Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.04.2016, Az. X R 1/15

10. Senat | REWIS RS 2016, 12248

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

(Keine Verwirkung des Anspruchs auf Aussetzungszinsen trotz überlanger Dauer eines Einspruchs- oder Klageverfahrens - Anwendungsbereich der in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Gewährleistungen)


Leitsatz

1. Die überlange Dauer eines Einspruchs- oder Klageverfahrens steht der Festsetzung von Aussetzungszinsen für dieses Verfahren --auch unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung-- nicht entgegen .

2. Eine Entschädigungsklage nach §§ 198 ff. GVG kann nicht auf die überlange Dauer eines vor einer Finanzbehörde anhängigen Verfahrens gestützt werden. Dem Steuerpflichtigen stehen mit dem Untätigkeitseinspruch bzw. der Untätigkeitsklage hinreichende präventive Rechtsbehelfe gegen eine Verfahrensverzögerung zur Verfügung .

3. Der Anwendungsbereich der in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Gewährleistungen beschränkt sich auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine erhobene strafrechtliche Anklage. Steuerrechtliche Streitigkeiten im engeren Sinne werden von dieser Gewährleistung nicht erfasst .

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des [X.] vom 20. November 2014  4 K 4145/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin zu 1. (Klägerin zu 1.) und ihr [X.]hemann [X.] (im Folgenden gemeinsam auch: die [X.]heleute) wurden im Streitjahr 1991 zur [X.]inkommensteuer [X.]. [X.] ist während des Klageverfahrens verstorben; er wurde von der Klägerin zu 1. sowie dem gemeinsamen [X.] --dem Kläger und Revisionskläger zu 2. (Kläger zu 2.)-- beerbt.

2

[X.] erzielte u.a. als [X.]inzelunternehmer [X.]inkünfte aus Gewerbebetrieb. [X.] erwarb er von der Klägerin zu 1. ein Mietwohngrundstück, das er als Betriebsvermögen behandelte. Gleiches geschah mit einem im [X.] erworbenen weiteren Mietwohngrundstück. [X.]r ordnete jeweils 80 % der Anschaffungskosten den Gebäuden zu und nahm hierauf neben der linearen Absetzungen für Abnutzung Sonderabschreibungen nach dem [X.] in Höhe von 50 % der Anschaffungskosten vor.

3

Die [X.]inkommensteuer 1991 wurde wegen der Sonderabschreibungen auf das im Jahr 1991 erworbene Gebäude sowie eines [X.] aus dem [X.], der auf den Sonderabschreibungen auf das im [X.] erworbene Gebäude beruhte, zunächst auf 0 DM festgesetzt.

4

Vom 9. November 1995 bis zum 1. März 1996 fand bei [X.] eine Außenprüfung statt. Der Prüfer vertrat die Auffassung, die Aufteilung der Anschaffungskosten der [X.] sei dahingehend zu ändern, dass ein höherer Anteil auf den Grund und Boden entfalle. Im November 1996 reichte [X.] ein Sachverständigengutachten ein, das eine [X.]rmittlung des Aufteilungsmaßstabs enthielt, die sowohl von der des [X.] als auch von der des Prüfers abwich. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) bat [X.] am 30. Januar 1997 um weitere Auskünfte zur Ausstattung der Gebäude. [X.] reagierte hierauf trotz mehrfacher [X.]rinnerungen nicht.

5

Am 17. November 1997 erließ das [X.] einen geänderten [X.]inkommensteuerbescheid für 1991 und folgte darin dem Prüfer. Die Reduzierung der Sonderabschreibung für 1991 und des [X.] aus 1992 hatte zur Folge, dass die [X.]inkommensteuer auf 1.436.409 DM und der Solidaritätszuschlag zur [X.]inkommensteuer auf 70.100,10 DM festgesetzt wurde. Für das anschließende [X.]inspruchsverfahren gewährte das [X.] auf Antrag der [X.]heleute in vollem Umfang Aussetzung der Vollziehung (AdV).

