Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 09.05.2023, Az. 1 B 9/23

1. Senat | REWIS RS 2023, 3577

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Gegenstand

Anhörungsrüge gegen eine Entscheidung nach § 130a VwGO


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des [X.] für das [X.] vom 10. Januar 2023 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1

Die auf einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte [X.]eschwerde hat keinen Erfolg.

2

1. Der von der [X.]eschwerde allein geltend gemachte Verfahrensmangel in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO), den sie darin begründet sieht, dass das [X.]erufungsgericht im [X.]eschlussverfahren gemäß § 130a VwGO entschieden hat, liegt nicht vor.

3

a. Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die [X.]erufung durch [X.]eschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das sich auf die [X.]egründetheit oder Unbegründetheit der [X.]erufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch [X.]eschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem [X.]erufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 17. Januar 2022 - 1 [X.] 95.21 - juris Rn. 11 m. w. N.). Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten [X.]erufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 17. Januar 2022 - 1 [X.] 95.21 - juris Rn. 12 m. w. N.).

4

b. Gemessen daran erweist sich die Durchführung des vereinfachten [X.]erufungsverfahrens nach § 130a VwGO durch das Oberverwaltungsgericht nicht als ermessensfehlerhaft.

5

aa) Das [X.]erufungsgericht hat die [X.]eteiligten zu seiner Absicht, durch [X.]eschluss nach § 130a VwGO zulasten des [X.] zu entscheiden, mit Verfügung vom 10. November 2022 vorab gehört. Dabei hat es auf seine am 25. August 2022 - 11 A 861/20.A. - und am 19. September 2022 - 11 A 200/20.A - ergangenen Entscheidungen [X.]ezug genommen, nach denen in [X.] nach den aktuellen Erkenntnismitteln derzeit nicht von einer Gefahrenlage für nicht vulnerable anerkannte Schutzberechtigte auszugehen ist, die zu einem Verstoß gegen Art. 4 [X.] bzw. Art. 3 [X.] führt.

6

Der Kläger hat innerhalb der gesetzten Äußerungsfrist mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2022 einer Entscheidung nach § 130a VwGO widersprochen und geltend gemacht, ihm drohten bei einer Rückführung nach [X.] Haft und illegale Push-[X.]acks nach [X.] durch die [X.] [X.]ehörden. Hierzu hat er [X.]eweis durch Einholung verschiedener Auskünfte angeboten.

7

(1) Hat das [X.]erufungsgericht eine Anhörung durchgeführt und stellt ein [X.]eteiligter einen [X.]eweisantrag, der in der mündlichen Verhandlung gemäß § 86 Abs. 2 VwGO beschieden werden müsste, wird das Gericht seiner Pflicht der Gewährung rechtlichen Gehörs in der Regel nur dadurch gerecht, dass es den [X.]eteiligten durch eine erneute Anhörungsmitteilung im Sinne des § 130a VwGO in Verbindung mit § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die unverändert beabsichtigte Entscheidung durch [X.]eschluss und damit darauf hinweist, dass es seinem [X.]eweisantrag nicht nachgehen werde (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 22. Juni 2007 - 10 [X.] 56.07 - juris Rn. 8 und vom 2. Mai 2018 - 6 [X.] 69.17 - [X.]uchholz 402.5 [X.] Nr. 112 Rn. 5). Von einer nochmaligen Anhörungsmitteilung kann allerdings abgesehen werden, wenn das neue Vorbringen des [X.]eschwerdeführers nicht den Anforderungen genügt, die erfüllt sein müssen, damit das [X.] gehalten ist, durch weitere Ermittlungen bzw. eine Vorabentscheidung darauf einzugehen ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 18. März 1992 - 5 [X.] 36.92 - [X.]uchholz 310 § 130a VwGO Nr. 4 S. 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen; er verpflichtet das Gericht nicht, Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen oder zu erörtern, auf die es aus seiner Sicht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt. Deshalb erübrigt sich eine erneute Anhörung beispielsweise, wenn das Vorbringen unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder früheren Vortrag lediglich wiederholt; entsprechendes gilt bei [X.]eweisanträgen ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 18. Juni 1996 - 9 [X.] 140.96 - [X.]uchholz 310 § 130a VwGO Nr. 16 S. 10). Maßgeblich für die [X.]eurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist hierbei die sachlich-rechtliche Auffassung des [X.]erufungsgerichts ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 22. Juni 2007 - 10 [X.] 56.07 - juris Rn. 9). Hält das [X.]erufungsgericht an einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 130a VwGO fest, ohne eine Vorabentscheidung über einen gestellten [X.]eweisantrag zu treffen, muss aus den Entscheidungsgründen seines [X.]eschlusses ersichtlich sein, dass es die Ausführungen des [X.]eteiligten zur Kenntnis genommen und seine [X.]eweisanträge vorher auf ihre Rechtserheblichkeit geprüft hat. Insoweit korrespondiert der Verzicht auf eine Vorabentscheidung über einen [X.]eweisantrag mit der Pflicht des [X.]erufungsgerichts, die Erheblichkeit der [X.]eweiserhebung vor der Entscheidung zu prüfen und sich in den Entscheidungsgründen damit auseinanderzusetzen ([X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 22. Juni 2007 - 10 [X.] 56.07 - juris Rn. 10 und vom 2. Mai 2018 - 6 [X.] 69.17 - [X.]uchholz 402.5 [X.] Nr. 112 Rn. 6).

