28. April 2016, das am 1. August 2016 in [X.] getreten ist (BGBl. [X.], S. 1610 ff.; vgl. Regierungsentwurf dazu in BT-Drucks. 18/7244; s.a. [X.] NJW 2016, 2298 ff.), zu prüfen haben (§ 2 Abs. 6 StGB). Er hat sich gegebenenfalls auch mit der bisher nicht erörterten Frage zu befassen, ob insbesondere nach Sicherstellung einer ausreichenden Medikation der Angeklagten und ihrer sonstigen Versorgung eine Aussetzung der Maßregelvollstreckung zur Bewährung gemäß § 67b Abs. 2 Satz 1 StGB in Frage kommt.

[X.]     

Appl     

     Eschelbach

Ott     

RiBGH [X.] ist wegen
Urlaubs an der Unterschrift
gehindert.

[X.]

Meta

2 StR 195/16

02.08.2016

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Limburg, 22. Februar 2016, Az: 3 Js 13029/15 - 2 Ks

§ 20 StGB, § 22 StGB, § 23 StGB, § 63 StGB, § 212 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.08.2016, Az. 2 StR 195/16 (REWIS RS 2016, 7247)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 7247

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 StR 195/16

5 Ws 28/23

Zitiert

2 StR 29/13

Zitieren mit Quelle:
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