Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.07.2016, Az. III R 11/13

3. Senat | REWIS RS 2016, 8599

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Gegenstand

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


Leitsatz

1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFH/NV 2016, 1514) .

2. Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 1. Februar 2013 4 K 997/12 Kg aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ruandischer Staatsangehöriger und lebt in der [X.] ([X.]). Er ist anerkannter Flüchtling i.S. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 ([X.] 1953, 560) und im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis. Der Kläger ist seit Mai 2011 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, seit November 2011 unbefristet.

2

Der Kläger erkannte mit notarieller Urkunde vom 17. Oktober 2011 die Vaterschaft der im Oktober 2011 in [X.] geborenen [X.] an, die bei der Kindsmutter in [X.] lebt. Die Kindsmutter bezieht seit der Geburt Kindergeld in [X.] in Höhe von monatlich 86,77 €.

3

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit [X.] vom 5. Dezember 2011 den Antrag des [X.] auf Festsetzung von Kindergeld für [X.] ab. Zur Begründung führte die Familienkasse aus, die Kindsmutter habe [X.] in ihren Haushalt aufgenommen. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 21. Februar 2012).

4

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger [X.] für [X.] in Höhe von monatlich 97,23 €. Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (E[X.]) 2013, 709 veröffentlichten Urteil statt. Es verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung des beantragten [X.]es für den Zeitraum Oktober 2011 bis Februar 2012.

5

Mit der vom [X.] zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts. Bei der Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts sei nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. [X.] 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. [X.] 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 ([X.] zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit dem Kind in [X.] lebt. Die Kindsmutter sei somit gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.

6

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des [X.] Münster vom 1. Februar 2013  4 K 997/12 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Mit Beschluss vom 12. Januar 2015 hat der [X.] das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 angeordnet. Der [X.] hat mit Urteil [X.] vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 über die Vorla-gefragen entschieden ([X.]:C:2015:720, [X.] --DStRE-- 2015, 1501).

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Das [X.] hat seinem Urteil zu Unrecht die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Kindsmutter komme mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts in [X.] nicht in Betracht. Es ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt ist (dazu 1.). Die Kindsmutter könnte aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt sein, da sie [X.] in ihren Haushalt aufgenommen hat und nach Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird (dazu 2. bis 4.). Die Sache ist jedoch nicht spruchreif, da der [X.] nicht abschließend beurteilen kann, ob auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Kindsmutter erfüllt sind (dazu 5.).

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den [X.] bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt. Unerheblich ist, dass [X.] ihren Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Die Kindsmutter könnte allerdings nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG für den Fall, dass sie eine freizügigkeitsberechtigte [X.] ist oder die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG vorliegen, vorrangig anspruchsberechtigt sein. Denn gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ist zu unterstellen, dass sie mit [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter könnte sich im Streitfall aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der [X.] 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert.

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist Flüchtling i.S. des Art. 1 Buchst. g der VO Nr. 883/2004 und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine Beschäftigung in [X.] ausgeübt hat, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur weiteren Begründung wird insoweit zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des [X.]surteils vom 28. April 2016 III R 68/13 ([X.], 1514, unter [X.], m.w.N.) Bezug genommen.

5. Die Sache ist jedoch nicht spruchreif. Auf der Grundlage der vom [X.] festgestellten Tatsachen kann der [X.] nicht abschließend beurteilen, ob die Kindsmutter neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllt. Das [X.] hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter eine (nicht) freizügigkeitsberechtigte [X.] i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist. Die dazu erforderlichen Feststellungen sind im zweiten Rechtsgang nachzuholen.

6. Für den zweiten Rechtsgang weist der [X.] auf Folgendes hin:

a) Sollte die Kindsmutter eine freizügigkeitsberechtigte [X.] sein, folgte ein vorrangiger Anspruch des [X.] nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des [X.] unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt könnte sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Der Anspruch der Kindsmutter wäre demnach nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme der [X.] vorliegt.

Es käme auch nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf die Entscheidungsgründe des [X.]surteils in [X.], 1514 (unter [X.], m.w.N.) Bezug genommen.

b) Sollte die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] sein --worauf die bei der Gerichtsakte befindliche Geburtsurkunde hindeuten könnte (vgl. [X.]-Akte Bl. [X.], müsste sie für eine vorrangige Anspruchsberechtigung die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllen. Denn Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 schafft eine gesetzliche Fiktion nur dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten ([X.]surteil in [X.], 1514, unter [X.]a). Wie auch aus dem EuGH-Urteil in [X.], 1501, Rz 39, 41 hervorgeht, kann diese Fiktion einen Anspruch auf Familienleistungen des in dem anderen [X.] lebenden Familienangehörigen aber nur dann begründen, wenn "alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind".

7. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 11/13

07.07.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 1. Februar 2013, Az: 4 K 997/12 Kg, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 62 Abs 2 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst g EGV 883/2004, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.07.2016, Az. III R 11/13 (REWIS RS 2016, 8599)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8599

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