6

Im Jahr 2001 beantragten die [X.]heleute, hinsichtlich des Aufteilungsmaßstabs die [X.]rgebnisse einer tatsächlichen Verständigung zu übernehmen, die eine von der Klägerin zu 1. beherrschte [X.] hinsichtlich eines benachbarten Grundstücks mit dem [X.] erzielt hatte. Das [X.] lehnte dies ab.

7

Mit der [X.]inspruchsentscheidung vom 24. Oktober 2006 setzte das [X.] die [X.]inkommensteuer wegen geringerer [X.] der Klägerin zu 1. auf 1.333.904 DM herab. Hinsichtlich der Aufteilung der Anschaffungskosten blieb der [X.]inspruch ohne [X.]rfolg.

8

Auch für das nachfolgende, am 20. November 2006 eingeleitete Klageverfahren gewährte das [X.] auf Antrag der [X.]heleute in vollem Umfang [X.] Durch Beweisbeschluss vom 25. November 2009 holte das Finanzgericht ([X.]) ein Sachverständigengutachten zur Aufteilung der Anschaffungskosten ein. Mit Urteil vom 7. Juni 2011 wies es die Klage in Bezug auf die [X.]inkommensteuer 1991 ab. Zur Begründung führte es aus, der gerichtliche Sachverständige habe sogar noch geringere [X.] als das [X.] ermittelt. Wegen des [X.] müsse es daher beim Ansatz des [X.] bleiben. Diese [X.]ntscheidung wurde rechtskräftig.

9

Mit dem im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheid vom 7. Dezember 2012 setzte das [X.] Aussetzungszinsen zur [X.]inkommensteuer 1991 in Höhe von 467.442 € und Aussetzungszinsen zum Solidaritätszuschlag zur [X.]inkommensteuer 1991 in Höhe von 23.355 € fest (insgesamt 490.797 €).

Im [X.]inspruchs- und Klageverfahren gegen diesen Bescheid machten die [X.]heleute geltend, wegen einer überlangen Dauer vor allem des Verwaltungs-, aber auch des Klageverfahrens sei der Zinsanspruch des [X.] verwirkt. Zur näheren Begründung beriefen sie sich auf den Beschluss des [X.] vom 17. Dezember 2010  6 V 1924/10 ([X.]ntscheidungen der Finanzgerichte --[X.][X.]-- 2011, 757, unter 2.2.2.) sowie die darin zitierten [X.]ntscheidungen des [X.]uropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ([X.]GMR).

Das [X.] wies die Klage ab. Die Voraussetzungen des § 237 der Abgabenordnung ([X.]) seien erfüllt. Die Festsetzung der Zinsen entspreche auch dem Zweck der genannten Norm. Der Zinsanspruch sei nicht verwirkt. [X.]s sei schon fraglich, ob die Verfahrensdauer als überlang anzusehen sei, da die [X.]heleute auf die Anfrage des [X.] nicht reagiert hätten. Jedenfalls habe eine eventuelle Überlänge des Verfahrens keine Auswirkungen auf einen materiellen Steueranspruch. Aus der Rechtsprechung des [X.]GMR ergebe sich nichts anderes. Vielmehr habe die [X.] die vom [X.]GMR entwickelten Grundsätze mittlerweile durch die in §§ 198 ff. des Gerichtsverfassungsgesetzes ([X.]) aufgenommenen Regelungen umgesetzt. Im Übrigen hätten die [X.]heleute die Dauer des Verwaltungsverfahrens durch [X.]rhebung einer Untätigkeitsklage abkürzen können. Die Höhe der gesetzlichen Zinsen sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verstöße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, den Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes und gegen Art. 6 Abs. 1 der [X.]uropäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ([X.]MRK). Schon der geänderte [X.]inkommensteuerbescheid sei erst mehr als ein Jahr und acht Monate nach [X.]nde der Außenprüfung ergangen. Das [X.]inspruchsverfahren habe dann fast neun Jahre, das Klageverfahren zur [X.]inkommensteuer nochmals über 4 1/2 Jahre gedauert. [X.]s habe in keinem Verfahrensabschnitt Schwierigkeiten gegeben, die eine derartige Verfahrensdauer gerechtfertigt hätten.

