Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 19/15

5. Senat | REWIS RS 2016, 6434

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Gegenstand

Kindergeld: Bevollmächtigung des nicht anspruchsberechtigten Elternteils durch den anspruchsberechtigten Elternteil zur Geltendmachung eines Kindergeldanspruchs


Leitsatz

1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612) .

2. Auch wenn der anspruchsberechtigte Elternteil den nicht anspruchsberechtigten Elternteil bevollmächtigt, den Kindergeldanspruch geltend zu machen, wird Kindergeld nicht gegenüber dem Bevollmächtigten, sondern nur gegenüber dem anspruchsberechtigten Elternteil festgesetzt .

3. Bei mehreren Berechtigten (Eltern) ist das Kindergeld an denjenigen zu zahlen, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, auch wenn die Berechtigten zivilrechtlich etwas anderes vereinbart haben. Durch zivilrechtliche Vereinbarungen, auch wenn sie durch gerichtlichen Vergleich bestätigt werden, kann § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht außer Kraft gesetzt werden (Bestätigung der Rechtsprechung) .

4. Die Abtretung erfasst nicht die gesamte Rechtsstellung des Kindergeldberechtigten. Übertragen werden kann nur der Zahlungsanspruch im Auszahlungsverfahren, nicht die Antragsberechtigung im Festsetzungsverfahren (vgl. BFH-Rechtsprechung) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 22. April 2015  10 K 10044/12 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] Staatsbürger, der in der [X.] ([X.]) lebt und Leistungen nach dem [X.] ([X.]) bezieht. Seine 2007 geborene Tochter [X.] lebt im Haushalt der von dem Kläger dauernd getrennt lebenden Kindsmutter in [X.]. Die Kindsmutter ist [X.] Staatsangehörige und war im Streitzeitraum nicht erwerbstätig.

2

Nachdem die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (die Familienkasse) zunächst Kindergeld für [X.] festgesetzt hatte, hob sie die Festsetzung mit Bescheid vom Dezember 2011 ab Januar 2012 auf, da die Kindsmutter einen vorrangigen [X.]nspruch auf Kindergeld habe. Den dagegen eingelegten Einspruch des [X.] wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom Februar 2012 zurück. Der Kläger erhob daraufhin Klage. Im Juni 2012 legte er ein Schreiben der Kindsmutter vor, in dem sie den Kläger bevollmächtigte, sämtliche [X.]nträge und Handlungen für sie und [X.] vorzunehmen, dass weiterhin Kindergeld gewährt würde. Mit Urteil vom 22. [X.]pril 2015  10 K 10044/12 gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.

3

Nach Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ([X.]) [X.] vom 22. Oktober 2015 [X.]/14, ([X.]:[X.], 720, [X.] Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) hat der Senat den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem [X.]-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der [X.]uffassung, der [X.] habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.

4

Die Familienkasse beantragt,
das [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Er verweist auf das Schreiben der Kindsmutter vom Juni 2012 und ein inhaltsgleiches Schreiben vom Mai 2015.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des [X.] und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das [X.] verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.

8

1. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in [X.] lebt und Vater einer Tochter ist, die ihren Wohnsitz in [X.] hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht (§ 32 Abs. 3 EStG). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass der Kläger Leistungen nach [X.] bezieht (vgl. BFH-Urteile vom 28. April 2016 III R 40/12, III R 50/12 und [X.], juris).

9

Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt.

a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit ([X.] 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier [X.] gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. c und e der [X.] 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der [X.] 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 ([X.] 987/2009) des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: [X.]) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil [X.], [X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501).

Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in [X.], sondern dem im [X.]-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, [X.], 134, [X.], 612).

c) So verhält es sich im Streitfall: A lebt im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Aus der von der Kindsmutter dem Kläger erteilten Vollmacht ergibt sich nichts anderes.

aa) Der Kläger dürfte aufgrund dieser Vollmacht zwar möglicherweise als Bevollmächtigter (§ 80 der Abgabenordnung --AO--) einen Kindergeldanspruch der Klägerin geltend machen. Darauf kommt es aber im Streitfall nicht an. Denn der Kläger hat Kindergeld nicht im Namen der Kindsmutter, sondern in eigenem Namen beantragt.

bb) Zu einem Antrag in eigenem Namen konnte ihn die Kindsmutter nicht wirksam ermächtigen.

(1) Bei mehreren Berechtigten (Eltern) ist das Kindergeld an denjenigen zu zahlen, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, auch wenn die Berechtigten zivilrechtlich etwas anderes vereinbart haben ([X.] vom 10. November 1998 VI B 125/98, [X.], 477, [X.] 1999, 137). Durch zivilrechtliche Vereinbarungen, auch wenn sie durch gerichtlichen Vergleich bestätigt werden, kann § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht außer [X.] gesetzt werden (BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 64/00, [X.] 2002, 1425, unter II.3.).

(2) Zwar kann der Anspruch auf Kindergeld als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) unter bestimmten Voraussetzungen abgetreten werden (vgl. § 46 AO). Die Abtretung erfasst indes nicht die gesamte Rechtsstellung des [X.]. Übertragen werden kann nur der Zahlungsanspruch im Auszahlungsverfahren, nicht die Antragsberechtigung im Festsetzungsverfahren (vgl. BFH-Urteile vom 21. März 1975 VI R 238/71, [X.], 413, [X.] 1975, 669, unter 2.; vom 18. August 1998 VII R 114/97, [X.], 1, [X.] 1999, 84, unter [X.]; vom 16. April 2013 VII R 44/12, [X.], 291, [X.] 2013, 778, Rz 16; [X.] vom 15. Dezember 2008 VII B 155/08, [X.] 2009, 715).

2. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Satz 2 FGO).

3. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Meta

V R 19/15

23.08.2016

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 22. April 2015, Az: 10 K 10044/12, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 46 AO, Art 67 S 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2012

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 19/15 (REWIS RS 2016, 6434)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 6434

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Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Elternteils


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