8

Welche Anforderungen im Detail an das Vorbringen, das das [X.]erufungsgericht zu einer neuerlichen Anhörung zu einer Entscheidung durch [X.]eschluss nach § 130a VwGO oder zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung veranlassen muss, zu stellen sind, richtet sich nach dem jeweiligen Verfahrensstand. Sind neben Fragen des individuellen Verfolgungsschicksals auch - wie oftmals im Flüchtlingsrecht und so auch hier - fallübergreifend klärungsfähige Tatsachenfragen zu den allgemeinen Verhältnissen in einem Verfolgerstaat, einem Transitland oder einem Mitgliedstaat zu beurteilen, die in der Rechtsprechung des jeweiligen Gerichts bereits bewertet und in bestimmter Weise geklärt sind, reicht es regelmäßig nicht aus, dem Ergebnis dieser Klärung lediglich entgegenzutreten oder zu diesen Fragen [X.]eweisanträge zu stellen, wenn diese Rechtsprechung allgemein zugänglich oder auf sie in der Anhörung ausdrücklich hingewiesen worden ist. Erforderlich ist insoweit dann Vorbringen, das sich mit dieser [X.]ewertung erkennbar - jedenfalls in der Sache - auseinandersetzt und zumindest in Ansätzen darlegt, dass und aus welchen Gründen diese [X.]ewertung unzutreffend ist, sich weitergehender oder neuerlicher Klärungsbedarf ergibt oder sie wegen welcher auf die Person des Schutzsuchenden bezogener [X.]esonderheiten für diesen nicht zutrifft ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 22. März 2021 - 1 [X.] 4.21 - [X.]uchholz 310 § 130a VwGO Nr. 93 Rn. 13).

9

(2) Nach diesen Grundsätzen konnte das [X.]erufungsgericht verfahrensfehlerfrei ohne neuerliche Anhörung und insbesondere auch ohne Vorabbescheidung der [X.]eweisanträge an der angekündigten Entscheidung durch [X.]eschluss nach § 130a VwGO festhalten. Es hat sich mit dem Vorbringen des [X.] auseinandergesetzt und ist zu der nicht mit weiteren Verfahrensrügen angegriffenen Erkenntnis gelangt, ihm drohe nicht die Gefahr, in [X.] als Folgeantragsteller behandelt oder unmittelbar nach seiner Überstellung in Haft genommen zu werden. Ein Verstoß gegen das Non-Refoulement-Prinzip stehe nicht zu befürchten, weil der Kläger im Rahmen eines (förmlichen) [X.] nach [X.] überstellt werde. Entgegen der [X.]ehauptung der [X.]eschwerde hat sich das [X.]erufungsgericht auch zu den [X.]eweisanträgen verhalten und die im Schriftsatz vom 2. Dezember 2022 angegebenen Erkenntnisse zur Situation von [X.], deren Asylverfahren in [X.] bestandskräftig erfolglos beendet ist, für unerheblich erachtet, weil das Asylverfahren des [X.] in [X.] fortgesetzt werden könne ([X.]A S. 20 ff.). Damit hat das [X.]erufungsgericht der Pflicht zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Rechnung getragen (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 24. April 2017 - 6 [X.] 17.17 - juris Rn. 11). Es bestand für das [X.]erufungsgericht kein Anlass, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen oder seine darauf bezogene Ermessensentscheidung zu ergänzen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des [X.], wonach dann keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen ([X.], Urteil vom 26. Juli 2017 - [X.]/16 [[X.]:[X.]:[X.]], [X.] - Rn. 47 m. w. N.). Für die [X.]erufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu [X.], Urteil vom 29. Oktober 1991 Nr. 11826/85, [X.] - NJW 1992, 1813).

bb) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 17. Januar 2022 - 1 [X.] 95.21 - juris Rn. 15 m. w. N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom [X.]. 6 Abs. 1 [X.] entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom [X.]erufungsgericht zu berücksichtigen sind.

cc) Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch [X.]eschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit [X.]lick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen.

Weder Art. 46 [X.] 2013/32/[X.] noch Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC oder eine andere [X.]estimmung der [X.] sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht zwingend vor. Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 [X.] 2013/32/[X.] allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 17. Januar 2022 - 1 [X.] 95.21 - juris Rn. 16 m. w. N.). Davon ausgehend hat die [X.]eschwerde keine Gründe aufgezeigt, aus denen das [X.]erufungsgericht unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

dd) Das Ermessen des [X.]erufungsgerichts, im vereinfachten [X.]erufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, war auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des [X.] mit Zustimmung der [X.]eteiligten (und damit ohne den [X.]eteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrages zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.

Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 [X.] nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des [X.] entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die [X.]eteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wenn die [X.]eteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem [X.]erufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch [X.]eschluss nach § 130a VwGO aber grundsätzlich offen. Auf die Gründe, aus denen ein [X.]eteiligter von der ihm in erster Instanz jedenfalls eröffneten Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung persönlich zur Sache vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kommt es dabei nicht an ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 17. Januar 2022 - 1 [X.] 95.21 - juris Rn. 19 m. w. N.).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § [X.] [X.] nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 [X.]. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 [X.] liegen nicht vor.

Meta

1 B 9/23

09.05.2023

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 10. Januar 2023, Az: 11 A 1139/22.A, Beschluss

§ 130a VwGO, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 09.05.2023, Az. 1 B 9/23 (REWIS RS 2023, 3577)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3577

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