Die [X.]heleute hätten keine Möglichkeit mehr gehabt, Ansprüche nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen [X.]rmittlungsverfahren (ÜberlVfRSchG) vom 24. November 2011 ([X.], 2302) geltend zu machen, da der [X.] erst am 7. Dezember 2012 --und damit nach Ablauf der in Art. 23 Satz 6 ÜberlVfRSchG genannten Klagefrist (3. Juni 2012)-- ergangen sei.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

        

das angefochtene Urteil, die [X.]inspruchsentscheidung vom 21. Juli 2013 und den Bescheid über Aussetzungszinsen zur [X.]inkommensteuer 1991 und zum Solidaritätszuschlag zur [X.]inkommensteuer 1991 vom 7. Dezember 2012 aufzuheben.

Das [X.] beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

[X.]s verweist im Wesentlichen auf die [X.]ntscheidung der Vorinstanz.

Entscheidungsgründe

I[X.] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist auch der Bescheid über Aussetzungszinsen zum Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 1991. Im Streitfall hat das [X.] einen sog. Sammelbescheid erlassen, der zwei rechtlich selbständige Verwaltungsakte enthält (vgl. dazu auch [X.]surteil vom 26. November 2014 [X.], [X.], 785, Rz 28 ff.), nämlich den [X.] für die Einkommensteuer 1991 und den [X.] für den Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 1991.

Im Rubrum ihrer Klageschrift hatten die Eheleute korrekt beide angefochtenen Verwaltungsakte angegeben. Aus Gründen, die sich den Akten nicht entnehmen lassen, hat das [X.] in das Rubrum seiner Schriftsätze und seines Urteils aber nur den [X.] zur Einkommensteuer 1991 aufgenommen. Es steht aber fest, dass es über beide Verwaltungsakte des Sammelbescheids hat entscheiden wollen. Dies folgt u.a. daraus, dass es bereits im ersten Absatz seines [X.] ausführt, der Rechtsstreit betreffe "die Rechtmäßigkeit eines Bescheids über Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer sowie zum Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 1991". Ferner gibt es den Gesamtbetrag der im Sammelbescheid festgesetzten Aussetzungszinsen (490.797 €) an.

Die vom [X.] im Rubrum verwendete, den Streitgegenstand objektiv nicht ausschöpfende Bezeichnung "Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer 1991" findet sich dann auch in der Revisionsschrift wieder. Gleichwohl folgt aus dem Begehren der Kläger, den (gesamten) Bescheid vom 7. Dezember 2012 aufzuheben, dass ihr Rechtsmittel sich auf beide Verwaltungsakte bezieht, die in dem bezeichneten Sammelbescheid enthalten sind und über die das [X.] tatsächlich entschieden hat.

II[X.]

Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zurückzuweisen.

1. Zwischen den Beteiligten ist zu Recht nicht streitig, dass die einfach-gesetzlichen Voraussetzungen des § 237 [X.] erfüllt sind. Auch Einwendungen gegen die Berechnung oder Höhe der Zinsen sind weder von den Klägern geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich.

2. Problematisch ist vielmehr allein, ob eine --hier vom [X.] zwar nicht festgestellte, für das Revisionsverfahren aber zu unterstellende-- überlange Dauer eines Einspruchs- und/oder Klageverfahrens der Festsetzung von Aussetzungszinsen in der gesetzlichen Höhe entgegen steht.

a) Der [X.] ([X.]) hat bisher keine materiell-rechtlichen steuerlichen Folgen aus der Verfahrensdauer gezogen.

