5. Senat | REWIS RS 2016, 6439
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Kindergeld: Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 23. April 2013 1 K 3282/12 aufgehoben.
Die Sache wird wegen des Kindergeldes für das Kind D an das [X.] zurückverwiesen.
Diesem wird insofern die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Insofern hat die Kosten des gesamten Verfahrens der Kläger zu tragen.
I. [X.]er Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] Staatsbürger, der in der [X.] ([X.]) lebt und [X.] tätig ist. Seine im April 1987 geborene Tochter [X.] studierte 2011 und 2012 in [X.] und unterhält dort einen eigenen Haushalt. Sein 1991 geborener [X.] lebte 2011 und 2012 in [X.] im Haushalt der vom Kläger dauernd getrennt lebenden Kindsmutter und besuchte dort eine Schule. [X.]ie Kindsmutter ist [X.] Staatsangehörige und [X.] tätig. [X.]ische Familienleistungen bezieht sie nicht.
[X.]ie Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte einen Antrag des [X.] auf Kindergeld für [X.] und V ab, da die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. [X.]en dagegen eingelegten Einspruch wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 19. September 2012 zurück. [X.]er daraufhin erhobenen Klage gab das [X.] ([X.]) mit dem in Entscheidungen der [X.]e (E[X.]) 2014, 1801 veröffentlichten Urteil statt. [X.]agegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
[X.]er Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 19. November 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) in der Rechtssache [X.], [X.]/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des [X.]-Urteils [X.] vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.]eutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --[X.]StRE-- 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem [X.]-Urteil zu äußern. [X.]ie Familienkasse ist der Auffassung, der [X.] habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
[X.]ie Familienkasse beantragt,
das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
[X.]er Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach den nationalen Regelungen habe nur er, der Kläger, einen Kindergeldanspruch, nicht aber die Kindsmutter, da sie weder einen Wohnsitz noch einen ständigen Aufenthalt im Inland habe. Aus dem Unionsrecht könne nichts anderes hergeleitet werden. [X.]essen Anwendung setze konkurrierende Ansprüche nach dem Recht mehrerer Mitgliedstaaten voraus, woran es im Streitfall fehle. [X.]er Kläger sieht seine Auffassung auch durch das [X.]-Urteil bestärkt.
II. [X.]ie Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des [X.] und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) hinsichtlich des Kindergeldes für das Kind [X.] sowie zur Zurückverweisung der Klage an das [X.] zur anderweitigen [X.]erhandlung und Entscheidung hinsichtlich des Kindergeldes für das Kind [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O). [X.]as [X.]-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). [X.]anach hat der Kläger keinen Anspruch auf Kindergeld für [X.] Es verletzt zudem § 64 Abs. 3 EStG, wonach sich der Anspruch auf Kindergeld für [X.] nach der Höhe der Unterhaltszahlungen an [X.] richtet. Insoweit bedarf es aber weiterer Feststellungen.
1. [X.]er Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in [X.]eutschland lebt und [X.]ater einer Tochter und eines [X.] ist, die ihren Wohnsitz in [X.] haben (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da sie eine Schule oder Hochschule besuchten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).
[X.]er Kläger hat aber für [X.] keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt. Über einen Anspruch auf Kindergeld für [X.] kann der Senat mangels hinreichender Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der [X.]erordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.]O Nr. 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 [X.]O Nr. 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j [X.]O Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: [X.]eutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a [X.]O Nr. 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. [X.]enn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 [X.]O Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.]erordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die [X.]urchführung der [X.]erordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.]O Nr. 987/2009) die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: [X.]eutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil [X.], [X.]:C:2015:720, [X.]StRE 2015, 1501).
[X.]iese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in [X.]eutschland, sondern dem im [X.]-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen Urteil des [X.] --BFH-- vom 4. Februar 2016 III R 17/13, [X.], 234, [X.], 612).
c) So verhält es sich im Streitfall hinsichtlich [X.]: er lebte im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Entgegen der Auffassung des [X.] ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 [X.]O Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 [X.]O Nr. 883/2004 anwendbar und setzt keine Konkurrenzsituation nach Art. 68 [X.]O Nr. 883/2004 voraus (EuGH-Urteil [X.], [X.]:C:2015:720, [X.]StRE 2015, 1501, Rz 35 ff.; BFH-Urteil vom 10. März 2016 III R 62/12, [X.], 236, [X.], 616, Rz 21).
d) Hinsichtlich [X.] ergibt sich nicht schon aus § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, dass die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt ist. [X.]a [X.] einen eigenen Haushalt innehatte, war sie nicht in den Haushalt der Kindsmutter aufgenommen.
[X.]er Anspruch auf Kindergeld für [X.] bestimmt sich vielmehr nach § 64 Abs. 3 EStG. Ist das Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen, erhält das Kindergeld grundsätzlich derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt (§ 64 Abs. 3 Satz 1 EStG). [X.]as [X.] hat bisher nicht festgestellt, ob und in welcher Höhe der Kläger und die Kindsmutter eine Unterhaltsrente an [X.] gezahlt haben. [X.]iese Feststellungen sind nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
2. [X.]ie Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und § 143 Abs. 2 [X.]O.
Meta
23.08.2016
Urteil
vorgehend FG Köln, 23. April 2013, Az: 1 K 3282/12, Urteil
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 67 S 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012
Zitiervorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.08.2016, Az. V R 31/14 (REWIS RS 2016, 6439)
Papierfundstellen: REWIS RS 2016, 6439
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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