Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 40/13

5. Senat | REWIS RS 2016, 6462

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Gegenstand

(Kindergeld: Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Im Wesentlichen Inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 23.08.2016 V R 19/15)


Leitsatz

1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612) .

2. NV: Bei mehreren Berechtigten (Eltern) ist das Kindergeld an denjenigen zu zahlen, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, auch wenn die Berechtigten zivilrechtlich etwas anderes vereinbart haben. Durch zivilrechtliche Vereinbarungen, auch wenn sie durch gerichtlichen Vergleich bestätigt werden, kann § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht außer Kraft gesetzt werden (Bestätigung der Rechtsprechung) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 28. August 2013 12 K 1212/11 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] [X.]taatsbürger, der in der [X.] ([X.]) lebt und selbständig tätig ist. [X.]ein 2004 geborener [X.] lebt im Haushalt der nicht mit dem Kläger verheirateten Kindsmutter in [X.] und ist pflegebedürftig. Die Kindsmutter ist [X.] [X.]taatsangehörige. [X.]ie war bis einschließlich August 2010 [X.] tätig. Im [X.]eptember 2010 wurde ihr nach kurzer Arbeitslosigkeit Pflegegeld für die Betreuung des Kindes zuerkannt. [X.]ie erhält zudem [X.] Familienleistungen.

2

Nachdem die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) für [X.] zunächst sog. Differenzkindergeld in Höhe des [X.] zwischen deutschem und [X.]m Kindergeld festgesetzt hatte, hob sie die Festsetzung mit Bescheid vom [X.]eptember 2010 mit Wirkung ab Mai 2010 auf, da die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Den dagegen eingelegten Einspruch des [X.] wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das [X.] ([X.]) mit dem in Entscheidungen der [X.]e (E[X.]) 2014, 2026 abgedruckten Urteil überwiegend statt. Es verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung von Differenzkindergeld in näher [X.] für den Zeitraum Mai 2010 bis einschließlich März 2011 und wies die Klage insoweit ab, als sie auf einen höheren Betrag gerichtet war. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.

3

Der [X.]enat hat das Verfahren mit Beschluss vom 23. [X.]eptember 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) in der Rechtssache [X.] [X.]/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des [X.]-Urteils [X.] vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, Deutsches [X.]teuerrecht/Entscheidungsdienst --D[X.]tRE-- 2015, 1501) hat der [X.]enat das Verfahren wiederaufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem [X.]-Urteil zu äußern. Beide Beteiligten sind der Auffassung, der [X.] habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.

4

Die Familienkasse beantragt,
das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Nach den Feststellungen des [X.] habe die Kindsmutter weder einen Wohnsitz noch einen ständigen Aufenthalt im Inland. Ihr stehe daher kein Kindergeld zu. Zudem habe er, der Kläger, sich vor dem [X.] ([X.]) dazu verpflichtet, das Kindergeld an die Kindsmutter weiterzuleiten.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des [X.] und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 [X.]atz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das [X.] verletzt § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im [X.]treitjahr geltenden Fassung (E[X.]tG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.

8

1. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in [X.] lebt und Vater eines [X.] ist, der seinen Wohnsitz in [X.] hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 1, [X.]atz 3 E[X.]tG) und für den ein Anspruch auf Kindergeld besteht (§ 32 Abs. 3 E[X.]tG).

9

Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt.

a) Nach § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Eine Person hat nach Art. 67 [X.]atz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit (VO Nr. 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: [X.] gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. [X.]eptember 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit (VO Nr. 987/2009) die [X.]ituation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: [X.]) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil [X.], [X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501).

Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in [X.], sondern dem im [X.]-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen Urteil des [X.] --BFH-- vom 4. Februar 2016 III R 17/13, [X.], 134, [X.], 612).

c) [X.]o verhält es sich im [X.]treitfall: [X.] lebt im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger gemäß § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich der Kläger, wie er geltend macht, zur Weiterleitung des Kindergeldes verpflichtet hat. Bei mehreren Berechtigten (Eltern) ist das Kindergeld an denjenigen zu zahlen, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, auch wenn die Berechtigten zivilrechtlich etwas anderes vereinbart haben ([X.] vom 10. November 1998 VI B 125/98, [X.], 477, B[X.]tBl II 1999, 137). Durch zivilrechtliche Vereinbarungen, auch wenn sie durch gerichtlichen Vergleich bestätigt werden, kann § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG nicht außer [X.] gesetzt werden (BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 64/00, [X.] 2002, 1425, unter II.3.).

2. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Meta

V R 40/13

23.08.2016

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend FG Köln, 28. August 2013, Az: 12 K 1212/11, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 67 S 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 40/13 (REWIS RS 2016, 6462)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 6462

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