aa) Für die [X.] vor Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG hat der [X.] entschieden, dass Rechtsfolge der überlangen Dauer eines Verfahrens jedenfalls nicht der Wegfall des materiellen Steueranspruchs ist (ausführlich [X.]-Beschluss vom 13. September 1991 IV B 105/90, [X.]E 165, 469, [X.] 1992, 148; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch Beschluss des [X.] vom 25. Februar 1994  2 BvR 74, 75/92, [X.] --[X.]-- 1994, 552; nochmals [X.]-Beschluss vom 20. Mai 1994 XI B 63/93, [X.]/NV 1994, 605; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG-Beschluss vom 22. August 1994  2 BvR 1454/94). Insbesondere führt eine überlange Verfahrensdauer nicht zur Verwirkung desjenigen Steueranspruchs, der Gegenstand des verzögerten Verwaltungsverfahrens oder Rechtsstreits ist ([X.]-Urteile vom 13. Dezember 1995 XI R 43-45/89, [X.]E 179, 353, [X.] 1996, 232, unter [X.]; vom 21. März 1996 XI R 82/94, [X.]E 180, 316, [X.] 1996, 518, unter I[X.]B.4.; vom 16. Oktober 2002 XI R 41/99, [X.]E 200, 529, [X.] 2003, 179, unter I[X.]3., und vom 24. Oktober 2006 I R 90/05, [X.]/NV 2007, 849, unter II[X.]1.d).

Im Einzelfall können allerdings die Anforderungen an die Bildung der gerichtlichen Überzeugung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatsachen abzumildern sein, wenn eine überlange Verfahrensdauer dazu führt, dass ein Beweismittel verloren geht (z.B. Versterben eines hochbetagten, wichtigen Zeugen während des vom [X.] verzögert bearbeiteten Klageverfahrens). Eine --darüber hinausgehende-- Umkehr der Feststellungslast kann indes allenfalls in Betracht kommen, wenn sie auf ein vorwerfbares Verhalten des jeweils anderen Prozessbeteiligten zurückzuführen ist (grundlegend [X.]-Urteil vom 23. Februar 1999 IX R 19/98, [X.]E 188, 264, [X.] 1999, 407, unter 4.).

bb) In Bezug auf die Festsetzung von Zinsen gilt, dass der Grundsatz von [X.] und Glauben der Festsetzung von Nachzahlungszinsen (§ 233a [X.]) trotz schuldhaft verzögerter Bearbeitung einer Steuererklärung durch das [X.] jedenfalls dann nicht entgegen steht, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich einen Zinsvorteil hatte, der nicht geringer war als die vom [X.] festgesetzten Zinsen ([X.]-Urteil vom 8. September 1993 I R 30/93, [X.]E 172, 304, [X.] 1994, 81, unter I[X.]3.).

cc) Allein aus einer überlangen Dauer des außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens, das der Festsetzung von Aussetzungszinsen zugrunde liegt, folgt nicht, dass die Ablehnung eines Antrags auf Erlass der Aussetzungszinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen rechtsfehlerhaft wäre ([X.]-Urteil vom 21. Februar 1991 V R 105/84, [X.]E 163, 313, [X.] 1991, 498, unter I[X.]3.c bb; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG-Beschluss vom 29. Oktober 1993  2 BvR 693/91, [X.] 1994, 551; [X.]-Beschlüsse in [X.]E 165, 469, [X.] 1992, 148, unter [X.]2.d, und vom 19. Februar 1996 I B 86/95, [X.]/NV 1996, 725; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG-Beschluss vom 27. Februar 1997  1 BvR 1591/96). Später hat der [X.] entschieden, dass die Festsetzung von Nachzahlungszinsen unabhängig von der Höhe eines konkreten [X.] nicht unbillig ist, wenn der Steuerpflichtige die erwartete Nachzahlung durch einen Antrag auf nachträgliche Erhöhung der Vorauszahlungen hätte vermeiden können (Urteil vom 19. März 1997 I R 7/96, [X.]E 182, 293, [X.] 1997, 446).

