Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.07.2016, Az. III R 46/14

3. Senat | REWIS RS 2016, 8602

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Gegenstand

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


Leitsatz

1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .

2. NV: Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein (Anschluss an Senatsurteil vom 7. Juli 2016 III R 11/13) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 13. November 2014 10 K 10241/11 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Der in der [X.] ([X.]) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater des im Dezember 1991 geborenen [X.] Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und war im streitigen [X.]raum (Mai 2010 bis August 2011) [X.] beschäftigt. [X.], der bei seiner Mutter in [X.] aufgewachsen ist, besuchte bis Juli 2010 ein College und studierte ab September 2010 an einer [X.] in [X.]. Einkünfte und Bezüge hatte [X.] im Streitzeitraum nicht.

2

Die Kindsmutter lebte in [X.] und war dort selbständig tätig. In [X.] bezog sie [X.]amilienleistungen für [X.] bis einschließlich September 2010.

3

Im März 2011 beantragte der Kläger erstmals Kindergeld für seinen Sohn [X.]. Die Beklagte und Revisionsklägerin ([X.]amilienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Juli 2011 für die [X.] ab Mai 2010 ab, da die in [X.] lebende Kindsmutter den Sohn [X.] in ihren Haushalt aufgenommen habe und somit vorrangig zum Bezug von Kindergeld berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011).

4

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für [X.] ab Mai 2010. Das [X.]inanzgericht ([X.]G) gab der Klage mit Urteil vom 13. November 2014  10 K 10241/11 zum Teil statt. Es war der Ansicht, dem Kläger stehe für seinen in [X.] lebenden Sohn [X.] für den Streitzeitraum Oktober 2010 bis August 2011 inländisches Kindergeld in voller Höhe und für den Streitzeitraum Mai 2010 bis September 2010 inländisches Differenzkindergeld zu. Im Übrigen wies es die Klage ab.

5

Mit der vom [X.]G zugelassenen Revision rügt die [X.]amilienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts. Bei der Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts sei nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen [X.]assung --VO Nr. 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur [X.]estlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen [X.]assung --VO Nr. 987/2009 ([X.] zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit dem Kind in [X.] lebe. Die Kindsmutter sei somit gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.

6

Die [X.]amilienkasse beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.]G Berlin-Brandenburg vom 13. November 2014   10 K 10241/11 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der [X.]inanzgerichtsordnung --[X.]O--).

9

Das [X.] hat seinem Urteil zu Unrecht die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Kindsmutter komme mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts in [X.] nicht in Betracht. Es ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt ist (dazu 1.). Die Kindsmutter könnte aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt sein, da nach Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird (dazu 2. bis 4.). Die Sache ist jedoch nicht spruchreif, da der [X.] nicht abschließend beurteilen kann, ob auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Kindsmutter erfüllt sind (dazu 5.).

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Buchst. b, Satz 2 EStG. Dies wurde --für den [X.] bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt. Unerheblich ist, dass [X.] seinen Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Die Kindsmutter könnte allerdings nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG für den [X.]all, dass sie [X.] in ihren Haushalt in [X.] aufgenommen hat und sie eine freizügigkeitsberechtigte [X.] ist oder die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG vorliegen, vorrangig anspruchsberechtigt sein. Denn gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ist zu unterstellen, dass sie in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter könnte sich im Streitfall aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der [X.] 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert.

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine [X.]amilienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine Beschäftigung in [X.] ausgeübt hat, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004).

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur weiteren Begründung verweist der [X.] zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe seines Urteils vom 28. April 2016 III R 68/13 (B[X.]HE 254, 20, [X.], 776, B[X.]H/NV 2016, 1514, Rz 19 ff., m.w.N.).

5. Die Sache ist jedoch nicht spruchreif. Auf der Grundlage der vom [X.] festgestellten Tatsachen kann der [X.] nicht abschließend beurteilen, ob die Kindsmutter neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllt. Das [X.] hat keine [X.]eststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter den Sohn [X.] im Streitzeitraum in ihren Haushalt in [X.] aufgenommen hat. Es hat auch keine [X.]eststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter eine (nicht) freizügigkeitsberechtigte [X.] i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist. Dem [X.] wird Gelegenheit gegeben, die erforderlichen [X.]eststellungen nachzuholen.

6. [X.]ür den zweiten Rechtsgang weist der [X.] auf [X.]olgendes hin:

a) Sollte die Kindsmutter eine freizügigkeitsberechtigte [X.] sein, hinge ihre vorrangige Anspruchsberechtigung im Wesentlichen davon ab, ob sie den Sohn [X.] im Streitzeitraum in ihren Haushalt in [X.] aufgenommen hat. In diesem [X.]all folgte ein vorrangiger Anspruch des [X.] nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den [X.]eststellungen des [X.] unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt könnte sich auch nicht aus der [X.]iktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ergeben.

[X.]ür einen vorrangigen Anspruch der Kindsmutter käme es auch nicht darauf an, ob diese selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat. Insoweit verweist der [X.] auf die Entscheidungsgründe seines Urteils in B[X.]H/NV 2016, 1514, Rz 27 f., m.w.N.

b) Sollte die Kindsmutter hingegen eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] sein --worauf die bei der Kindergeldakte befindliche Geburtsurkunde hindeuten könnte (vgl. [X.]. 115)--, müsste sie für eine vorrangige Anspruchsberechtigung neben der Aufnahme des [X.] in ihren Haushalt in [X.] die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllen. Denn Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 schafft eine gesetzliche [X.]iktion nur dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten [X.]amilie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der [X.]amilienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten ([X.]surteil in B[X.]H/NV 2016, 1514, Rz 20). Wie auch aus dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] [X.] vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501, Rz 39, 41) hervorgeht, kann diese [X.]iktion einen Anspruch auf [X.]amilienleistungen des in dem anderen [X.]-Mitgliedstaat lebenden [X.]amilienangehörigen aber nur dann begründen, wenn "alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind".

7. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 46/14

07.07.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 13. November 2014, Az: 10 K 10241/11, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 62 Abs 2 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2009, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.07.2016, Az. III R 46/14 (REWIS RS 2016, 8602)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8602

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