b) Auch nach Ergehen der Verurteilungen der [X.] durch den [X.], die letztlich zum Erlass des ÜberlVfRSchG geführt haben, hat der [X.] an der dargestellten Rechtsprechung festgehalten, wonach eine überlange Verfahrensdauer nicht zur Verwirkung materieller [X.] führt (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 31. August 2011 I B 9/11, [X.]/NV 2011, 2011, Rz 14 ff., und vom 30. August 2012 X B 27/11, [X.]/NV 2013, 180, Rz 17, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG-Beschluss vom 21. Mai 2013  1 BvR 2473/12; [X.]-Beschluss vom 21. Oktober 2013 III B 147/12, [X.]/NV 2014, 358, Rz 3, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG-Beschluss vom 30. September 2015  2 BvR 1071/14; [X.]-Urteil vom 18. März 2014 VII R 12/13, [X.]/NV 2014, 1093, Rz 14; [X.]-Beschluss vom 21. Januar 2015 VIII B 112/13, [X.], 800, Rz 6; ebenso [X.] Münster, Urteil vom 27. August 2014  13 K 4136/11 E, E[X.] 2014, 2031, unter I[X.], Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch den nicht veröffentlichten [X.]-Beschluss vom 18. Februar 2015 IX B 117/14; [X.], E[X.] 2014, 2036).

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden [X.]s zu Entschädigungsklagen nach §§ 198 ff. [X.] erfassen diese Vorschriften die überlange Dauer behördlicher Verfahren nicht, weil insoweit seit jeher hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten (Untätigkeitseinspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 2 [X.] und Untätigkeitsklage nach § 46 [X.]O) bestehen ([X.]sentscheidungen vom 26. Juli 2012 [X.] (PKH), [X.]/NV 2012, 1822, und vom 19. März 2014 [X.], [X.]/NV 2014, 1053, Rz 28; vgl. auch den Regierungsentwurf zum ÜberlVfRSchG vom 17. November 2010, BTDrucks 17/3802, S. 17).

c) Den Klägern ist allerdings zuzugestehen, dass der [X.] in der von ihnen angeführten Entscheidung zur Dauer eines Disziplinarverfahrens, das nach der [X.] Disziplinarordnung ([X.]) durchgeführt worden war, die Verzögerung des vorgerichtlichen förmlichen Disziplinarverfahrens mit in die Prüfung einbezogen hat, ob Art. 6 Abs. 1 [X.] verletzt sei ([X.]-Urteil vom 16. Juli 2009  8453/04, Neue [X.]schrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 2010, 1015, Rz 44). Der [X.] hat in der genannten Entscheidung dem dortigen Kläger eine Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer zugesprochen, obwohl die [X.] in ihrem § 61 eine --mit § 46 [X.]O im [X.] Vorschrift enthielt, mit der der Beamte nach sechsmonatiger Dauer des Verwaltungsverfahrens eine gerichtliche Entscheidung erzwingen konnte, und der dortige Kläger von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hatte (vgl. [X.]-Urteil in NVwZ 2010, 1015, Rz 51).

Gleichwohl kann Art. 6 Abs. 1 [X.] im vorliegenden Verfahren nicht zugunsten der Kläger herangezogen werden. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich auf "Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage". Auch wenn der Begriff "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" in der Rechtsprechung des [X.] traditionell sehr weit ausgelegt wird, fallen steuerrechtliche Streitigkeiten (im engeren Sinne) nicht darunter. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung sowohl des [X.] (ausführlich Urteil vom 12. Juli 2001  44759/98 – [X.]/[X.], Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2002, 3453, Rz 20 ff.; für Zölle und Einfuhrabgaben auch [X.]-Entscheidung vom 13. Januar 2005  62023/00, Europäische Grundrechte-[X.]schrift 2005, 234) als auch des [X.] (Beschlüsse vom 21. Februar 2006 I B 32/05, [X.]/NV 2006, 1305, unter I[X.]2.; vom 22. Juli 2008 II B 18/08, [X.]/NV 2008, 1866, unter I[X.]3.b; vom 9. September 2008 VI B 72/07, unter [X.]; in [X.]/NV 2011, 2011, Rz 16; vom 18. März 2013 VII B 134/12, [X.]/NV 2013, 1102, und in [X.], 800, Rz 8). Soweit die Kläger anführen, das [X.]-Urteil in [X.], 3453 sei lediglich mit 11 : 6 Stimmen ergangen, so dass [X.] des [X.] diese Entscheidung für falsch gehalten haben (vgl. die in [X.], 3455 veröffentlichte abweichende Meinung von sechs Richtern) ändert dies nichts daran, dass es sich bei den dargestellten Grundsätzen um die Rechtsprechung des [X.] handelt. In seiner vorgenannten Entscheidung zu einem nach der [X.] geführten Disziplinarverfahren hat der [X.] die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 [X.] nur deshalb bejaht, weil es sich bei Streitigkeiten aus dem Beamtenverhältnis zugleich im weitesten Sinne um arbeitsrechtliche --und damit um zivilrechtliche-- Streitigkeiten handelt ([X.]-Urteil in NVwZ 2010, 1015, Rz 37 ff.).

Hingegen betraf das Ausgangsverfahren zum vorliegenden Rechtsstreit steuerrechtliche Ansprüche im engeren Sinne, da der Streit über die Höhe der Bemessungsgrundlage für einkommensteuerrechtliche Sonderabschreibungen auf Gebäude keinen Bezug zum Zivilrecht aufweist.

Den gegenteiligen --schon in dem [X.]sbeschluss in [X.]/NV 2013, 180 (Rz 13) zutreffend als weder tragend noch abschließend beurteilten-- Überlegungen des [X.] Rheinland-Pfalz in dem von den Klägern angeführten Beschluss in E[X.] 2011, 757 folgt der [X.] aus den genannten Gründen ausdrücklich nicht.

3. Die Kläger werden durch diese rechtliche Beurteilung nicht schutzlos gestellt.

a) Soweit sie sich auf die überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens berufen, hätten die Eheleute dieses durch Erhebung einer Untätigkeitsklage beschleunigen können. Das Vorbringen der Kläger, die Verantwortung für die Dauer des Verwaltungsverfahrens liege beim [X.], ist zwar im Grundsatz zutreffend. Dies schließt aber nicht aus, die Möglichkeiten zu nutzen, die das Gesetz für den Fall einer Untätigkeit des [X.] ausdrücklich eröffnet. Hätten die Eheleute von dem präventiven Rechtsbehelf des § 46 [X.]O Gebrauch gemacht, wäre zu erwarten gewesen, dass es gar nicht erst zu einer unangemessenen Dauer des Verwaltungsverfahrens --und damit zur Belastung mit Aussetzungszinsen für diesen Verfahrensabschnitt-- gekommen wäre.

b) Soweit die Kläger meinen, die Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens über den Einkommensteuerbescheid 1991 sei unangemessen lang gewesen, hätten die Eheleute die Möglichkeit gehabt, hiergegen Entschädigungsklage zu erheben. Das entsprechende [X.]-Urteil datiert vom 7. Juni 2011. Zwar ist das ÜberlVfRSchG erst am 3. Dezember 2011 in [X.] getreten. Nach seinem Art. 23 Satz 1 gilt es aber auch für abgeschlossene Verfahren, deren Dauer beim Inkrafttreten noch Gegenstand einer Beschwerde beim [X.] werden kann. Diese Regelung knüpft an die Sechs-Monats-Frist des Art. 35 Abs. 1 [X.] an, die ihrerseits mit der Rechtskraft der Entscheidung der nationalen Gerichte ("endgültige innerstaatliche Entscheidung") beginnt. Zwar ist nicht bekannt, wann das [X.]-Urteil über den Einkommensteuerbescheid 1991 rechtskräftig geworden oder den Eheleuten zugestellt worden ist (das [X.] hat die gewährte AdV zum 25. August 2011 beendet). Die Rechtskraft kann aber nicht früher als am 7. Juli 2011 (einen Monat nach der mündlichen Verhandlung) eingetreten sein. Innerhalb der --frühestens-- an diesem Tag beginnenden Sechs-Monats-Frist nach Art. 35 Abs. 1 [X.] ist das ÜberlVfRSchG in [X.] getreten. Die Eheleute hätten danach bis zum 3. Juni 2012 (Art. 23 Satz 6 ÜberlVfRSchG) Gelegenheit gehabt, eine Entschädigungsklage beim [X.] zu erheben.

Im Rahmen einer solchen Entschädigungsklage wären die Aussetzungszinsen, die für den [X.]raum angefallen sind, in dem das Verfahren als verzögert anzusehen gewesen wäre, als materieller Nachteil --nach Gegenrechnung ersparter Schuldzinsen oder erzielter [X.] entschädigungspflichtig gewesen (zutreffend [X.], [X.], 2173, 2177). In Übereinstimmung damit hat der [X.] bereits entschieden, dass Aufwendungen für eine Avalprovision, die dem Steuerpflichtigen zur Erbringung einer Sicherheitsleistung für die [X.] der AdV entstehen, als materieller Schaden ersatzfähig sind (Urteil vom 6. April 2016 [X.], unter I[X.]2.a).

Soweit die Kläger darauf verweisen, dass beim Ergehen des angefochtenen Bescheids über die Festsetzung der Aussetzungszinsen (7. Dezember 2012) der in Art. 23 Satz 6 ÜberlVfRSchG genannte Termin (3. Juni 2012) bereits verstrichen gewesen sei, führt dies nach Auffassung des [X.]s zu keinem anderen Ergebnis. Die Eheleute hätten ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, bereits wegen ihrer Nichtvermögensschäden bis zum 3. Juni 2012 eine Entschädigungsklage zu erheben. Nach Ergehen des [X.]s, mit dessen Erlass sie zwingend rechnen mussten, weil dem [X.] insoweit kein Ermessen eingeräumt ist, hätten sie denjenigen Zinsbetrag, der auf den [X.]raum entfällt, in dem das Verfahren als verzögert anzusehen gewesen wäre, im Wege der [X.] als materiellen Schaden --nach Gegenrechnung ersparter Schuldzinsen oder erzielter [X.] geltend machen können.

c) Mithin bietet das geltende Recht ausreichende Möglichkeiten, die Entstehung von Aussetzungszinsen für ein überlanges Verwaltungsverfahren von vornherein zu vermeiden (durch Erhebung einer Untätigkeitsklage) bzw. die Aussetzungszinsen für ein überlanges finanzgerichtliches Verfahren zu kompensieren (durch die Geltendmachung als materieller Schaden im Rahmen einer Entschädigungsklage). Daher besteht kein Bedarf für die von den Klägern begehrte Rechtsfortbildung dahingehend, in derartigen Fällen bereits die Festsetzung von Aussetzungszinsen als rechtswidrig anzusehen.

4. Der [X.] entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 [X.]O).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

X R 1/15

27.04.2016

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 20. November 2014, Az: 4 K 4145/13, Urteil

§ 237 AO, § 347 Abs 1 S 2 AO, § 46 FGO, § 198 GVG, Art 6 Abs 1 MRK, § 198ff GVG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.04.2016, Az. X R 1/15 (REWIS RS 2016, 12248)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 12248


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 1928/16

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 1928/16, 04.06.2018.


Az. X R 1/15

Bundesfinanzhof, X R 1/15, 27.04.2016.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

X R 18/13 (Bundesfinanzhof)

Inhaltliche Bestimmtheit von Zinsbescheiden - Festsetzungsfrist für Aussetzungszinsen


1 BvR 1928/16 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Subsidiaritätsgrundsatz gebietet Erhebung der Untätigkeitsklage gem § 46 FGO, bevor die überlange Dauer eines …


X K 9/13 (Bundesfinanzhof)

Unangemessene Verfahrensdauer bei 77-monatiger Dauer des finanzgerichtlichen Klageverfahrens; Präklusionswirkung der nicht "unverzüglich" erhobenen Verzögerungsrüge bei …


X B 144, 145/17, X B 144/17, X B 145/17 (Bundesfinanzhof)

Prozessführungsbefugnis eines von mehreren Miterben; Billigkeitserlass von Aussetzungszinsen vor Einführung der Vollverzinsung


X K 3/12 (Bundesfinanzhof)

Entschädigungsklage: Unangemessene Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens - Beschränkung des Rechtsfolgenausspruchs auf die Feststellung der Verzögerung …


Referenzen
Wird zitiert von

9 B 19/21

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.